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Pränatale Bluttests? Zwei Mütter von Kindern mit Behinderung sagen ihre Meinung

Pränataldiagnostik: Schwangere mit Ultraschallbild
© Natalia Deriabina / Shutterstock
Bluttests während der Schwangerschaft auf Trisomie 21 und andere Chromosomenfehler werden möglicherweise bald Kassenleistung. Zwei Mütter behinderter Kinder sagen, was sie davon halten.

Mareice (37) fragt: "Wo führt das hin?"

Die Autorin Mareice Kaiser,37, ("Alles inklusive", Fischer) ist Mutter zweier Töchter. Die ältere war mehrfach behindert und ist vor drei Jahren gestorben. 

"So was gibt’s noch?" Die Frage der alten Dame werde ich nie vergessen. Mit "so was" meinte sie meine mehrfach behinderte Tochter. "Wusstet ihr das vorher?" ist eine andere Frage, die Eltern behinderter Kinder oft gestellt wird. Beide suggerieren: Es gibt doch Möglichkeiten, so ein Kind gar nicht erst zu bekommen! Und schon gerät man als Mutter oder Vater in einen Rechtfertigungszwang.

Mütter sollten immer die Möglichkeit haben, sich für oder gegen die Geburt des Kindes zu entscheiden

Ich fürchte: Wenn pränatale Bluttests auf Trisomie 21 Kassenleistung werden, wird sich das verstärken. Denn wenn die Kasse zahlt, wird die Untersuchung selbstverständlich. Vielleicht empfinden es manche Eltern sogar als ihre Pflicht, so einen Test zu machen. Aber was fangen wir dann mit den Informationen an? Ich bin selbstverständlich dafür, dass Frauen sich jederzeit für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden können sollten. Allerdings sollten sie sich auch immer für ihre Kinder entscheiden dürfen - ob behindert oder nicht. Und zwar ohne gesellschaftlichen Druck.

Die medizinische Entwicklung macht vieles möglich, aber wollen wir wirklich alles wissen?

Aktuell scheinen sich alle einig zu sein: Ein Kind mit Down-Syndrom, das muss nicht mehr sein. Dass Menschen mit Trisomie 21 gegen die Tests als Kassenleistung protestieren, wird in der Debatte kaum berücksichtigt. Die gesellschaftlich akzeptierte Grenze liegt also bei einer relativ leichten Behinderung. Was kommt als Nächstes? Schon jetzt ist es möglich, die Gene von Föten zu bestimmen. Gerade machte ein chinesischer Forscher Schlagzeilen, der das Erbgut von Zwillingen so verändert haben will, dass sie HIV-resistent sind. Es scheint nur eine Frage der Zeit, wann solche Eingriffe zur Routine werden. Aber wollen wir wirklich alles wissen? Wo ziehen wir die Grenze?

Heute Trisomie 21 - morgen eine andere genetische Veranlagung. Wo hören wir auf?

Heute ist es ein Kind mit Down-Syndrom, morgen wird vielleicht die genetische Veranlagung für Neurodermitis ein gesellschaftlich akzeptierter Grund für einen Schwangerschaftsabbruch sein. Oder Gene, die zeigen, dass ein Kind ein erhöhtes Risiko hat, an Leukämie zu erkranken. Wenn unser Kind stark kurzsichtig ist, werden wir uns irgendwann anhören müssen, ob "das" sein musste? Und wenn wir selbst älter werden und Behinderungen haben - schließlich werden 96 Prozent der Behinderungen erst im Laufe der Jahre erworben -, ist unser Leben dann auch nicht mehr lebenswert? Fragt eine Autorin mit dicken Brillengläsern, einem BMI von 26 und erhöhtem Brustkrebsrisiko, die jeden einzelnen Tag gerne lebt.

Antje (44) fordert: "Mehr Reflexion bitte"

BRIGITTE-Redakteurin Antje Kunstmann hat vier Töchter; eine hat eine angeborene allgemeine Entwicklungsverzögerung, eine Seh- und Hörbehinderung.

Ich kenne ein Kind mit Down-Syndrom, dem hat die Pränataldiagnostik das Leben gerettet. Es hat einen schweren Herzfehler und hätte die Schwangerschaft nicht überlebt, wenn die Behinderung nicht früh festgestellt und Mutter und Kind schon vor der Geburt versorgt worden wären. Ich finde: Wer etwas wissen kann, sollte es auch wissen dürfen. Und zwar egal, ob er das Geld für den Test hat oder nicht. Deshalb wäre es erst mal gut, sollten pränatale Bluttests auf Chromosomenfehler Kassenleistung werden.

Natürlich sehe ich auch die Gefahr, dass es dann mehr Abtreibungen geben könnte. Doch gleichzeitig finde ich die Annahme, ein Kind mit genetisch bedingter Behinderung könne nur zur Welt kommen, wenn man seine Eltern im Unwissen über seine Behinderung lässt, erst recht menschenverachtend.

Man sollte sich im Klaren darüber sein, warum man etwas wissen will

Was ich bei der Pränataldiagnostik vor allem vermisse, ist Reflexion. Man sollte sich immer im Klaren darüber sein, warum man etwas wissen will - und bereit, die Konsequenzen zu tragen. Erst kürzlich erzählte mir eine Mutter, sie hätte einen bestimmten Test während der Schwangerschaft gemacht, um zu wissen, "dass alles in Ordnung ist". Dieser Wunsch mag verständlich sein, doch er ist Quatsch.

Zum einen, weil es keine absolute Definition gibt, was "in Ordnung" überhaupt bedeutet in Bezug auf ein Kind. Ich jedenfalls finde unsere behinderte Tochter schwer in Ordnung. Zum anderen ist es nie ein Test "dass", sondern immer ein Test "ob". Dass er zwei Ergebnisse haben kann, blenden viele aus. Es kann eben auch herauskommen: Mein Kind hat Trisomie 21. Dann muss ich eine Entscheidung treffen. Will ich wirklich in diese Situation kommen?

Die Gefahr: Wenn die Kasse zahlt, könnte die bewusste Entscheidung zu kurz kommen

Die bewusste Wahl zwischen Wissen und Nichtwissen könnte zu kurz kommen, wenn die Tests von der Kasse bezahlt werden. Sie könnten zur Routine werden. Etwas, das alle machen, ohne es zu hinterfragen. Und das wäre schlecht. Für den Einzelnen und die Gesellschaft.

Wir alle müssen uns mehr damit auseinandersetzen, was die moderne Medizin für uns bedeutet und wie sie unser Miteinander verändert. Schon jetzt hinkt die ethische Debatte dem, was medizinisch möglich ist, hinterher. Der Streit um den Bluttest bietet die Chance für eine dringend notwendige gesellschaftliche Diskussion. Und falls wir selbst Eltern werden: Erst nachdenken, dann testen - oder eben nicht.

Nicht-invasive Bluttestsauf Chromosomen­fehler (NIPT) sind seit 2012 in Deutschland zugelassen. Wer davor Gewiss­heit wollte, musste Material aus der Gebär­mutter testen lassen - mit dem Risiko einer Fehl­geburt. NIPT dagegen sind fast risikolos. Die Kosten (250 bis 600 Euro) trägt allerdings die Schwan­gere, weil die gesetzlichen Kassen bislang nur den invasiven Test erstatten. Aktuell prüft der Gemeinsame Bundesausschuss der Krankenkassen die Kostenübernahme auch für die NIPT. Rund 100 Abgeord­nete haben eine Ethikdebatte im Bundestag über die Tests gefordert.

BRIGITTE 03/2019

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