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Wenn das Wunder der Geburt zum Alptraum wird

Wenn das Wunder der Geburt zum Alptraum wird
© Lindsay Askins / www.spotofserendipity.com
Viele Frauen erleiden ein Geburtstrauma, doch die wenigsten sprechen darüber. Für das Projekt "Exposing the Silence" haben sie ihr Schweigen gebrochen.

Jede dritte amerikanische Frau macht während der Geburt ihres Kindes traumatische Erfahrungen - sei es durch einen ungewollten Kaiserschnitt oder durch Geburtshelfer, die die werdende Mutter nicht ernst nehmen oder ihre Sorgen ignorieren. Der gemeinnützige Verein Schatten und Licht schätzt, dass in Deutschland jährlich rund 100.000 Mütter von perinatalen (mit der Geburt verknüpften) psychischen Erkrankungen betroffen sind.

Auch die Hebamme Jana Friedrich glaubt, dass es viele traumatisierte Frauen gibt: "Das liegt vermutlich weniger am Gesundheitssystem als am Machtmissbrauch von Einzelnen oder von Teams. Das ist schrecklich. Durch Personalmangel und Zeitdruck wird das sogar noch zunehmen. Das ist keine Entschuldigung für die Geschehnisse, doch Druck und schlechte Behandlung werden eben oft weitergegeben."

Obwohl ein Geburtstrauma keine Seltenheit ist, spricht kaum eine Frau darüber. Das wollen Lindsay Askins und Cristen Pascucci mit ihrem Projekt "Exposing the Silence" ändern. Zwei Monate lang fuhren sie mit dem Auto und ihren drei Kindern auf der Rückbank durch die USA, um Frauen in 20 Städten zu besuchen und sich Geschichten anzuhören, die sonst kaum jemand hören will: Geschichten von traumatischen Geburtserlebnissen.

Interview mit Lindsay Askins und Cristen Pascucci

BRIGITTE MOM: Lindsay, du arbeitest nicht nur als Fotografin, sondern auch als Doula. Was genau machst du da?

Lindsay: Die meisten Frauen kommen irgendwann während ihrer Schwangerschaft auf mich zu. Ich unterstütze sie emotional und körperlich in den Monaten bis zur Geburt ihres Babys. Ich begleite sie und ihre Partner auch durch den Geburtsprozess. Auch wenn viele das verwechseln: Eine Doula ist nicht das Gleiche wie eine Hebamme. Sie ist nicht medizinisch ausgebildet und gibt auch keinen medizinischen Rat oder untersucht ihre Klientinnen. Ich beantworte Fragen und helfe Schwangeren so, Entscheidungen zu treffen. Bei der Geburt arbeite ich mit Hebammen und Ärzten zusammen.

Cristen: In den USA werden Frauen im Krankenhaus für gewöhnlich nicht durchgängig betreut - weder von Krankenschwestern noch von Hebammen. Eine Doula füllt diese Lücke. Sie ist hauptsächlich dazu da, der werdenden Mutter gut zuzureden und ihr bei der Geburt beizustehen.

Für euer Projekt "Exposing the Silence" seid ihr durch Amerika gefahren und habt Frauen fotografiert und interviewt, die ein Geburtstrauma erlitten haben. Was hat euch dazu bewogen?Lindsay: Ich wollte schon seit langem mit meiner Fotografie etwas Bedeutungsvolles machen, etwas, das größer als ich selbst ist. Vor einigen Jahren begann ich, mich für die Rechte von Schwangeren einzusetzen. Dieses Jahr im Frühling habe ich mich Cristen Pascucci und ihrem Projekt "Birth Monopoly" angeschlossen. Ich unterstütze ihre Aufklärungsarbeit mit meinen Bildern. Die Idee zu "Exposing the Silence" kam mir während einer Yogastunde. Cristen war sofort Feuer und Flamme und wir haben mit der Planung begonnen.

Cristen: Die USA haben das weltweit teuerste Betreuungssystem für Mütter - und gleichzeitig ist es eines der am schlechtesten funktionierenden Systeme in den entwickelten Ländern. Es gibt verschiedene lokale und auch nationale Organisationen, die sich für Änderungen an diesem System einsetzen. Ich engagiere mich in einer dieser Organisationen, "Improving Birth", und arbeite auch mit anderen Organisationen daran, Frauen über die verschiedenen Optionen bei einer Geburt zu informieren - also auch über Hebammen und Geburtshäuser. Während Lindsay Frauen individuell hilft, indem sie sie bei der Geburt ihrer Kinder begleitet, arbeite ich auf einer nationalen Ebene.

War es schwierig, das Vertrauen der Frauen zu gewinnen und sie dazu zu bringen, über ein solches Tabuthema zu sprechen?

Lindsay: Die Frauen waren froh, nach Monaten - manchmal sogar Jahren - endlich ihre Geschichte und ihre Gefühle mitteilen zu können. Sie waren erleichtert, darüber zu sprechen. Die meisten von ihnen fühlten sich mit ihren Gedanken und Emotionen allein gelassen. Der Mut und die Kraft dieser Frauen ist unglaublich. Cristen: Es war für uns nicht schwierig, das Vertrauen der Frauen zu gewinnen. Aber für einige von ihnen war es schwierig, über so etwas Persönliches und Schmerzhaftes zu sprechen. Wenn sie es früher schon einmal versucht hatten, wurden sie meist ignoriert oder nicht ernst genommen. Gesagt zu bekommen, dass es ihre eigene Schuld war, wenn sie schlecht behandelt wurden, verstärkte ihr Geburtstrauma nur noch mehr.

Viele traumatische Erfahrungen haben mit einem ungewollten Kaiserschnitt zu tun. Aus deutscher Perspektive war es überraschend zu lesen, wie schnell Ärzte diese Option wählen. Ist das ein amerikanisches Phänomen?

Lindsay: Oh ja. Viele Frauen entscheiden sich jedoch auch selbst für einen geplanten Kaiserschnitt, selbst wenn es aus medizinischer Perspektive keinen Anlass dazu gibt. Laut Weltgesundheitsorganisation sollten nicht mehr als 15 Prozent aller Babys per Kaiserschnitt auf die Welt kommen. Amerika liegt weit darüber - und die Tendenz ist steigend. Es gibt in der Tat einen Zusammenhang zwischen unerwarteten bzw. ungewollten Kaiserschnitten und einem Geburtstrauma.

Cristen: Das Gesundheitssystem in den USA ist profitgetrieben. Daher ist ein Kaiserschnitt für Mediziner wesentlich attraktiver als eine natürliche Geburt. Hinzu kommt, dass in unserer Kultur die meisten Frauen kaum etwas über den Geburtsprozess wissen. Sie werden nicht ermutigt, sich darüber zu informieren und haben oft Angst davor. Sie haben kaum einklagbare Rechte. Aus eben diesen Gründen haben wir ein Gesundheitssystem, dass sich nach den Interessen der Leistungserbringer richtet und nicht nach den Bedürfnissen der Patienten.

Es scheint, als würden Frauen ihre Grundrechte auf dem Krankenhaus-parkplatz abgeben.

Es ist schockierend zu lesen, wie viele Frauen im Krankenhaus Zwang und Schikane erlebt haben - und dass dies keine Konsequenzen hatte. Warum haben sie keine Klage eingereicht oder die Klinik mit ihren Erfahrungen konfrontiert?

Lindsay: Das ist in der Tat einer der schlimmsten Aspekte dieser Epidemie. Frauen versuchen zwar, den entsprechenden Arzt oder das Krankenhaus zur Verantwortung zu ziehen, doch es gibt noch keinen Präzedenzfall in den USA. Die meisten Anwälte verweigern diesen Frauen ihre Hilfe - es würde sich nicht lohnen, den Fall zu übernehmen. Ich persönlich habe das Gefühl, dass viele Frauen in den ersten Monaten nach der Geburt zu müde und zu überwältigt sind, die Energie und Zeit für eine Beschwerde oder eine Klage aufzubringen. Zwar denken sie darüber nach, rechtliche Schritte einzuleiten, doch die Anforderungen und Verantwortung als Mutter hindern sie letztlich doch daran. Ich kann selbst noch immer kaum fassen, wie wenig darüber gesprochen wird. Und wenn eine Frau den Mut aufbringt, öffentlich über ihre traumatischen Erlebnisse zu sprechen, bekommt sie oft vorwurfsvolle Antworten wie "Komm drüber hinweg" oder "Sei doch froh, wenigstens hast du ein gesundes Kind." Das entmutigt Frauen und verlängert den Heilungsprozess erheblich.

Cristen: Selbst wenn einer Frau ganz offensichtlich Unrecht widerfahren ist, gibt es niemanden, der die Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht. Ich habe mit vielen Frauen zusammengearbeitet, die es versucht haben. Doch ihre Beschwerden bei dem betreffenden Krankenhaus oder der Behörde, die eigentlich für die Kontrolle des Medizinwesens zuständig sein sollte, haben nichts bewirkt. Sie werden in der Regel einfach ignoriert. Es ist außerdem sehr schwierig und teuer, einen Anwalt für einen solchen Fall zu gewinnen. In unserer Gesellschaft ist der Glaube tief verankert, dass eine Geburt gefährlich, schmerzhaft und traumatisch sein SOLL. Doch was viele dabei nicht bedenken ist, dass in diesen Fällen nicht die Geburt an sich gefährlich, schmerzhaft und traumatisch ist, sondern die medizinische Betreuung während der Geburt.

Was hat euch rückblickend am meisten überrascht?

Lindsay: Ich hätte niemals damit gerechnet, dass wir fast 50 Frauen und neun verschiedenen Bundesstaaten treffen würden. Die positive Resonanz hat uns überwältigt.Besonders gerührt hat mich, wie viele Väter und Partner die Betroffenen in ihren Gefühlen unterstützt und sie dazu ermutigt haben, sich Hilfe zu holen.

Was erhofft ihr euch davon, die Geschichten der Frauen zu erzählen?

Lindsay: Wir wollen damit das Tabuthema Geburtstrauma öffentlich machen und Menschen vor Augen führen, dass es ein echtes Problem ist, das jeden betrifft - nicht nur Schwangere. Wir wollen das Gesundheitssystem in den USA verbessern, damit so etwas in Zukunft nicht mehr passiert. Es scheint, als würden Frauen ihre Grundrechte auf dem Krankenhausparkplatz abgeben.

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