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Autismus: Der steinige Weg zur Diagnose - eine verzweifelte Mutter erzählt

Autismus: Der steinige Weg zur Diagnose - eine verzweifelte Mutter erzählt
© Milosz_G / Shutterstock
BRIGITTE.de-Leserin Barbara spürte von Anfang an, dass ihr Sohn anders war als andere Kinder. Doch kein Arzt stellte die richtige Diagnose.

9 Jahre lang ist mein Sohn durchs Raster gefallen

Autismus-Spektrum-Störung. So heißt das heute. Früher unterschied man zwischen Asperger Autismus, frühkindlichem Autismus und atypischem Autismus. Inzwischen weiß man, dass das so einfach nicht ist, dass es Fälle gibt, die in keine der Schubladen passen. 

Genau so einer ist vermutlich mein ältester Sohn, vierte Klasse. Neun Jahre lang ist er durch jedes Raster gefallen. Und ich mit ihm. Neun Jahre, in denen ich mein Kind angesehen habe und dachte: „Da ist was anders als bei anderen Kindern.“ 

Am Anfang war es nur ein Bauchgefühl. Da gab es noch keine Geschwisterkinder, der Vergleich war abstrakt, die Selbstzweifel einer jungen Mutter groß. Doch der Sohn wuchs und er hatte Wutanfälle, schlimm, lange Wutanfälle. Ein, zwei Stunden können sehr lang sein. 

War es Wut? Verzweiflung war es. Über irgendetwas, was nicht so lief, wie er es sich dachte. So hatten wir es in der ersten Kinder- und Jugendpsychiatrie erzählt. Da war er knapp zwei Jahre alt. Ich wies auf meinen Verdacht Autismus hin. Eine Sprachentwicklungsverzögerung habe er, so erkläre sich auch die Wut, wurde mir gesagt.

Eigentlich bin ich Kunsthistorikerin und Germanistin, habe als Werbetexterin gearbeitet. Ich dachte, wenn mein Kind ein oder zwei Jahre alt ist, werde ich wieder schreiben. Aber ich hatte ein Kind, mit dem ich nicht wie alle anderen Mütter ins Babyschwimmen ging. Und auch nicht in die Pekip-Gruppe. Ich spürte, dass das alles zu viel Input wäre.

Ich zog mich zurück und sah meinem Kind dabei zu, wie es versucht, im Sandkasten zu spielen, ohne den Sand zu berühren.

„Das ist die Trotzphase“, sagte mir meine Nachbarin, eine Erzieherin. Bei unserem Umzug übernahm die Haftpflichtversicherung die Kosten für die demolierte Kinderzimmertür, sie hatte Tausende Dellen von Bauklötzen.

Könnt ihr euch vorstellen, wie laut das war? Könnt ihr euch vorstellen, wie laut es heute ist, wenn ein großer Junge so laut kreischt und schreit, wie er nur kann?

Alle in unserer Straße sind informiert, anders ginge es nicht. Sie kennen mich als eine der wenigen jungen Mütter, die viele Jahre als Hausfrau daheimbleiben. Eine, die Nachbarschaftsfeste organisiert und den Bruder und die kleine Schwester zum Basketball und zum Tanzen bringt. In guten Zeiten spiele ich mit dem Großen Ball vor dem Haus oder fangen. In schlechten Stunden halte ich ihn im Haus im Arm, es ist eher ein Ringkampf, und hoffe, dass sein Anfall vorübergeht. 

Die Ärzte fragten: Vielleicht liegt das Problem ja bei Ihnen?

Die ganzen letzten Jahre haben wir immer neue Anläufe bei Ärzten genommen. Was ich an Formularen ausgefüllt habe! Für jeden Arzt einen neuen Anmeldebogen. Für jede Therapie eine neue Anamnese. Und in den Kinder- und Jugendpsychiatrien trafen wir auf junge, männliche Ärzte, bestens ausgebildet, aber ohne Erfahrung, die zückten ihre Fragebögen und notierten fleißig mit. 

Alles, was wir erzählten, war auffällig. Aber unser großer, kluger, schachspielender Junge war in den zwei Stunden, die der Arzt ihn sah, unauffällig. Zu normal, hieß es. Sicher, das Kind ist depressiv, und Zwänge hat er auch, vielleicht auch ADS und eine Rechtschreibstörung. Aber Autismus? Wieso brauchen Sie denn so unbedingt diese Diagnose? Vielleicht liegt das Problem eher bei Ihnen, den Eltern? Puh.

Und dann fährst Du nach Hause, kaufst noch ein Vollkornbrot zum Abendessen und siehst deinem Kind dabei zu, wie es über seinen Lego-Steinen brummt, so wie er es schon mit zwei Jahren getan hat, den Rücken zur Tür, stundenlang. Da fühlt man sich dann ziemlich mies. Und weil man nach all den Jahren nicht mehr das beste Selbstbewusstsein hat und der Alltag ziemlich anstrengend ist, denkt man sich: „Bin ich vielleicht schuld?“ Und recherchiert verzweifelt weiter.

Unsere Rettung hieß Selbsthilfegruppe

Bis irgendwann eine helfende Hand naht, die man zunächst gar nicht als solche wertschätzt. Und die heißt: andere betroffene Eltern. Selbsthilfe. Danke, ich kann es nicht oft genug sagen, danke, dass ihr mir zuhört und mich versteht.

Diese Eltern ließen mich erst einmal erzählen und nickten. Ich sah, dass auch sie erschöpft sind. Aber sie können trotzdem noch lachen. Sie sind schon einen Schritt weiter und haben es immer noch schwer. Ich habe sie aufgesaugt, jede Information über einen guten Arzt, eine nette Therapeutin.

Wieso hatte mir von den Fachleuten keiner gesagt, dass ich Pflegegeld beantragen kann? Zack, keine Diskussionen, klarer Fall, Pflegegrad 2. Ach ja, und vergiss nicht das Landespflegegeld zu beantragen, das geht ganz einfach. Ich schicke dir den Kontakt meiner Therapeutin. Und hier gibt es noch einen Info-Abend. Dieses Buch musst du lesen. Und ja, ich antworte auf deine WhatsApp, immer, wenn auch manchmal nur kurz, ich weiß, wie es dir geht.

Manchmal braucht man einen Namen, um eine Herausforderung meistern zu können

Über diesen Weg sind wir schließlich zu einer auf Autismus spezialisierten Therapeutin und einer Psychologin gekommen, zwei erfahrene Frauen, die unabhängig voneinander die Lage erstmals richtig erfasst haben. Mein Gefühl war richtig. Gut, dass ich darauf vertraut habe. 

Ich habe geweint, geweint, geweint. Vor Traurigkeit über mein Kind und vor Erleichterung, dass ich endlich gehört wurde. Nach so vielen Jahren. Inzwischen weiß ich, dass es beim Thema Autismus-Spektrum-Störung ein langer Leidensweg ist bis zur Diagnose, bei vielen Eltern. Die Frage, „Wieso wollen Sie Ihr Kind denn in eine Schublade stecken?“, kann nur stellen, wer so etwas als Elternteil nie erlebt hat. Manchmal braucht man einen Namen, damit man eine Herausforderung besser anpacken kann. Mit ganz viel Liebe. 

Zur Autorin: Barbara (38) ist Kunsthistorikerin und Germanistin und hat einige Jahre als Werbetexterin gearbeitet, bevor sie ihre drei Kinder (5,7 und 9 Jahre) bekam. Jetzt ist sie dabei, sich wieder mehr auf sich selbst zu besinnen und beruflich neu zu orientieren.

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