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Trotzphasen: "Eltern überfordern ihre Kinder ständig"

Katja Seide, Autorin eines neuen Eltern-Bestsellers, erklärt, was wirklich hinter Trotzphasen steckt und was Eltern anders machen sollten.
Interview: Michèle Rothenberg

Ein neuer Eltern-Ratgeber erobert gerade die Spiegel-Bestseller-Liste – zu Recht. In "Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn" (Beltz Verlag) erklären die Autorinnen Katja Seide und Danielle Graf sehr informativ und lebensnah, wie Eltern entspannt durch Trotzphasen kommen.

Wir haben mit Katja Seide über Wutanfälle, die Grenzen des kindlichen Gehirns und mütterliche Selbstzweifel gesprochen.

BRIGITTE.de: Es wird heute ja oft geklagt, dass wir Kinder zu lasch erziehen und sie so zu "Tyrannen" machen. Wüten Kinder wirklich mehr herum?

Katja Seide: Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Kinder heute ihre Gefühle stärker ausdrücken als früher und sie deshalb älteren Generationen unangenehmer auffallen. Es stimmt auch, dass das an der Erziehung der heutigen Eltern liegt. Aber anders, als uns das oft eingeredet wird, bedeutet das nicht, dass unsere Kinder deshalb zu Tyrannen werden. Es ist eher ein gutes Zeichen, dass unsere Kinder sich trauen, ihren Ärger rauzulassen.

Warum ist das so?

Früher wurde den Kindern schon kurz nach der Geburt abgewöhnt, über ihre Bedürfnisse zu sprechen. Babys wurden über Nacht ins Kinderzimmer geschoben. Es gab alle vier Stunden Milch oder Brei, Punkt. Egal, wie sehr die Kinder weinten.

Da Kinder darauf angewiesen sind, mit ihren Bezugspersonen in guter Verbindung zu bleiben, verbiegen sie sich notfalls. Sie hörten also tatsächlich auf zu weinen, wenn ihnen etwas unangenehm war. Es lohnte sich für sie nicht, diese Energie aufzubringen, da es ihre Bezugspersonen nicht dazu veranlasste, etwas zu unternehmen. Eher im Gegenteil: Die Eltern reagierten auf das Weinen unwirsch und kühl.

Was sind die Folgen für die Kinder?

Die Betroffenen spüren als Erwachsene immer wieder, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Sie reagieren in Stresssituationen über, sie trauen sich nicht, zum Vorgesetzten "Nein" zu sagen oder haben das Gefühl, ihren eigenen Empfindungen nicht trauen zu können. Kurz gesagt: Es ist ungünstig, wenn Eltern ihren Kindern rückmelden, sie wären nur dann liebenswürdig, wenn sie sich "brav" verhalten. Es geht auf Kosten von Selbstbewusstsein und Selbstakzeptanz.

Heute machen die Eltern das aber in der Regel anders.

Ja, bei heutigen Eltern hat sich herumgesprochen, dass man Babys nicht verwöhnen kann. Dass sie also nicht weinen, um zu manipulieren. Deshalb werden die Bedürfnisse der heutigen Babys zumeist feinfühlig von ihren Eltern erkannt und befriedigt. Sie dürfen nachts im Elternbett schlafen, werden nach Bedarf gestillt und gefüttert und tagsüber eng am Körper getragen. Wenn sie weinen, versuchen ihre Eltern herauszufinden, was sie stört.

Und das tut den Kindern gut?

Ja. Diese Kinder merken, dass sie von ihren Bezugspersonen angenommen werden, wie sie sind. Das heißt, sie müssen sich nicht verbiegen, um in Verbindung mit ihnen zu bleiben. Daher trauen sie sich, in Gegenwart ihrer Eltern auch schlechte Gefühle herauszulassen.

Heißt also: Sie brüllen und wüten. Was für die Eltern wiederum nicht so angenehm ist.

Klar, ein Kind, das im Supermarkt einen Wutanfall hat, weil es keine Schokolade bekommt, ist für Eltern sehr viel anstrengender, als ein Kind, das alle Entscheidungen klaglos annimmt. Die heutigen Eltern werden von ihren Kindern immer wieder gefordert, in den Dialog zu treten und eigenes Handeln zu überdenken. Sie müssen darüber nachdenken, warum sie die Schokolade nicht kaufen wollen und ob es einen Kompromiss geben würde, der allen gefällt. Das "Weil ich es so sage und nun gib endlich Ruhe!" der früheren Elterngeneration ist da selbstverständlich die leichtere Option.

Ihr nennt in eurem Buch noch einen anderen Grund für Wutanfälle: Die Unreife des kindlichen Gehirns. Überfordern wir Kinder, wenn wir von ihnen ständig Geduld und Einsicht erwarten?

Oh ja - oft sogar. Wir erwarten von dreijährigen Kindern, dass sie nicht zuhauen, wenn sie etwas ärgert. Doch die Impulskontrolle ist erst im Grundschulalter relativ stabil ausgebildet.

Wir erwarten, dass unsere Einjährigen aufhören, wenn wir zu etwas "Nein!" sagen. Dabei ist das Wort "Nein" am Anfang der Sprachentwicklung erst einmal eins von vielen für unsere Kinder - sie müssen seine Bedeutung erst decodieren.

Wir erwarten, dass unsere Kinder auf uns hören, wenn wir z. B. sagen: "Nicht den Herd anfassen!" Aber es ist so, dass das Wort "nicht" zunächst vom Gehirn als unwichtig eingestuftund weggefiltert wird. Die Kinder hören also: "Herd anfassen!" und tun das dann auch.

Wir erwarten, dass sich unsere Zweijährigen schämen und entschuldigen, wenn sie jemandem weh getan haben. Doch Kinder können erst mit etwa vier Jahren den Blickwinkel eines anderen einnehmen, das heißt, erst dann wird ihnen wirklich klar, was sie da gerade angerichtet haben.

Wir erwarten, dass unsere Dreijährigen ihr Laufrad bis zum Ende des Spaziergangs fahren, wenn sie sich vorher dafür entschieden haben. Doch unsere Kinder haben noch gar keine Planungskompetenz - sie können nicht überblicken, was es bedeutet, wenn sie zustimmen, den gesamten Zeitraum Laufrad zu fahren.

Oder wir ärgern uns, wenn unsere Vierjährigen nach einem langen Kita-Tag einfach nicht tun, was wir Eltern wollen. Aber das liegt daran, dass Selbstkontrolle ein begrenztes Gut des Gehirns ist. Irgendwann ist sie aufgebraucht und das Kind kann einfach nicht mehr "brav hören". Es musste sich in der Kita schon zu lange zusammenreißen und kontrollieren ...

Auch wenn es uns oft nicht so vorkommt, kooperieren unsere Kinder also im Alltag sehr oft. Erkennen wir diese Leistung zu wenig an?

Das menschliche Gehirn ist leider so trainiert, Dinge zu übersehen, die gut laufen und eher Dinge zu bemerken, bei denen es hakt. Das ist eine Frage von kognitiver Ressourcenschonung. Wir übersehen oft, dass ein Kind, das seine Ärmchen hochstreckt, damit das Elternteil den Pullover anziehen kann, gerade kooperiert. Wenn ein Kind liegen bleibt, weil der Erwachsene es wickeln will, kooperiert es. Wenn es den Mund zum Zähneputzen aufmacht, kooperiert es. Wenn es ruhig sitzen bleibt, damit man es im Autositz anschnallen kann, kooperiert es.

Es gibt im Alltag unendlich viele Situationen, in denen unsere Kinder ohne zu murren mitarbeiten, doch wir Erwachsenen übersehen das, weil es für unser Gehirn zu "normal" ist. Wenn sich dasselbe Kind dann aber zehn Minuten später in der Kitagarderobe weigert, seine Hausschuhe anzuziehen und anfängt, zu weinen oder zum Spaß wegzulaufen, dann bemerken die Eltern das ärgerlich und denken: "Boah, mein Kind kooperiert schon wieder überhaupt nicht!" Dabei hat es ja in vier von fünf Situationen toll mitgeholfen. Es ist gut, den eigenen Blick dafür zu schärfen und achtsamer zu werden, dann kommen uns die Situationen, in denen das Kind nicht kooperiert, auch nicht mehr so dramatisch vor.

Was empfiehlt ihr Eltern, die sich schwertun mit ihren "trotzigen" Kindern?

Wir empfehlen ihnen, unser Buch zu lesen. (Lacht.) Tatsächlich haben wir das Buch geschrieben, das wir uns damals gewünscht hätten, als unsere ältesten Kinder gerade in die sogenannte Trotzphase kamen. Ich wollte damals so gern verstehen, was da überhaupt in den kleinen Köpfchen vorgeht. Mein Herz konnte sich nicht vorstellen, dass meine Töchter mich absichtlich ärgern wollten oder testen wollten "wie weit sie gehen können". Das ergab für mich keinen Sinn.

Aber dann meldeten sich doch die Stimmen in meinem Kopf, die behaupteten, ich würde mir zwei kleine Tyrannen heranziehen und sie hätten mich mit ihrem Geschrei ja schon ganz schön im Griff. Ich war hin und her gerissen zwischen dem, was mein Muttergefühl mir sagte, und dem, was mein Bauchgefühl behauptete.

Also begann ich zu recherchieren. Da es in den klassischen Elternratgebern keine Antworten für mich gab, wälzte ich eben Bücher, die von Neurologen, Psychologen und Entwicklungsbiologen geschrieben waren. Da fand ich dann endlich schlüssige Erklärungen für das Verhalten meiner Kinder und das, was ich dort las, war so erleichternd, dass die Trotzphase gänzlich ihren Schrecken verlor.

Und dann war alles plötzlich ganz einfach?

Klar, gab es immer noch Situationen, in denen es bei uns laut wurde oder ich genervt war, weil ich mir wünschte, sie würden einfach mal das machen, was ich sage. Aber je mehr Wissen ich über die kindliche Entwicklung ansammelte, desto leichter konnte ich in diesen stressigen Momenten loslassen.

Deshalb ist mein Rat an Eltern, die sich mit ihren "trotzigen" Kindern schwer tun: Macht euch schlau, warum eure Kinder so handeln. Sie kämpfen nicht gegen euch. Im Gegenteil!

Danke, Katja, für das Gespräch!

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Was führt denn nun zu wirklich tyrannischen Kindern? Das erklären Katja und Danielle in diesem Artikel:

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