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Mutter mit Asperger-Syndrom Mein Leben mit einem 3-jährigen Kind

Mutter mit Asperger-Syndrom: Mutter und Kind halten vor einem Sonnenuntergang Händchen
© NadyaEugene/shutterstock
Nadine* ist Autistin - und hat ein dreijähriges Kind. Beziehungen zu anderen Menschen fallen ihr schwer. Was bedeutet das für ihre kleine Familie?

Das Kind begann zu weinen. Eben spielten die beiden Dreijährigen noch mit Lego; dann brach das Besuchskind in Tränen aus. Hast du Hunger? Kopfschütteln. Durst? Kopfschütteln. Musst du aufs Klo? Tut dir was weh? "Ich bin alles durchgegangen, was mir einfiel", sagt Nadine, "und zu dem Schluss gekommen, dass es wohl eine Blinddarmentzündung sein müsse." Entsprechend überrascht war sie, als ihr eigenes Kind plötzlich fragte: "Bist du traurig, dass deine Mama nicht da ist?" Und das Kind schluchzend nickte. "Dann habe ich es halt genommen und so gemacht", sagt Nadine und zeigt, wie sie das Kind auf ihren Schoß gezogen und mit der rechten Hand ein bisschen getätschelt hat. Dabei wirken ihre Bewegungen steif, als wäre ihr das Ganze selbst jetzt noch unbehaglich. 

Es kommt nur auf die richtige Organisation an

Gefühle zu äußern und zu erkennen – das ist eben nicht Nadines Sache, genauso wenig wie Körperkontakt. "Als würde ich mit der Hand über ein Ledersofa fahren", sei das, selbst wenn sie ihren Nachwuchs streichle. Sie sagt tatsächlich konsequent "mein Nachwuchs", nicht "mein Kind" oder gar den Namen. Das sei ihr alles zu eng, stellt sie gleich beim ersten Treffen klar. Mehrere Seiten Notizen hat sie dabei; im Laufe des Gesprächs wird sie die nacheinander abhaken. Die Fragen, über die sie Auskunft geben soll, wollte sie vorher schriftlich bekommen: "Ich mag es organisiert, strukturiert und vorhersehbar."

Was sie noch mag: Details. An diesem Tag passt ihr blassrosa Haarreif zur Farbe ihrer Strumpfhose. Morgens arbeitet sie beim Anziehen ihre stapelweise sortierte Kleidung – von Unterwäsche bis Überbekleidung – systematisch ab, damit alles für sie stimmig ist. Hektisch wird es dagegen zum Beispiel, wenn in der Strumpfhose eine Laufmasche ist. "Dann muss ich von vorn anfangen." In dem Café, das sie für das Treffen bestimmt hat, wählt sie nun zielstrebig den Tisch, auf dem eine ebenfalls rosafarbene Nelke steht. "Solche Dinge sind meine kleinen Heimlichkeiten", sagt Nadine. "Niemand bemerkt sie, aber ich freue mich daran." 

Für Nadine ist es ein ganz normales Leben

Nadine ist Autistin. Eine ganz normale, wie sie betont. Kein weiblicher "Rainman" – Dustin Hoffmans Darstellung im gleichnamigen Film ist für viele der Inbegriff dieser Entwicklungsstörung, manche sagen -besonderheit. Nadine hört keine Farben und schmeckt keine Zahlen, sie hat keine spektakulären Superkräfte oder, wie Fachleute sagen, Inselbegabungen. Wenn jetzt hier im Café der Behälter mit den Zuckertütchen auskippen würde, könnte sie deren Anzahl nicht blitzschnell aus dem Augenwinkel erfassen, sondern müsste zählen wie jeder andere. Nadine ist 45 Jahre alt, alleinerziehend mit einem dreijährigen Kind, arbeitet Teilzeit als Verwaltungsangestellte. Ein "ganz normales Leben", sagt sie. 

Normalität ist dabei eine Frage der Perspektive. Für Nadine ist es normal, dass sie die Tassen ins Regal mit dem Henkel in eine Richtung stellt, die Wäsche thematisch sortiert auf die Leine hängt und Jacken immer von groß nach klein an die Garderobe. Dass es ihr leichtfällt, analytisch zu denken und zu strukturieren. Wie neulich, als sie ein Problem, mit dem sich ihre Kollegin eine Woche vergeblich abgemüht hatte, kurz in deren Mittagspause löste. Nadine verbringt die nur selten mit den anderen in der Kantine; die Lautstärke, die vielen Gespräche und Gerüche strengen sie an. Spätestens abends hat sie dann Kopfschmerzen bis zum Erbrechen. Und wenn sie doch mal mitgeht, trägt sie Ohrstöpsel. "Ich wurschtel mich halt so durch", sagt sie. 

Ihre Eltern hätten sie immer für eigensinnig und ein bisschen doof gehalten; auch sie selbst habe lange nur ihre Probleme gesehen. Inzwischen ist Nadine selbstbewusster, auch seit sie – ein paar Jahre sind die Tests an einer Klinik nun her – eindeutig weiß, dass sie Asperger-Autistin ist. So nennt man die Autismus-Variante, die nicht mit einer Einschränkung der Intelligenz einhergeht. "Schneller denken zu können als andere – das finde ich cool", sagt Nadine.

Das zweite Treffen findet in ihrer Wohnung statt. Deren Einrichtung ist nicht reduziert, wie man bei ihrer Reizempfindlichkeit erwarten könnte, sondern vor allem konsequent. Im Bad dominiert die Farbe Grün – von den Fliesen über Duschvorleger, Haar- und Zahnbürsten, die Gummihandschuhe zum Putzen, die Flüssigseife am Waschbecken bis zum Anhänger am Türschlüssel. Im Gästeklo ist es lila, genau wie in Nadines Zimmer, in dem auch das Kinderbett steht. Natürlich ist der Kaufmannsladen im Flur akribisch sortiert: "Das mache ich abends zur Entspannung." 

Ob man Kaffee oder Tee trinke, hatte sie zwei Tage vorher per Mail wissen wollen. Danach hat sie das Gebäck ausgewählt, genau gesagt: das frisch gemachte Topping zu den drei Sorten Muffins, die sie vorbackt und tiefgekühlt aufbewahrt. Sehr mit sich zufrieden berichtet sie von diesen Planungsdetails. Dass dieser Perfektionismus andere nervt, hat sie allerdings auch schon erfahren. Seitdem bringt sie ab und zu bewusst nur eine Packung Kekse zum Elternnachmittag in der Kita mit. 

Den Vater des Kindes hat sie sich "nach dem Kopf" ausgesucht

Ein Kind habe sie immer gewollt. Das gehöre für sie zu den Koordinaten eines normalen Lebens, emotional hinterfragt hat sie diesen Wunsch nicht. Den Mann dafür hat sie sich "nach dem Kopf" ausgesucht. Sie kannte ihn schon lange und war froh, dass ein Zusammenleben nie infrage kam, weil er im Ausland arbeitet. Trotzdem trennten sie sich noch vor der Geburt. Kommunikationsprobleme, sagt Nadine. "Merkst du nicht, dass ich sauer bin?", habe er manchmal gefragt. Und wenn sie wahrheitsgemäß verneinte, war er nur noch beleidigter. 

Mutter zu sein, empfinde sie dagegen als "unglaublich unkompliziert". Die Tage mit ihrem Nachwuchs sind streng getaktet. Alles geschieht stets zur gleichen Zeit: der Tee im Bett am Morgen, die Mahlzeiten, der Besuch des Spielplatzes nach der Kita, auf dem nur Eichhörnchen sind und keine Kinder; alles andere wäre ihr zu anstrengend. Abends dann das Herauslegen der Kleidung für den nächsten Tag. Damit dabei nichts "schiefgehen" kann, passt alles zusammen, was sie an Kindersachen kauft. Nadine ist sicher: Nur wegen des festen Alltagsrhythmus hat ihr Kind früh durchgeschlafen. Wenn es irgendwann selbst gestalten will, wie es sein Zimmer einrichtet oder den Tag verbringt, habe sie damit aber auch kein Problem: "Hauptsache, es hat Struktur." 

Und was ist mit kindlicher Spontaneität und dem Chaos der Pubertät? Nadine zuckt mit den Schultern. Ausdauernder als andere Mütter sei sie schließlich auch: Hundertmal zu erklären, dass man sich vor dem Essen die Hände wäscht und die Schuhe neben der Haustür platziert, macht ihr nichts. Vielleicht wird manches in der Erziehung tatsächlich einfacher, wenn Gefühle nicht im Mittelpunkt stehen. Doch immer wieder ist Nadine auch unsicher, wie sich ihr Autismus auf das Kind auswirkt. Muss sie es als Mutter nicht eigentlich streicheln? "Aber warum sollte ich ein Sofa streicheln?", sagt sie. "Ich müsste mir das Handy stellen und mich daran erinnern lassen." Sie ist in der Kinderpsychiatrie gewesen. Dort hat man sie beruhigt. Sie drücke ihr Kind ja. 

"Darüber bekommt es den Körperkontakt und die Fürsorge, die es braucht." Als es ein Baby war, hat sie ihr Kind auch massiert. "Wie die anderen Mütter", sagt sie. Ein Poster mit den entsprechenden Griffen hatte sie sich über die Wickelkommode gehängt. Das ist typisch für Nadine: Vieles, was das Zwischenmenschliche betrifft, eignet sie sich an wie Vokabeln. Das klappt gut – schließlich lernt sie schnell und vergisst nichts –, lässt ihr Verhalten aber leicht mechanisch wirken. 

Die Angst davor, Autismus beim Nachwuchs zu übersehen

Schwierig wird es für Nadine immer dann, wenn sie spontan auf Gefühle reagieren muss. So wie vor Kurzem im Kinderzimmer oder in einer Runde mit anderen Müttern aus der Kita. Neben ihr saß eine Frau, die heulte, weil sie ihren Job verloren hatte. "Mein erster Impuls war, ihr vorzuschlagen, im Internet nach einer neuen Stelle zu suchen, aber dass solche praktischen Tipps nicht gut ankommen, habe ich schon in anderen Situationen erfahren", sagt Nadine. Zum Glück fingen die anderen an, die Frau zu bedauern, und sie konnte einstimmen. 

Ob es nicht anstrengend sei, ständig zwischen den Zeilen lesen zu müssen, will sie kurz darauf wissen. Ironie zum Beispiel versteht sie nicht. Für sie hat ein Satz nur die Bedeutung der Worte, aus denen er besteht. Als sie mal einen extrem sarkastischen Kollegen hatte, war sie kurz davor zu kündigen. "Warum sagt nicht jeder, was er meint?", fragt sie. So gesehen ist ein dreijähriges Kind für sie ein idealer Gesprächspartner. 

Angst, bei ihrem Nachwuchs etwas zu übersehen, das auf Autismus hinweist, habe sie allerdings schon. Der Kinderarzt ist deshalb ebenfalls eingeweiht. Manchmal hat sie so einen Verdacht, wenn das Kind, kaum angekommen, die laute Schwimmhalle sofort wieder verlassen will. Oder sich an eigentlich nebensächliche Details in Bilderbüchern erinnert. Und neulich als sie zum Lesen auf dem Sofa die Beine hochgelegt und ihre Schuhe davor abgestellt hat, "da hat der Nachwuchs sie genommen und genau an der Teppichkante parallel zueinander ausgerichtet." Sie sagt das nicht ohne Stolz.

*Der Name wurde von der Redaktion geändert

Autistische Mutter – autistisches Kind?

Drei Fragen an Dr. Christine Preißmann, Ärztin, Psychotherapeutin und selbst Asperger­ Autistin 

  1. Wie wirkt es sich auf das Kind aus, wenn die Mutter Autistin ist? CHRISTINE PREISSMANN: Natürlich ist es eine Herausforderung, wenn das Kind erkennt, dass die Mutter manchmal bei scheinbar leichtesten Anforderungen versagt, während sie schwierige Aufgaben oft nahezu mühelos erledigt. Wichtig ist darum, frühzeitig zu erklären, was Autismus bedeutet und was die ganz persönliche Situation kennzeichnet. 
  2. Und was ist mit Problemen in der Entwicklung? Autistische Mütter sind in der Regel sehr liebe und verantwortungsbewusste Mütter, die sich große Mühe geben, damit es ihren Kindern gut geht. Es gibt keine Hinweise darauf, dass ihr Verhalten schädliche Auswirkungen auf das Kind hätte, im Gegenteil. Einige betroffene Frauen beschreiben, dass die eigenen Kinder ganz besonders sensibel sind im Hinblick auf Menschen mit Besonderheiten. Sie zeigten sich oft sehr hilfsbereit und aufmerksam, wenn jemand Unterstützung braucht. 
  3. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch die Kinder autistisch sind? Eine genetische Komponente ist klar belegt, wir können aber noch keine genauen Aussagen zur Wahrscheinlichkeit machen, da die Vererbung keinem bekannten Erbgang folgt. 

Buchtipp: In "Asperger – Leben in zwei Welten" von Christine Preißmann erzählen Betroffene aus Alltag, Beruf und Familie. (192 S., 19,99 Euro, Trias)

Brigitte 16/2018

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