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Essstörung Orthorexie "Ich versicherte mir, dass eine Scheibe Weizenbrot mit Margarine mich nicht vergiftet"

Orthorexie: eine Frau im weißen Kleid steht im Supermarkt und hält Gemüse in einem Netz
© Igisheva Maria / Shutterstock
Erst ernährte sie sich bewusst. Dann beschränkt. Und dann durften es nur noch Lebensmittel sein, die frei von allem Möglichen sind.

Meine Augen sind ein Scanner, während ich den Einkaufswagen langsam durch den Bio-laden steuere. Weizen, Eier, Milch, Palmöl: Sobald ich eine dieser Zutaten auf dem Etikett entdecke, wandert die Packung zurück ins Regal. Welche Kekse kommen infrage? Diese hier sind vegan – nein, sie enthalten Sonnenblumenöl, zu viel Omega 6. Die anderen haben zu viel Zucker. Was bleibt: frisches Obst und Gemüse, Nussmus, Hülsenfrüchte. Davon kaufe ich Berge. An der Kasse wird mir schwindelig vor Hunger, ich zittere. Zu Hause werde ich eine Portion Nüsse essen, um wieder zu Kräften zu kommen.

Drei Jahre ist das her, ich war fünf Kilo leichter und mittendrin in der Orthorexie; ich war süchtig nach gesundem Essen. Aß weder Mehl noch Zucker, keine tierischen Produkte, kein Soja und fastete mindestens zwölf Stunden am Tag. Ich plante Mahlzeiten akribisch, lebte mit der Vorstellung, dass reine, gute Lebensmittel meinen Körper füllen mussten und alle anderen eine innere Verunreinigung anrichteten.

Seit Ende der 90er-Jahre ist das Phänomen der Orthorexie bekannt, wird aber in der Psychologie und Medizin nicht als Essstörung anerkannt, weil es nur schwer abzugrenzen ist von einer Zwangsstörung oder einem extremen Lifestyle. Es gibt Menschen, die mit so einer fokussierten Lebensweise eine Krankheit bekämpfen, sie haben keine Wahl. Bei mir war es anders, ich war gesund. Bei mir war das zwanghaft gesunde Essen die Krankheit.

Fertigbrei ist Tabu!

Für vollwertiges Essen hatte ich mich schon immer interessiert. Ich kochte gern, hatte dabei die Nährstoffbilanzen im Blick. Heute würde ich sagen, dass alles losging, als ich vor neun Jahren mein erstes Kind bekam. Das Bild der maximal informierten Mutter, die ihren Kindern nur das Beste bietet, war mein Ziel, es sollte das Gefühl der Überforderung durch die neue Rolle überdecken. Fertigbreie waren bei uns verboten, es wurde selbst gekocht. Ich fing früh wieder an zu arbeiten, mein Mann war in Elternzeit, auch das war Teil des Supermom-Bildes: Hauptsache erfolgreich, gut organisiert, fehlerfrei. Abendelang stand ich in der Küche und kochte Brei vor, damit der Papa kein Gläschen aufmachen müsste.

Ich googelte Tabellen zu Nährstoffgehalten, fand wissenschaftliche Studien über Blutfettwerte. Bald ernährte ich nicht nur mein Kind, sondern auch mich immer gesünder. Mein Fokus wurde selektiv, ich las nur noch, was in mein Bild passte. Bas Kasts "Ernährungskompass" wurde meine Bibel. Jemand erzählte mir von dem Buch "Die Weizenwampe" – ich strich Weizen aus meinem Speiseplan. Ich las "Die Zuckerlüge" – fortan gab es keinen Industriezucker mehr. Eine Freundin achtete nach einer überstandenen Krebserkrankung darauf, wenig Kohlenhydrate zu essen – ich reduzierte Getreide in meinem Speiseplan. Nach einem Instagram-Post über intermittierendes Fasten las ich alles über Autophagie, die Zellregeneration, die nach zwölf Stunden Fasten einsetzt, und ich hatte wieder einen neuen Hebel, um noch gesünder zu leben. Dann entschied ich mich auch noch, vegan zu leben.

Und meine Bemühungen zahlten sich aus. Weil ich keinen Alkohol mehr trank, war ich morgens fit genug für eine Runde Sport. Ich merkte, dass ich mit Nüssen besser über das Nachmittagstief kam als mit einem Schokomuffin. Das Intervallfasten dankte mir meine Verdauung. Essenseinladungen dagegen wurden zum Problem: Was, wenn es Lasagne gäbe, bei der ich nicht einfach die Nudeln weglassen konnte? Vorher Bescheid zu sagen, was ich alles nicht aß, war mir peinlich. Wie viele Süchtige verbarg ich meine Essstörung. Nach außen merkte mir niemand an, dass ich permanent damit beschäftigt war, was ich wann gegessen hatte. Im Bekanntenkreis galt ich als Expertin für gesunde Fette und schonende Garmethoden, in der Kantine erntete ich anerkennende Blicke für meinen Salatteller, während die anderen Burger bestellten. Ich kontrollierte meine Ernährung zu 100 Prozent.

Nicht dünner, sondern gesünder

Natürlich kann man von gesunden Lebensmitteln genussvoll satt werden. Doch durch das kontinuierliche Streichen bestimmter Zutaten verliert man einfach an Gewicht. Und man kann nicht mal eben etwas essen: Meistens versorgte ich mich mit gewissenhaft gefüllten Tupperdosen, deren Vorbereitung viel Zeit kostete. Schaffte ich es nicht, ließ ich den Magen knurren, weil ich sonst auf die verbotene Bahnhofsbrezel hätte zurückgreifen müssen. Ich nahm mehr und mehr ab – und bekam überwiegend Komplimente dafür. Wenn eine Freundin dann doch mal vertrauensvoll sagte, ich müsse langsam aufpassen mit dem Gewicht, fühlte ich mich gar nicht angesprochen, ich wollte ja nicht dünner werden, nur gesünder. Ich glaube, mein Mann sorgte sich in dieser Zeit sehr um mich. Aber er mischte sich nicht ein, sagte höchstens mal: "Du musst mal wieder ein bisschen mehr essen." Kritisierte er meine Selbstkontrolle doch, konterte ich harsch: "Besser, als so viel Schrott zu essen wie du!"

Die Sucht zu verschleiern ist bei Orthorexie recht leicht, denn ein gesunder Lebensstil wird gesellschaftlich geschätzt. Selbst als ich meiner Psychologin, zu der ich in dieser Zeit wegen Erschöpfungszuständen ging, zaghaft von meinen Bedenken erzählte, ob mein Lebenswandel gesund sei, beruhigte sie mich. Solange ich nicht zu viel abnähme, wäre alles im Lot. Dass mich auch der manische Fokus auf mein Essen in die Erschöpfung trieb, wollten weder sie noch ich sehen.

Den Anstoß zur Heilung brachten letztendlich: meine Kinder. Natürlich übertrug ich meinen Zwang auf sie. Es war für mich unerträglich zu wissen, was sie im Kindergarten aßen – dort wurde zwar frisch gekocht, aber eben mit Kartoffeln, Nudeln, Fleisch. Die nervige Übermutter, die bei Elternabenden rummosert, wollte ich aber nicht sein. Also gestand ich den beiden zu, dass sie auswärts normal aßen, und traktierte sie zu Hause mit Linsenbratlingen, in der Hoffnung, damit die "leeren Kita-Kalorien" wieder auszugleichen. Das gemeinsame Abendbrot in dieser Zeit war purer Stress: Mein großes Kind aß den Käse ohne das gesunde Vollkornbrot, das kleine verweigerte das Abendessen gleich ganz und verlangte nach einem großen Glas Milch – mein Albtraum, ich fürchtete schädliche Wachstumshormone in Kuhmilch. Verbieten wollte ich es ihnen aber nicht, sie sollten – das war mein Erziehungsideal – selbstbestimmt aufwachsen. Regelmäßig brach ich bei den Mahlzeiten nervlich zusammen, wenn die zwei meine gesunden Gerichte verschmähten. "Ich habe immer alles gegessen, was meine Mutter gekocht hat", keifte ich. Und schämte mich: Nie hatte ich so werden wollen, meine Kinder sollten ohne Druck essen können. Durch das, was ich meinen Kindern antat, wurde mir klar, wie ich mit mir selbst umging.

Die Essstörung bekämpfen

Essstörungen bekämpft man am besten mit einer fundierten psychologischen Begleitung. Ich schaffte es irgendwie allein, die Ursachen für meine Sucht zu finden. Denn auch wenn meine Psychologin meine Essstörung nicht erkannte, halfen mir die dort erlernten Techniken dabei, mich selbst zu therapieren: Warum befriedigt mich die Kontrolle meiner Ernährung so sehr? Welche Funktion erfüllt diese unsagbare Disziplin? Was macht die Anerkennung der anderen mit mir?

In meiner Kindheit habe ich sehr viel Liebe und Vertrauen erlebt, aber es gab eine Zeit, in der alles aus den Fugen geriet: Als sich meine Eltern trennten, wechselte ich parallel die Schule und stieß dort auf Abwertung. Beide Ereignisse hinterließen bei mir das Gefühl: Ich bin nicht ausreichend, wie ich bin. Ich muss mehr leisten, um geliebt zu werden. Viele Jahre lebte ich in dieser Überzeugung. Die Ernährungskontrolle brachte die ersehnte Anerkennung. Ich tat etwas, für das andere zu schwach waren. Nur selten sprach ich mit meinem Mann über meinen inneren Prozess, aber ich weiß, dass er erleichtert war, als ich nach zwei Jahren wieder begann, normal zu essen. Ich hatte verstanden, dass ich nichts leisten muss, um wertvoll zu sein. Ich war genug – auch undiszipliniert oder sogar mal maßlos.

Meinen engsten Menschen gestand ich die Orthorexie, als ich mich als geheilt begriff. "Ich habe eine schwere Zeit hinter mir", sagte ich einer Freundin beim Spaziergang, "ich hatte eine Essstörung." Das auszusprechen fühlte sich anfangs wie eine Übertreibung an. Um wieder zu einer einigermaßen normalen Esserin zu werden, zwang ich mich, bestimmte Lebensmittel zu rehabilitieren, versicherte mir, dass eine Scheibe Weizenbrot mit Margarine aus Palm- und Sonnenblumenöl mich nicht vergiftet. Ich musste tatsächlich wieder essen lernen.

Noch immer fällt es mir schwer, Fast Food zu mir zu nehmen. Vielleicht wird es nie wieder möglich sein, unbeschwert "ungesund" zu essen. Die Orthorexie begleitet mich wie ein Schatten, mal deutlicher, mal schwächer. Sie hat ein Gift in mir hinterlassen, mit dem ich leben muss. Ich ernähre mich weiterhin sehr gesund, doch ich versuche, das wieder als Wert anzuerkennen. Als Geschenk, das ich mir mache. Manchmal kann ich mit meinen Kindern eine ausgedehnte Eis-Session veranstalten, ohne dass ich mich hinterher schuldig fühle. Manchmal auch nicht.

Die Autorin wollte ihre Erfahrung nicht unter ihrem richtigen Namen teilen. Lena Wernicke ist ein Pseudonym

Barbara

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