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Klimakolumne "Ich kündige meinem schlechten Gewissen – und bin trotzdem öko"

Klimakolumne: Eine Frau schaut fragend in die Kamera und hält eine halbe Avocado
© luismolinero / Adobe Stock
Muss das sein, dass wir uns ständig mies fühlen, wenn wir doch mal 'ne Avocado essen oder mal in den Urlaub fliegen? Unsere Redaktionsleiterin Daniela Stohn hat beschlossen, ihrem schlechten Gewissen zu kündigen – und trotzdem öko zu bleiben.

Eigentlich wollte ich den Bus nehmen, wirklich. Aber dann regnete es, eine Einladung zu einem Abendessen kam rein (auf der anderen Seite der Stadt!), und plötzlich saß ich doch wieder im Auto und fuhr zur Arbeit. "Weil du faul bist", kommentierte Jochen. "Wundert mich gar nicht, dass du den Hintern mal wieder nicht hochkriegst. Disziplin ist eben nicht dein Ding."

Jochen weiß genau, an welchen Punkten er mich treffen kann. Er ist mein schlechtes Gewissen, die nervige Stimme in meinem Kopf, die mich permanent miesmacht. Ich habe sie so genannt, weil ich mal einen Kollegen hatte, der Jochen hieß und ständig meckerte: wenn ich zu laut telefonierte, im Büro aß oder meinen Text nicht fertigbekam. Also habe ich mir etwas vorgenommen: Ich möchte Jochen kündigen, diesem griesgrämigen Mitbewohner, mit dem ich viele Jahre so unzufrieden zusammengelebt habe.

Er quält mich nämlich in Dauerschleife – und zwar neben dem Thema, nie genug Zeit für meine Liebsten zu haben, vor allem mit Klimafragen. Wenn ich zum Beispiel mit dem Flugzeug zu einer Veranstaltung nach Mallorca fliege, obwohl andere darauf verzichten. Wenn ich einen Plastikbecher nehme, weil ich meinen To-go-Becher vergessen habe. Wenn ich Ski laufe, weil das für mich einfach der allerschönste Urlaub auf der Welt ist. Und wenn ich doch dreimal im Jahr bei einem Steak schwach werde, obwohl andere es schaffen, hundert Prozent vegan zu leben.

Was sagt Jochen dazu?

Dann schlägt Jochens Stunde und er läuft auf zu Hochform.

Ich: Das ist das erste Mal seit drei Monaten, dass ich Fleisch esse. Das macht wirklich vom Impact her kaum einen Unterschied!

Jochen: Du bist halt schwach. Hoffentlich reißt das nicht weiter ein. Und was wohl die anderen von dir denken? Dass du so eine Hipster-Grüne bist, die nur dann nachhaltig lebt, wenn es nicht weh tut?

Ich: Aber ich liebe Steak! Es fällt mir schwer, ständig dazu Nein zu sagen.

Jochen: Weil du es nicht genug willst, ist es dir wohl auch nicht wichtig genug. Deine Enkel müssen deinen Spaß dann später ausbaden.

Bekommt ihr auch gerade schlechte Laune? Geht mir genauso. Doch statt mich weiterhin über Jochen aufzuregen, gehe ich ihm jetzt auf den Grund. Warum nervt der mich so sehr? Und das, obwohl ich schon so viel mehr richtig mache als nicht richtig? Grund Nummer eins: Unser Gehirn ist darauf gepolt, eher das Schlechte zu sehen als das, was schon ganz gut läuft. Erschwerend hinzu kommen die Kommentare und Diskussionen auf Social Media, wo man schnell einen Shitstorm erntet, wenn man doch dieses eine Mal in ein Flugzeug steigt – weil es den Ansprüchen der grünen Community nicht genügt. Und dass die Politik seit Jahren die Verantwortung auf uns Individuen abschiebt, statt lieber das nachhaltige zum einfachsten Verhalten zu machen – keine Subventionen für tierische Produkte! Günstige Bahntickets! Tempolimit auf Autobahnen! –, spielt Jochen auch in die Hände.

Ein unrealistischer Perfektionsanspruch

Die Psychologin Maja Storch sieht in dem übertriebenen Perfektionsanspruch, der in der Green Bubble tobt, eine "neue Form absurder Religiosität, ein rigoroses moralisches System, das dogmatisch über alle gestülpt wird – wie früher die zehn Gebote und die Todsünden. Die normale Bereitschaft, sich zu engagieren und verantwortungsvoll zu handeln, gerät in einen zwanghaften Grenzbereich. Das ist psychologischer Dauerstress und sehr ungesund." Die Expertin hat ein Buch über das Phänomen Jochen geschrieben ("Das schlechte Gewissen – Quälgeist oder Ressource", Hogrefe), in dem sie zwei Formen unterscheidet: das berechtigte schlechte Gewissen – zum Beispiel, wenn wir nicht den Stromanbieter wechseln, obwohl es nur ein Klick zum Ökostrom ist. Es wirkt positiv, wie ein innerer Antreiber, und verschwindet, wenn wir das Vorhaben doch umsetzen. Die zweite Form nennt Storch das neurotische schlechte Gewissen. Es ist so was wie der garstige kleine Bruder des berechtigten schlechten Gewissens, wird durch frühkindliche Erfahrungen geprägt und hat mit Einsicht nichts zu tun. Auch wenn ich mir noch so oft sage, dass ich denüberwiegenden Teil des Jahres korrekt lebe, duldet das neurotische schlechte Gewissen keine Ausnahme. Oder anders: Das dumme Gefühl ist da, selbst wenn man weiß, wo es herkommt und dass es nicht gut ist. "Da kommt man nicht mit Worten ran, nicht über den Verstand", sagt Maja Storch. Der Schlüssel seien Bilder und Körpererleben, um unser Erfahrungsgedächtnis zu überlisten und Jochen loszuwerden.

Klingt für mich abstrakt. Ganz praktisch bedeutet es: Wenn Vorwürfe von außen kommen und das schlechte Gewissen triggern, empfiehlt Maja Storch, um gechillt zu bleiben, ein Tierbild zu finden, das uns abgrenzt. Mir fällt sofort der dickhäutige Elefant ein, dem es wenig ausmacht, was andere tun. Dazu stelle ich mir die Farbe grau vor. Und wie fühlt sich der Elefant an? Genau, schwer und entspannt, etwas zurückgelehnt sitzt er da und beobachtet gelassen. Dazu soll ich erklären, was meine Haltung ist und warum ich mich dafür entschieden habe. Und das ganz klar nach außen kommunizieren.

Probiere ich gleich aus. Als ich mit meinen Kindern beim Abendbrot diskutiere, wer von uns im vergangenen Jahr die schlechteste Klimabilanz hatte, kriege ich von allen Seiten Lack, weil ich dreimal geflogen bin – einmal beruflich, die anderen beide Male … Ja, okay, ich hatte eben nach der Pandemie das Gefühl, was nachholen zu müssen und mir was zu gönnen. Stichwort: Revenge Vacation. Nicht gut, ich weiß. Und schwupps, schon fühle ich mich wieder schlecht. Aber – und jetzt werde ich wütend: Dabei fällt komplett unter den Tisch, dass mein Fleischverzicht ja schon wirklich super ist, dass ich viel Rad fahre und nur wenig Klamotten shoppe!

Den inneren Elefanten fühlen

Da ist er wieder, dieser rhetorische Trick, den ich oft beobachte und der Jochen ordentlich Stoff liefert: Die, die schon viel machen, bekommen für ihre vermeintlichen Schwächen am meisten Kritik. Ganz schön unfair. Was tun? Ich schließe die Augen und fühle mich als Elefant. Klingt albern, bringt aber was: Abstand. Und den inneren Raum, anders zu reagieren. Aus dem Geschrei der Vorwürfe in meinem Kopf und der Wut auszusteigen. Ich lächle. Erkläre ganz ruhig, wie ich das sehe und dass ich mich richtig super finde, weil ich viel tue. Und Jochen? Hält tatsächlich mal die Klappe.

So richtig los werde ich ihn trotzdem nicht. Elefant hin oder her, ich will noch eine andere Meinung dazu hören. Also rufe ich die Umweltpsychologin Karen Hamann von der Uni Leipzig an – und sie findet Jochen sogar richtig gut. Wie bitte? "Es ist gar nicht unbedingt ratsam, sein schlechtes Gewissen loswerden zu wollen", sagt Hamann. "Gerade bei Umweltaspekten ist ein Verantwortungsgefühl – denn das ist die positive Kehrseite des schlechten Gewissens – wichtig, um zu handeln.“ Was nämlich hinter der inneren Stimme stecke: eine Debatte mit uns selbst, unseren Werten, die uns sagen, was wir tun sollten und was lieber nicht. "Es ist ein schmaler Grat: Wir brauchen ein bisschen schlechtes Gewissen, um die gesellschaftlich nötigen Veränderungen hinzubekommen, denn es ist ein wichtiger Motivator, um zu handeln. Aber: Es ist nicht gut, wenn wir uns ständig schlecht fühlen, das raubt uns Energie, die wir brauchen, um etwas zu verändern, uns Gruppen anzuschließen, zu protestieren."

Hamann empfiehlt, sich der eigenen Werte bewusst zu werden, Prioritäten zu setzen und sich klarzumachen, wo man sich wirklich nachhaltig verhalten möchte. "Dabei sollte man sich nicht wegen jedes To-go-Bechers den Kopf zerbrechen, sondern die großen Hebel beachten: vegan essen, wenig fliegen oder Auto fahren und mit Augenmaß heizen – das sind die Big Points auf privater Ebene." Ausnahmen wie eine Gänsebrust zu Weihnachten fielen dann kaum ins Gewicht, wenn die große Linie stimme.

Schluss mit der Diskussion!

Die Expertin gibt mir drei Fragen, die mir helfen sollen, klarer zu werden und nicht mehr ständig mit mir selbst zu diskutieren, am Beispiel Avocados essen: 1. Wie wichtig ist mir das? (Sehr, weil lecker und gesund.) 2. Wie viel Wohlbefinden gibt es mir? (’ne Menge, weil lecker und gesund.) 3. Wie wirkt es auf das Klima? (Schlecht, wegen des hohen Wasserverbrauchs und CO2-Ausstoßes beim Transport). Was davon überwiegt? Hmmm, bei mir kämpfen ganz klar die Werte Gesundheit und Geschmack gegen die Nachhaltigkeit. Ich schließe einen Kompromiss: Ich esse nur maximal eine Avocado pro Woche, und wenn, dann genieße ich sie, ohne Gewissensbisse. Endlich muss ich nicht mehr jedes Mal vor dem Supermarktregal mit mir ringen.

Beim Fleisch ist es noch klarer: Hier steht nur der Geschmack auf der Plusseite. Mein Deal mit mir: Wenn es die seltene Gelegenheit auf ein richtig köstliches Biosteak gibt, bin ich dabei. Und beim Skilaufen? Tja, schwierig. Es ist mir superwichtig und gibt mir sehr viel Wohlbefinden, ist aber natürlich für die Umwelt überhaupt nicht gut. Ich entscheide für mich, dass einmal im Jahr okay ist, in einem kleinen Skigebiet, das auf Nachhaltigkeit setzt und wo die Einheimischen vom Tourismus profitieren.

Was fühlt sich gut an?

Vielleicht geht es in Wirklichkeit gar nicht so sehr darum, Jochen zu kündigen, sondern sich mit ihm anzufreunden. Ihm entgegenzukommen, aber auch die eigenen Bedürfnisse zu sehen. Eher wie in einer Freundschaft als in einer Zwangs-WG.

Maja Storch sieht das ähnlich. Sich zu fragen, was man beitragen kann zu einer besseren Welt, sei natürlich sinnvoll. Aber auch zu gucken: Was fühlt sich für mich gut an? "Wenn jeder sagt, ich tue, was ich kann, und verhalte mich dabei verantwortungsbewusst, ist viel gewonnen. Aber mein Aktivismus", sagt sie, "darf mich nicht meinen eigenen Frieden kosten."

Aktueller Ökostruggle:

ICH LIEBE KÄSE! Verzichtsfähigkeit: minus fünf Prozent. Aber ich versuche zumindest, die Scheiben dünner zu schneiden.

Green Hack:

Fresh-up für welken Salat: Wasser mit 1 EL Zucker in eine Schüssel geben, Blätter ca. 30 Minuten reinlegen. Wie neu!

@danielastohn

Brigitte

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