Anzeige

Dr. Maja Storch: "Sie können sich nicht falsch entscheiden"

Frau mit Rucksack sitzt auf Straße vor Kreuzung
© sondem / Shutterstock
Sich entscheiden zu müssen, ist für viele eine Last. Die Psychologin Dr. Maja Storch weiß, wie sich diese Last nehmen lässt.

Exklusiv für BRIGITTE.de-User: Lesen Sie einen Auszug aus Maja Storchs neuem Buch "Machen Sie doch, was Sie wollen".

BRIGITTE.de: Warum tun wir uns mit Entscheidungen so schwer?

Dr. Maja Storch: Weil die meisten Menschen eine falsche Vorstellung davon haben, wie sich Leben gestaltet.

BRIGITTE.de: Nämlich?

Dr. Maja Storch: Die meisten glauben, dass es richtige Entscheidungen gibt, die liegen herum wie Ostereier und ich muss sie nur finden. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Unser Leben ist ein hochkomplexes, dynamisches System. Wir können keine Vorhersagen treffen: Ob eine Entscheidung falsch ist oder nicht, können wir erst im Nachhinein sagen. Ich spreche deshalb ungern von falschen oder richtigen, sondern lieber von klugen Entscheidungen.

BRIGITTE.de: Der Frau, die mir die folgende Geschichte erzählt hat, sind solche Wortspaltereien wahrscheinlich egal: Sie ist Anfang vierzig, war fünf Jahre mit einem Mann zusammen. Er wollte eine Familie gründen, sie war unsicher. Da bekam sie das Angebot, für ihre Firma ein halbes Jahr ins Ausland zu gehen. Sie hat angenommen. Als sie zurückkam und sich für eine Familie entschieden hatte, hatte er eine Neue. Sie sagt: "Ich werde nun niemals Kinder haben, das war die Fehlentscheidung meines Lebens."

Dr. Maja Storch: Das ist Pech. Keine Fehlentscheidung.

BRIGITTE.de: Was Sie da sagen, ist zynisch.

Dr. Maja Storch: Quatsch, es ist eine Erleichterung. Denken Sie denn, ich kenne diese Geschichten nicht? Ich habe ständig mit Menschen zu tun, die sagen: "Ich habe die Fehlentscheidung meines Lebens getroffen." Wer so denkt, macht sich selbst verantwortlich und wird von grauenhaften Schuldgefühlen geplagt. Ich nehme diesen Menschen eine enorme Last, wenn ich sage: "Sie konnten das nicht wissen. Sie haben die falsche Lebenstheorie, wenn Sie sich selbst Tag für Tag an den Pranger stellen, denn das, was passiert ist, konnten Sie nicht vorhersagen." Sich zu sagen: Ich habe Pech gehabt ist psychologisch etwas völlig anderes als sich einzureden: Ich habe Schuld. Es hätte ja auch ganz anders kommen können: Die Frau aus ihrem Beispiel hätte im Ausland einen Mann kennen lernen können, mit dem sie heute sehr glücklich lebt, ob mit oder ohne Kind. Dann würde sie sagen: Es war die beste Entscheidung meines Lebens.

BRIGITTE.de: Wann ist eine Entscheidung klug?

Dr. Maja Storch: Wir haben zwei Bewertungssysteme: den Verstand und das, was die meisten Menschen Bauchgefühl nennen, in der Wissenschaftssprache somatische Marker genannt. In meinem neuen Buch "Machen Sie doch, was Sie wollen" nenne ich dieses Bauchgefühl "das Würmli", eine Figur, die an der Universität Zürich, in der Schweiz entwickelt wurde. Dieses Würmli ist unser emotionales Erfahrungsgedächtnis, schon ab der fünften Embryonalwoche werden hier unbewusst Informationen verarbeitet und gespeichert. Diese Erfahrungen werden mit einem Hinweis, einem Marker, versehen, der uns sagt: Das war eine gute Erfahrung, das war eine schlechte. Will ich eine kluge Entscheidung treffen, muss ich erst einmal wissen, dass ich diese beiden Systeme besitze, also nicht nur einen Verstand, sondern auch ein emotionales Erfahrungsgedächtnis habe. In der Psychoanalyse nennt man das Würmli übrigens "das Unbewusste", in der Alltagssprache "das Bauchgefühl". Ich muss nun Verstand und dieses emotionale Erfahrungsgedächtnis sorgfältig koordinieren.

BRIGITTE.de: Das setzt voraus, dass der Bauch eindeutig ist. Ich habe aber schon genug Entscheidungen getroffen, bei denen das überhaupt nicht der Fall war.

Dr. Maja Storch: Können Sie mir ein Beispiel nennen?

BRIGITTE.de: Als das Angebot kam, für BRIGITTE in Hamburg zu arbeiten. Mein Bauch hat gejubelt. Gleichzeitig ging es mir extrem mies, weil ich mit meinem Freund in München lebte. Den Job anzunehmen hieß auch, 800 Kilometer von ihm wegzuziehen.

Dr. Maja Storch: Was Sie da erlebt haben, ist völlig normal. Im Gehirn werden positive und negative Gefühle in zwei unterschiedlichen Regionen erzeugt, das kann man sich vorstellen wie zwei Quellen oder Flüsse. Treffen die zusammen, kommen die berühmten gemischten Gefühle heraus. Mit denen sitzen Sie dann da und wissen nicht, was Sie machen sollen. Um eine Entscheidung treffen zu können, die sich gut anfühlt, brauchen Sie aber einen eindeutigen somatischen Marker und der Verstand muss auch sagen: Go! Also müssen Sie herausfinden, warum genau Ihr Bauch denn nun grummelt. Daran scheitern übrigens schon viele. Die merken zwar, dass sie ein ungutes Gefühl haben, aber achten einfach nicht darauf. Wir leben in einer Gesellschaft, in der immer noch als König gilt, wer seine Entscheidung allein mit dem Verstand trifft. So beraubt man sich aber eines ganz wichtigen Werkzeugs. Sie müssen sich wirklich bewusst machen, was Hirnforscher da in den vergangen Jahren herausgefunden haben: Wir besitzen ein Bewertungssystem, in dem all unsere Erfahrungen gespeichert sind. Und dieses Bewertungssystem sendet Signale aus, manchmal unterschiedliche, wie in Ihrem Beispiel, aber immer Signale, die uns etwas sagen wollen. Mich interessiert: Warum hatten Sie ein schlechtes Gefühl?

BRIGITTE.de: Ich hatte Angst um meine Beziehung.

Dr. Maja Storch: Okay, jetzt stehen sich also zwei Dinge gegenüber: Angst um die Beziehung und der Traumjob. Ein fettes Minus und ein fettes Plus. Die Frage ist: Wie bringt man die zusammen? Wie können Sie also das Minus absenken?

BRIGITTE.de: Ich habe mit meinem Freund geredet. Wir haben gemeinsam überlegt, wie wir eine Fernbeziehung schaffen könnten.

Dr. Maja Storch: Sie haben sich also neue Informationen besorgt. Und vor der fremden Stadt? Hat es Ihnen da nicht gegraut? Vom Süden in den Norden, zu den Fischköpfen?

BRIGITTE.de: Das fand ich nicht schlimm. Schlimmer war, dass ich überhaupt in eine neue Stadt ziehen musste. Ich habe mich anfangs in München nicht leicht getan. Und mein Freund war auch erst zu mir nach München gezogen...

Dr. Maja Storch: Oh, sehen Sie! Da kommen ja noch ganz andere Sachen dazu, das Thema Heimweh und das Thema Verpflichtung. Der zieht extra Ihretwegen nach München und Sie verduften! Da würde mein Würmli auch rebellieren. Jetzt hätte ich Sie gefragt: Was muss passieren, damit der negative somatische Marker so weit runterkommt, dass sich Ihr Würmli wohl fühlt und das Pendel in Richtung Job in Hamburg geht?

BRIGITTE.de: Mein Freund hat mich bestärkt, den Job anzunehmen. Ich hatte das Gefühl: Mit ihm kann das funktionieren.

Dr. Maja Storch: Da ist also ein zusätzliches Plus aufgetaucht. Und das Heimweh?

BRIGITTE.de: Ich habe mir gesagt, dass der Anfang in München natürlich auch schwer war - ich war gerade 19 Jahre alt, Uni, Stadt, das war alles neu.

Dr. Maja Storch: Sehen Sie, was passiert? Ihre Gefühlsbilanz kommt in Bewegung. Sie sind erst dann entscheidungsfähig, wenn die Gefühlsbilanz in eine Richtung geht.

BRIGITTE.de: Das klingt sehr nach den typischen Plus-Minus-Listen, die wir doch alle kennen.

Dr. Maja Storch: Nein. Plus-Minus-Listen machen wir mit dem Verstand. Und da können Sie immer unendlich viele Dinge finden, die dafür oder die dagegen sprechen. Das sind aber vielleicht gar nicht die Dinge, die Sie bewegen. Dass Hamburg im Norden liegt beispielsweise war Ihrem emotionalen Erfahrungsgedächtnis egal.

BRIGITTE.de: Dann nenne ich Ihnen mal die ideale Entscheiderin: Sie weiß immer ganz genau, was sie will, und das ist meist Kuchen essen oder fernsehen. Sie ist meine Nichte und fünf Jahre alt.

Dr. Maja Storch: Kinder sind überhaupt nicht die idealen Entscheider. Natürlich sollten wir vor jeder Entscheidung herausfinden, was wir wirklich wollen. Aber manchmal ist es gut, nicht auf das Würmli zu hören. Sonst würden wir ja alle nicht mehr zum Zahnarzt gehen und kein Mensch würde seine Diplomarbeit weiter schreiben, wenn er stattdessen mit Freunden Caipis trinken kann. Wenn ich also mit dem Verstand kapiere: Das, was mein somatischer Marker mir sagt, ist Blödsinn oder tut mir nicht gut, dann mache ich das natürlich nicht.

BRIGITTE.de: Das Schlimme am Entscheiden ist die Zeit danach. Dann fängt das Gedankenkarussell an: Hätte ich nicht doch bleiben sollen, warum bin ich nur gegangen?

Dr. Maja Storch: Ein guter Entscheidungsvorgang fühlt sich gut an, da ist vielleicht ein bisschen Wehmut, aber mehr nicht. Grübeln wir, heißt das: Da stimmt was nicht, die Entscheidung passt so doch noch nicht. Wem es so geht, der sollte nochmals eine sorgfältige Runde drehen und sich fragen, ob er ein ungutes Gefühl falsch gedeutet hat, welche Info fehlt. Es gibt aber auch Menschen, die grübeln immer. Das sind übrigens dieselben, die sich nach Misserfolgen mit Selbstvorwürfen zuschütten. Wenn ich weiß, dass ich zu diesen Menschen gehöre, dann helfen eigentlich nur Mentaltechniken wie Yoga oder Meditation, um zu lernen, das Gedankenkarussell zu stoppen.

BRIGITTE.de: Ihr Buch heißt: "Machen Sie doch, was Sie wollen." Aber das ist nicht einfach. Manchmal wissen wir ganz genau: Dort, wo ich bin, will ich nicht bleiben. Aber wir wissen nicht, wohin wir wollen.

Dr. Maja Storch: Das höre ich häufig, vor allem bei Beziehungsproblemen oder Jobfragen. In so einer Situation muss ich mir wieder meine somatischen Marker anschauen: Warum beende ich nicht einfach die Beziehung, wenn sie mir nicht mehr gut tut? Als Antwort kommt meist: Aus Angst vor dem Alleinsein. Also muss ich daran etwas ändern. Ich kann beispielsweise schon in der Beziehung mit der Suche nach einem neuen Partner anfangen; die Norm, dass man erst eine Beziehung beerdigen muss, um für eine neue frei zu sein, stimmt keineswegs für alle Menschen. Oder ich kann mir einen Freundeskreis aufbauen, der mich auffängt. Es gibt viele Möglichkeiten, die Gefühlsbilanz zu verschieben. Da gibt es übrigens eine gute Faustregel: Menschen bekommen immer dann ein Entscheidungsproblem, wenn sie eine Entscheidung im Entweder-Oder-Modus denken. Die Menschen fragen sich: Gehen oder Bleiben? Das ist aber der falsche Modus. Der Modus, um kreativ eigene Wege zu gehen, heißt: Sowohl als auch.

BRIGITTE.de: Es gibt häufig kein sowohl als auch.

Dr. Maja Storch: Es gibt immer ein sowohl als auch.

BRIGITTE.de: Eine Frau wird schwanger. Sie überlegt, ob sie abtreiben soll. Da gibt es kein sowohl als auch.

Dr. Maja Storch: Auf den ersten Blick nicht, das stimmt. Und ganz am Schluss natürlich auch nicht. Es gibt aber Nuancen dazwischen. Ich würde diese Frau fragen: "Warum haben Sie ein ungutes Gefühl, wenn Sie daran denken, ein Kind zu bekommen?" Vielleicht hat sie Angst, eine schlechte Mutter zu sein. Vielleicht hat sie Angst um ihren Job. Vielleicht will der Vater nichts von dem Kind wissen, und sie traut es sich nicht zu, das Kind allein groß zu ziehen. Wenn ich weiß, was die schlechten Gefühle erzeugt, kann ich sehr wohl eine sowohl als auch Lösung finden.

BRIGITTE.de: Indem ich neue Möglichkeiten bedenke, die mir ein besseres Gefühl geben? Also: Ich bekomme das Kind, aber nicht unter den Bedingungen, die ich als zwangsläufig vorausgesetzt habe?

Dr. Maja Storch: Richtig. Die Frau, die Angst hat vor dem Alleinsein, ist vielleicht in einer WG mit einer Freundin gut aufgehoben. Entweder oder - so arbeitet der Verstand. Sobald sie aber mit dem emotionalen Erfahrungsgedächtnis arbeiten, kommen Sie in die Sowohl-als-auch-Ebene. Die gemischten Gefühle, die Sie am Anfang als schwierig bezeichnet haben, helfen uns hier. Sie zeigen uns, was uns wichtig ist. Und das hilft uns, kreative Lösungen zu finden.

Zur Person:

Dr. Maja Storch, 51, ist Diplom-Psychologin, Psychoanalytikerin und Trainerin. Sie leitet das Institut für Selbstmanagement und Motivation Zürich, ein Spin-off der Universität Zürich und ist Autorin mehrerer Bücher. www.ismz.ch

Exklusiv für Brigitte.de-User: Hier lesen Sie einen Vorabdruck aus Maja Storchs neuem Buch "Machen Sie doch, was Sie wollen", das bei Huber erschienen ist (136 S., 17,95 Euro).

Interview: Madlen Ottenschläger

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel