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Psychologie Wie sich ein vererbtes Trauma bemerkbar macht

Nachdenkliche Frau stützt Kinn auf die Hände
© Paolese / Adobe Stock
Die Erlebnisse unserer Vorfahr:innen prägen uns. Reaktionen wie unangemessene Wut, ständige Ängste oder Traurigkeit können auf ein vererbtes Trauma hindeuten. Ebenso manche Krankheiten. 

Immer mehr Menschen werden sich bewusst, dass es uns beeinflusst, was unsere Vorfahr:innen erlebt haben – und wie sie damit umgegangen sind. Die Bücher von Sabine Bode über die Spätfolgen des Zweiten Weltkriegs auf die Generationen der Kinder und Enkel sind längst Bestseller. Verschwiegenes und Verdrängtes können eine große Last sein, die sich in verschiedenen Symptomen zeigt.

Gefühle, die ein vererbtes Trauma anzeigen

Wenn deine Gefühle oder Reaktionen nicht zu der aktuellen Lebenssituation passen, ist das ein Zeichen dafür, dass du ein vererbtes Trauma spürst:

  • Wenn du in deiner eigenen Biografie keine Erlebnisse findest, die dein Verhalten erklären.
  • Wenn dich in manchen Situationen plötzlich eine riesige Wut übermannt, die dem Anlass nicht angemessen ist.
  • Hast du eine Traurigkeit in dir, ohne Auslöser?
  • Bist du ständig in Angst und Sorge, obwohl es dir eigentlich gut geht, du einen sicheren Job hast, ein Heim, eine Familie?
  • Häufig zeigt auch eine unbestimmte Sehnsucht, dass da mehr auf dich wirkt, als du selbst weißt. Wenn du immer auf der Suche bist, ohne zu wissen, wonach.
  • Oder wenn du nicht ankommen kannst im Job, in der Partnerschaft, in dir selbst – egal, wie viele Coachings oder Gesprächstherapien du schon gemacht hast.

Mögliche Körpersymptome

Auch körperliche Symptome können vererbte Traumata als Ursache haben, müssen das aber nicht. Zu den möglichen Erkrankungen gehören:

  • Migräne
  • chronische Rückenschmerzen
  • Gedächtnisschwierigkeiten
  • Hauterkrankungen
  • Depressionen
  • Angststörungen
  • Krebs

Die Gründe für Krankheiten oder psychische Belastungen sind vielfältig und komplex, eine schulmedizinische Abklärung ist immer nötig. Es lohnt sich aber, manchmal den Fokus weiter aufzumachen und in Betracht zu ziehen, dass vererbte Traumata auf dich wirken könnten.

Erfahrungen werden vererbt

Was esoterisch klingt, ist längst anerkannter Forschungsgegenstand. Lange dachte man, dass nur die Gene bestimmen, was wir an unsere Kinder weitergeben. Doch in den letzten Jahren hat die Wissenschaft das Thema transgenerationale Vererbung entdeckt, die Epigenetik. Epigenetische Faktoren bestimmten mit, welche Gene an- oder ausgeschaltet werden. Sie werden durch Umwelteinflüsse und Erlebnisse wie Hungersnöte, Krieg oder starken Stress verändert. Und sind vererbbar, über mehrere Generationen hinweg. So wird beispielsweise beeinflusst, wie wir mit Stress umgehen.

Studien des Max-Planck-Instituts in Freiburg zeigten, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Nahrungsmittelversorgung von Großvätern und einem erhöhten Risiko für Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei deren Enkel:innen. 

Die Neurowissenschaftlerin Isabelle Mansuy, die in Zürich forscht, belegte bei Experimenten mit Mäusen, dass Kindheitstraumata bis in die fünfte Generation weitergegeben werden können.

Ungelebte Gefühle bleiben in der Familie

Aber auch unsere Gefühlswelt wird durch unsere Vorfahren beeinflusst. Die Trauerbegleiterin und Autorin Christine Kempkes spricht in ihrem Podcast "Liebevoll trauern" darüber, wie lebensverändernd für sie die Erkenntnis gewesen sei, dass sie jahrelang die ungelebte Trauer ihrer Mutter um das tot geborene erste Kind gespürt hatte. Die Mutter kam mit dickem Bauch ins Krankenhaus und kehrte ohne Kind zurück. So sei das halt, hätten die Leute damals reagiert, du bist ja noch jung. Fertig. Das ungelebte Gefühl blieb in der Familie spürbar.

Bis Kempkes zum 60. Geburtstag ihrer toten Schwester mit der Mutter dorthin ging, wo ihr Grab gewesen war, Blumen niederlegte und diesem Verlust Raum gab. Erst dann wichen die Schwere und die unbestimmte Sehnsucht, die Kempkes immer mit sich herumgetragen hatte. Heute empfindet sie ihre Schwester als Kraftquelle.

Kempkes hat die familienbiografische Arbeit sehr geholfen, also die Beschäftigung damit, was ihre Vorfahren erlebt haben und welche Ähnlichkeiten zu ihren eigenen Lebensthemen es gibt. Man nennt das Genogramm-Arbeit. Hilfreich können auch Familienaufstellungen sein. Hierbei lassen sich alle Themen aufstellen und ansehen, die das eigene Leben belasten, auch körperliche Symptome.

Manche werden widerstandsfähiger

Die gute Nachricht: Selbst wenn die Vorfahr:innen Schlimmes erlebt haben – und das ist allein mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg sehr wahrscheinlich – heißt das nicht automatisch, dass die Nachkommen leiden. Epigenetische Prozesse lassen sich beeinflussen, durch äußere Umstände wie das eigene Verhalten, Ernährung, Bewegung und neue Erfahrungen.

Außerdem zeigen einige Untersuchungen, dass die nachfolgenden Generationen sogar widerstandsfähiger werden können. Bei den Enkeln von Menschen, die im deutschen Steckrübenwinter 1916/17 hungerten, wies ein englisch-deutsches Wissenschaftler:innen-Team einen positiven Effekt auf die Gesundheit nach. Sie sollen weniger psychische Erkrankungen haben.

Verwendete Quellen: nzz.ch, deutschesgesundheitsportal.de, mpg.de, sciencedirect.com

Brigitte

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