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Vererbung über die Generationen Wie ich das Trauma meiner Oma spürte

Porträt alte Frau schaut ernst
© Pajaros Volando / Adobe Stock
Die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte kann helfen, eigene Muster und Gefühle zu verstehen. Eine Familienaufstellung macht oft Erstaunliches sichtbar, zum Beispiel die verdrängten Erlebnisse der Oma. Wie ich als Enkelin die Traumalösung an ihrer Stelle erlebte. Und was das verändert hat.

Vor einigen Jahren machte ich eine einjährige Weiterbildung im systemischen Familienstellen, weil mich die Erfahrungen so bewegt hatten, die ich in einem Seminar damit gemacht hatte.

Damals – und teilweise heute noch ­– schienen sie mir so unbeschreiblich, dass ich wenig davon erzählte. Freund:innen und Familienmitgliedern schwärmte ich trotzdem vor: "Es ist wie ein ganzes Wochenende Philosophieren über das Leben, aber nicht mit dem Kopf, sondern mit der Seele." Vielleicht auch mit dem Herzen, denn es geht ums Fühlen – von all dem, was ausgeschlossen und abgespalten wurde in unserem Familiensystem.

Aufstellungen zeigen belastende Dynamiken

Aufstellungen helfen sichtbar zu machen, womit wir verbunden sind und was uns blockiert. Speziell beim Familienstellen können alle Themen aufgestellt werden, die das eigene Leben belasten. So zeigen sich beispielsweise von der Ursprungsfamilie übertragene Muster oder übernommene Gefühle. Das Ziel ist, die Dynamiken sichtbar zu machen und zu lösen. 

Familiengeschichte anschauen

Schon die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte kann hilfreich sein. Fängt man an, die Verwandten zu befragen, kommen spannende Puzzleteile zum Vorschein. Vor meiner ersten Aufstellung telefonierte ich mit meiner Oma. Für den vorbereitenden Fragebogen kamen wir darauf zu sprechen, ob sie Fehlgeburten gehabt habe. "Ja, da war mal was…“" war ihre Antwort. "Kann sein, aber das zählt ja nicht." Es zählt doch. Und es war das erste Mal, dass sie darüber sprach. Ein absoluter Gewinn für die Familie.

Im Laufe der Zeit lernte ich noch mehr. Dass der Umstand, dass meine Oma eine Kriegsvertriebene ist, die als junge Frau aus Danzig fliehen musste und ihre Heimat verlor, eben mehr ist als eine Fußnote in der Familiengeschichte. Die Massenvergewaltigungen der Roten Armee hat sie miterlebt. Sie hat mir davon erzählt, vielleicht, weil ich angefangen hatte, nachzufragen. Es waren nur wenige Sätze am Kaffeetisch, die den Schrecken skizzierten.

Traumalösung durch die Enkelin

Später hatte ich während der Weiterbildung ein Wochenende mit dem Themenschwerpunkt Traumata. In meiner Familienaufstellung ging es um meine Oma. Kurz zum Verständnis, wie so etwas abläuft: Der:diejenige mit dem Anliegen wählt zu Beginn der Aufstellung Stellvertreter:innen aus, die er:sie ganz nach Gefühl im Raum platziert. Schon das gibt oft ein gutes Bild der Situation. Stehen die Personen weit entfernt und voneinander abgewandt, oder sind sie sich zugeneigt? Dann interagieren alle ihren Impulsen folgend. Das Erstaunliche: Die Impulse kommen, manchmal mit Wucht. 

Ich hatte gerade eine Frau stellvertretend für meine Oma im Raum platziert, da durchfuhr mich schon eine körperliche Reaktion, wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Ich fing am ganzen Körper an zu zittern. Meine Zähne klapperten so laut aufeinander, dass es im ganzen Raum zu hören war. Ich war mir dessen bewusst, fand es absurd, was geschieht – konnte aber absolut nichts dagegen tun. Heute weiß ich, dass man das "neurogenes Zittern" nennt, manche Traumatherapeut:innen lösen es durch gezielte Übungen aus, um die Spannungen der Traumata abzubauen. Minutenlang floß es einfach aus mir heraus.

Die Stellvertreterin meiner Oma hingegen stand starr und blicklos. Im Laufe der Aufstellung kamen Stellvertreter für die russischen Soldaten dazu. Und für die Toten, auf beiden Seiten. Der Anblick war unglaublich: Der Boden war bedeckt mit Menschen, die russischen Soldaten, die eben noch bedrohlich gewirkt hatten, weinten, die Frauen weinten, mir klapperten immer noch die Zähne – doch nach und nach kehrte Ruhe ein. Das Zittern hörte auf. Alle entspannten sich, es wurde irgendwie… friedlich.

Das Ziel ist mehr Frieden

Dieser Frieden zog in mein Inneres ein. Erst hinterher, im Vergleich, merkte ich, dass eine unbestimmte Trauer von mir abgefallen war. Es mag Zufall sein, aber nachdem ich Jahre lang in punkto Beziehungen ziemlich danebengegriffen hatte, lernte ich wenige Monate nach der Aufstellung meinen heutigen Mann kennen. Die neue Leichtigkeit blieb.

Und meine Oma? Der schenkte ich später eines dieser Bücher, die mit gezielten Fragen dazu aufforderten, Erinnerungen aus dem eigenen Leben aufzuschreiben: "Oma, erzähl‘ mal". Meine Tante und mein Vater schrieben ihre Antworten für sie auf, weil sie das nicht mehr gut konnte mit Gicht geplagten Fingern. Nur eine Seite füllte sie selbst. Ganz hinten im Buch schrieb sie ihre Erfahrungen mit den Soldaten der Roten Armee auf. Es war das erste Mal, dass alle in der Familie davon erfuhren. Meine Oma war da 92 Jahre alt, im Jahr darauf starb sie. Ich stelle mir gerne vor, dass diese Offenbarung am Lebensende auch ihr ein Stück Frieden gebracht hat.

Brigitte

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