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Aha-Momente Wenn ich mich das nächste Mal verloren fühle, möchte ich daran denken

Psychologie: Abbildung einer Frau im Wasser
© dreamalittledream / Adobe Stock
Als Menschen neigen wir dazu, stets nach dem Sinn und dem Warum zu fragen. Kann es in manchen Situationen hilfreicher sein, genau das nicht zu tun? Unsere Autorin denkt, vielleicht ja.

Vor einiger Zeit saß ich draußen in einem Café. Es war einer der letzten schönen, warmen Nachmittage dieses Jahres. Einer dieser Tage, die uns der Sommer als Zugabe gegeben hat und an denen eigentlich schon niemand mehr mit T-Shirt-Wetter gerechnet hatte. Ich saß in diesem Café, las ein Buch und trank ein Bier. Nach einer Weile, ich hatte es gerade geschafft, mich in mein Buch zu vertiefen und mein Bier war ungefähr halb leer, kam eine Biene angeflogen. Ein ungewöhnliches oder zumindest seltenes Ereignis für diese Jahreszeit. Sie setzte sich auf den Rand meines Bierglases, blieb dort allerdings nur wenige Sekunden, ehe sie auf die verführerisch riechende Flüssigkeit zuflog und sich unversehens darin schwimmend und gefangen fand. 

Mir fiel in dem Moment nichts Besseres ein, als zur Theke zu laufen und etwas zu holen, mit dem ich dem Tier aus dem Bier helfen könnte. Ich fand dummerweise keine Löffel, aber immerhin Strohhalme, von denen ich einen nahm und zu meinem Platz zurück eilte. Die Biene war noch am Leben, wirkte allerdings schon sehr geschwächt: Sie zappelte nur leicht mit den Beinen und hatte erhebliche Schwierigkeiten, auf dem vermaledeiten, runden Strohhalm Halt zu finden, den ich ihr zur Rettung anbot. Nach einigen Versuchen fand sie ihn aber und ich konnte sie aus ihrem Biergrab befreien und auf den Tisch setzen. 

Dort bot sie zunächst einen traurigen Anblick: Die Flügel hingen herunter, ihr eigentlich gelb-schwarzer Pelz war durchnässt und verklebt und gab sie gar nicht mehr als Biene zu erkennen. Ich dachte schon, das war's, mein Bier war der Biene Verhängnis. Irrtum: Nach wenigen Minuten, drei vielleicht oder vier, war die Biene im Schein der Sonne auf meinem Tisch getrocknet. Ihre Flügel hingen nicht mehr schwer herunter und sie sah aus, als wäre sie niemals in mein Bier gefallen. Es verging ungefähr eine weitere Minute, ehe die Biene abhob und davon flog. 

Verzögerter Aha-Moment: Die Biene konnte nicht einfach ertrinken

Nach meiner Begegnung mit der Biene habe ich wochenlang nicht mehr daran gedacht. An jenem Nachmittag im Café war ich froh, die Biene davonfliegen zu sehen, und habe mich wieder in mein Buch vertieft. Nun aber, vor ein paar Tagen, auf dem Weg zur U-Bahn ins Büro, kam die Erinnerung erneut in mein Bewusstsein und dazu gesellte sich ein Gedanke, der mich spontan innehalten ließ: Für diese Biene gab es offenbar Gründe zu überleben. Gründe, die genügten, um die Biene kämpfen und mich zur Theke eilen und einen Strohhalm holen zu lassen. Nagelt mich da bitte nicht fest, aber ich bezweifle, dass die Biene noch ein Date hatte oder eine Formel entwickeln wollte, um Krebs zu heilen. Es war Herbstanfang, was haben Bienen da zu tun: Im Kollektiv das Nest wärmen? Sowieso abtreten und jungen Bienen Platz machen? Vielleicht war es für diese Biene nach ihrem Bad in meinem Bier ihr letzter Flug, aber das war egal: Dass sie einfach so ertrinken könnte, kam nicht in Frage. Weder für sie noch für mich. Ich weiß nicht, wieso, aber ich habe das Gefühl, ich könnte daraus etwas lernen. 

Die Last der Fragen

Ich bin zwar ein Mensch, keine Biene, und war nie, dem Ertrinken nahe, in einem Bierglas gefangen. Mein Leben war nie so akut gefährdet wie das dieser Biene. Allerdings habe ich mich schon gefühlt, als würde ich schwimmen. Als müsste ich kämpfen und meine letzten Kräfte mobilisieren, um nicht unterzugehen. Einsamkeit, Verlust, Trauer, Existenznot, Überforderung. Die typischen Biergläser, in die wir als Menschen so fallen können. 

Meist habe ich mir gerade in solchen Phasen sehr deutlich die Sinnfrage gestellt und nach Gründen und Motivation gesucht: Wozu bin ich da? Was bedeutet (mir) mein Leben? Warum und wofür lohnt es sich, zu kämpfen? Schließlich heißt es ständig: "Wir brauchen einen Purpose, um zufrieden zu sein." Allerdings hat mich diese Suche nach Sinn oder Purpose in meinen schwierigen Zeiten in der Regel mehr gekostet und frustriert als beflügelt und überzeugt. Wenn mir kalt ist, reicht mir die Vorstellung von der Sonne eben nicht, um mich zu wärmen. Wenn ich in mir nichts fühle, das ich geben kann, sehe ich keinen unverzichtbaren Beitrag, den ich leisten könnte. Stattdessen sehe ich eine Wüste, die mit einem Sandkorn weniger im Prinzip genau dieselbe wäre. 

Ich frage mich, ob es mir in solchen Situationen nicht leichter fiele zu schwimmen, wenn ich dabei an meine Biene denken würde: Nicht nach Gründen oder Motivation suchen, sondern davon ausgehen, dass es welche gibt und dass ich keine besseren brauche. Keine großen Fragen stellen, sondern mich darauf verlassen, dass ich nicht ertrinken darf. Nicht jetzt, nicht hier, nicht so. Egal, was danach kommt. 

Natürlich kann die Biene fliegen, summen, Pollen sammeln und vieles mehr, was ich als Mensch nicht kann. Umgekehrt gilt das Gleiche: Ich kann schreiben, Bratkartoffeln zubereiten und im Gesicht eines anderen Menschen lesen, ob er sich ekelt oder freut. Wir sind völlig verschiedene Wesen mit unterschiedlichen Interessen, Fähigkeiten und Bedürfnissen. Womöglich kann ich mein Leben nicht wie ihres betrachten und Kämpfe austragen, ohne zu fragen, warum, selbst wenn ich dadurch vielleicht nur noch einen letzten Flug antreten kann. Ich würde es aber gerne mehr probieren. Besonders, wenn mir jemand einen Strohhalm reicht. 

Brigitte

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