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"Große-Schwester-Effekt" Warum ist die Rolle der ältesten Schwester so prägend?

"Große-Schwester-Effekt": Zwei Schwestern tanzen in der Natur
© ryrola / Adobe Stock
Wie ist es, das älteste weibliche Geschwisterkind zu sein? Hat es eine Auswirkung auf Beziehungen, den Charakter oder die Berufswahl? Ein Thema, über das sich derzeit unzählige Frauen in den sozialen Medien austauschen.

Mein Leben lang habe ich mir eine Schwester gewünscht. Leider ging dieser Wunsch nie in Erfüllung. Ich bin und bleibe ein Einzelkind – was ich meinen Eltern lange übelgenommen habe. Sicher wäre ich ein anderer Mensch, hätte ich ein Geschwisterchen bekommen. Was gab es stattdessen? Einen Hund!

Wofür ich ihnen jedoch bis heute dankbar bin: Unsere Tür stand immer offen für meine Freundinnen. Jederzeit konnten sie bei mir übernachten und mit uns in den Urlaub fahren. Spannenderweise hatten viele von ihnen kleine Schwestern. Wodurch ich jahrelang beobachtete, was die Verantwortungsrolle der großen Schwester ausmacht …

#EldestDaughterSyndrome

Was ich heute überwiegend als zutreffend empfinde: Große Schwestern lassen sich bei den Eltern oft regelmäßiger blicken, besorgen die Geburtstagsgeschenke und bieten (wo sie nur können) ihre Hilfe an. Sie geben ungern Dinge ab und denken und planen permanent für andere mit. Ein spannendes Thema, das gerade auch auf TikTok viel thematisiert wird.

Unzählige Videos werden im Netz geteilt mit dem Hashtag #EldestDaughterSyndrome. Auch bekannt als sogenanntes "Big-Sister-Syndrome" oder den "Große-Schwester-Effekt". Dabei geht es darum, wie viel Verantwortung die Rolle als älteste Schwester mit sich bringt. Nicht nur viele Frauen, auch junge Mädchen fühlen sich verstanden und tauschen sich gerade in den sozialen Medien dazu aus. 

Die wichtigste Prägung findet in der Kindheit statt

Für die Diplom-Psychologin und Autorin Stefanie Stahl sind das Verbundenheitsgefühl und der starke Wunsch nach Austausch vermutlich nicht überraschend. In einem Interview mit "Elle" erklärt sie das "Eldest-Daughter-Syndrome" und wie viel mehr von den erstgeborenen Frauen oft erwartet wird. "In der Kindheit finden die wichtigsten Prägungen statt, wir entwickeln also Programme, wie wir sind und wie wir sein sollen, um eine Bedeutung im Leben von anderen zu haben."

Es fängt mit der Hausarbeit an und geht über in die emotionale und die Care-Arbeit. Eine Erwartung an Frauen, die auch noch immer in der Gesellschaft stark ausgeprägt ist. Diese Dinge werden besonders oft großen Schwestern früh beigebracht. Klar, in Notfällen, wenn die Eltern verhindert sind, müssen sie einspringen. 

Das macht die Position als Erstgeborene so prägend

Ein großer Unterschied seien die Glaubenssätze, die große Schwestern oft entwickeln und manifestieren, erklärt die ausgebildete Psychotherapeutin. Oft seien es Glaubenssätze wie diese, die sie ein Leben lang mit sich herumtragen. "Ich muss andere unterstützen" oder "Ich darf keine Belastung sein". Natürlich können diese Annahmen unterschiedlich stark ausgeprägt sein und hängen enorm von den familiären Verhältnissen ab, in denen sie aufwachsen.

In einigen Fällen, wenn ein Elternteil beispielsweise krank ist oder die Familie finanziell nicht gut aufgestellt, können große Schwestern oft noch extremere Glaubenssätze verinnerlichen. Perfektionismus und fehlende Grenzen können die Folge sein und Sätze wie: "Ich muss perfekt sein" oder "Ich darf keine eigenen Grenzen haben", könnten sich im Erwachsenenalter tief verankern. 

Manifestierte Glaubenssätze ziehen sich durch alle Beziehungen

Selbstverständlich gibt es positive als auch negative Glaubenssätze. Und die hartnäckigen Annahmen, die in der Kindheit eingeprägt wurden, werden besonders große Schwestern häufig nicht leicht los. Die Folge: Ob in der Partnerschaft, in der Familie oder in Freundschaften – dieses stark ausgeprägte Verantwortungsgefühl kann schnell zur Überforderung oder sogar zum Burn-out führen. Das liege daran, dass Erstgeborene in der Kindheit früh lernen, die Fühler auszustrecken, wenn jemand Hilfe benötigt. Dadurch wächst das Bedürfnis, wertgeschätzt zu werden und alle Erwartungen möglichst zu erfüllen. Viele bemerken dabei oft nicht, dass sie ihre eigenen Grenzen überschreiten.

Der positive "Große-Schwester-Effekt"

Es kann auch eine gute Auswirkung haben, die Älteste zu sein. Besonders auf der beruflichen Ebene. Bereits vor vielen Jahren haben Psycholog:innen erforscht, dass auch das Verhältnis zu unseren Geschwistern Einfluss darauf hat, wie wir uns im Berufsleben verhalten und welchen Job wir überhaupt ergreifen. Laut Stefanie Stahl seien Erstgeborene zum Beispiel durch ihre Erfahrungen und Erlebnisse häufig gut in Führungspositionen und könnten in diversen komplexen Situationen leicht den Überblick behalten. Zudem sagt sie, dass sie oft emphatisch seien und ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen besäßen. "Wenn das innere Kind Heimat gefunden hat, kann die Erwachsene Eldest Daughter diese Fähigkeiten einsetzen, wenn und wann sie es möchte."

Geschwisterbeziehung wirkt sich auf die Berufswahl aus

Auch der Hamburger Kinderpsychiater Michael Schulte-Markwort geht davon aus, dass bereits als Kind durch unsere Geschwisterbeziehungen festgelegt wird, wie wir später im Beruf mit anderen Kolleg:innen rivalisieren. Und der amerikanische Psychologe Frank Sulloway stellte eine Theorie auf, dass ältere Geschwister beispielsweise oft einen konservativen Beruf ausüben und jüngere sich kreative Jobs suchen. 

Darum ist es wichtig, in sich hineinzuhorchen

Letztendlich sei es erstens gut, alte Glaubenssätze aus der Kindheit für sich selbst aufzulösen oder zu bearbeiten und zweitens Grenzen klar zu setzen. Was so viel bedeutet, wie die Fühler nicht immer nach Hilfsbedürftigkeit auszustrecken. Es lohnt, tief in sich hineinzuhorchen, ob Unterstützung im Umfeld aufopferungsvoll ist und man womöglich die eigenen Energiereserven aufbraucht oder ob man oft Hilfe anbietet, um das eigene Selbstwertgefühl zu stärken. 

Fazit: Ob ich meinen Eltern heute dankbar bin, dass sie mich nicht zur großen Schwester gemacht haben? Ich würde sagen, es ist, wie es ist. Alles hat Vor- und Nachteile. Aber ich tendiere dazu, dass Geschwister zu haben (fast immer) eine Lebensbereicherung ist.

Verwendete Quellen: elle.de, unternehmer.de, psychologytoday.com

Brigitte

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