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Von der Bankerin zur Bestatterin "Das ist meine Lebensaufgabe, diese ungelebte Trauer"

Porträt Christine Kempkes
© Eve Sundermann-Biesen
Christine Kempkes folgte ihrem Herzen. Sie verließ die sichere Bankbranche, um als Trauerbegleiterin und Bestatterin Menschen zu unterstützen – und gute Abschiede zu ermöglichen.

Christine Kempkes strahlt eine besondere Gelassenheit aus. Sogar im Videogespräch ist ihre beruhigende Präsenz spürbar. Sie sitzt in einem hellen Raum, pinke Bluse, rosa Wangen, im Hintergrund liegt friedlich ihr Praxishund. Heiter und klar wirkt sie. Man kann sich gut vorstellen, wie sie als Bestatterin und Trauerbegleiterin Menschen durch schwere Lebensphasen führt.

Schwerer vorstellbar ist, dass sie zuvor 27 Jahre lang im Bankwesen gearbeitet hat. Baufinanzierung, Personalwesen, damit hatte sie zu tun. Auch mit Führungskräfteentwicklung und Gesundheitsmanagement. Ein sicherer Job, gut bezahlt, hoch angesehen. Was ist passiert?

Dem eigenen Gefühl folgen

Christine Kempkes' Weg von der Bankerin zur Bestatterin ist ein Weg des Herzens. Einer, der inspiriert und ermutigt, sich selbst kennenzulernen. Kempkes war 46 Jahre alt, als sie den Ausstieg aus der Bankbranche wagte. Es war keine Lebenskrise oder Krankheit, die sie zu diesem Schritt trieb. Es waren schlicht der Wunsch, zu wachsen, und das Gefühl, nicht weitermachen zu wollen wie bisher. "Ich bin sehr intuitiv vorgegangen und hatte ein großes Vertrauen, dass sich die Puzzleteile ineinanderfügen werden", sagt die 54-Jährige.

Zusammen mit einer befreundeten Kollegin ging sie den Schritt in die Selbstständigkeit. Sie eröffneten eine Firma, die Führungskräfte zu Resilienz und Gesundheit am Arbeitsplatz coachte.

Verluste sind bei allen Menschen Thema

Das war er aber noch nicht, ihr Herzensweg. Sie kam ihm schrittweise näher: In den Einzelcoachings, die sie parallel anbot, kamen Menschen in Umbruchsituationen, die mit dem Thema Verlust zu tun hatten. "Es ging um den Verlust des Arbeitsplatzes, den Auszug von Kindern, aber auch um Scheidungen und dadurch einen regelrechten Identitätsverlust", sagt Kempkes. "Viele fragten sich: Wer bin ich ohne diesen Menschen, ohne diesen Job, ohne diese Rolle?" Während der Coachings kamen oft verdrängte emotionale Themen an die Oberfläche, etwa unverarbeitete Fehlgeburten.

Kempkes spürte, wie das Thema sie anzog. Trug sie nicht selbst schon ihr Leben lang eine unbestimmte Trauer in sich, wie einen Kloß in der Magengegend? Wo kam das her? Kempkes entschied sich für eine Ausbildung zur Trauerbegleiterin.

Trauer als Tabu

In dieser Zeit starb ihr Vater. Zwei wesentliche Erfahrungen trugen dazu bei, dass aus der ehemaligen Bankerin und mittlerweile begeisterten Coachin eine einfühlsame Bestatterin wurde. Zum einen spürte sie, dass Menschen in ihrem Umfeld nicht gut damit umgehen konnten, wenn sie ihre Trauer zeigte. Als sie im klassischen Konzert saß, bewegt von den Erinnerungen an ihren kürzlich verstorbenen Vater, riefen ihre Tränen bei anderen Unbehagen hervor. Kempkes nahm erstaunt wahr: Trauern ist ein Tabu.

Zum anderen war sie bewegt von der wunderbaren Bestatterin, die ihre Familie begleitet hatte. "Ich war beeindruckt, mit welcher Gelassenheit, Ruhe und Sicherheit sie uns durch diese schwere Zeit geführt hat", sagt Kempkes. "Sie war sehr achtsam, nahm genau wahr, was wir brauchten." Der Vater war zu Hause verstorben, die Bestatterin hatte arrangiert, dass Familie und Freunde die Gelegenheit bekamen, ihn zu verabschieden.

Es war in dieser Zeit, als Christine Kempkes morgens nach dem Aufstehen merkte: Ich habe ganz viele Ideen für die Trauerarbeit, aber immer weniger Verbindung zum Thema Führungskräftetraining. Da war sie 49 Jahre alt.

Das eigene Lebensthema entdecken

Ein Tag im Hochsommer brachte den Umbruch. Es war der 14. Juli 2018, Kempkes saß auf ihrer Terrasse und haderte. Sie wollte das Führungskräftetraining aufgeben, wusste aber nicht, wie sie den Mut finden sollte, das ihrer Geschäftspartnerin zu sagen – und mit welchem Brotjob sie ihren Kühlschrank füllen sollte. Als sie sich mal wieder fragte: "Was ist mein Weg?", fiel ihr auf: "Heute ist der 60. Geburtstag von Elisabeth, meiner tot geborenen Schwester." Sofort folgte der Gedanke: "Das ist meine Lebensaufgabe, diese ungelebte Trauer meiner Eltern, der Menschen allgemein."

Plötzlich wusste sie, woher der Kloß kam, den sie immer gespürt hatte: Es war die verdrängte Trauer ihrer Mutter um deren erstes Kind. Die Mutter kam mit dickem Bauch ins Krankenhaus und kehrte ohne Baby zurück. So sei das halt, reagierten die Leute damals. Du bist ja noch jung, sagten sie. Damit war das Thema erledigt. Aber die ungelebte Trauer blieb in der Familie spürbar.

Als Bestatterin unmittelbar helfen

An diesem Sommertag auf der Terrasse wurde ihr klar, was ihr neuer Brotjob sein sollte. Sie googelte Stellenanzeigen als Bestatterin – und wurde sofort fündig. "Das Bestattergewerbe deckt den eigenen Bedarf nicht durch die Auszubildenden", sagt sie. "Es tut dem Gewerbe gut, lebenserfahrene ältere Menschen als Quereinsteiger anzustellen." Von da an arbeitete sie in Teilzeit als Bestatterin, den anderen Teil als Trauerbegleiterin. Sie merkte sofort, dass sie hier richtig war. "Ich liebe es, Menschen in dieser Phase zu begleiten und ihnen einen guten Abschied zu ermöglichen."

Kempkes ist eine Bestatterin, die sogar mit den Toten respektvoll spricht. "Ich habe den Toten immer erklärt, was ich gerade mache, dass ich sie jetzt aus dem Kühlraum raushole und in den Abschiedsraum fahre, wo die Tochter noch einmal zu Besuch kommt. Für mich sind die Toten immer noch Menschen, keine Sache."

Als Trauerbegleiterin begegnete sie den Menschen oft erst Monate oder Jahre nach dem Verlust. Als Bestatterin konnte sie unmittelbar dazu beitragen, dass gute Abschiede gelingen und Trauer gesund gelebt wird – und kreativ. 

Bestattung in der Luft

Die vielen Möglichkeiten für die Phase der Abschiednahme aufzuzeigen, war die Motivation für ihr Buch "Abschied gestalten. Die letzte Lebensstrecke bewusst erleben: Was am Ende wirklich zählt." Dazu gehören die Phase des Sterbens, aber auch die Zeit zwischen Tod und Beisetzung und natürlich die eigentliche Bestattung.

"Eine Trauerfeier muss nicht in der Trauerhalle oder Kirche stattfinden", sagt Kempkes. "Es sind alle möglichen Orte denkbar, das wissen viele gar nicht. Für das Bandmitglied kann der Abschied in seinem Probenraum stattfinden, für den Sportler in seinem Vereinsheim oder auf dem Golfplatz."

Sie hat mal eine Mutter im Grenzgebiet zu den Niederlanden betreut, die für ihren Sohn eine Luftbestattung ausgerichtet hat. In den Niederlanden ist das erlaubt: Die Asche wird in einen Heliumballon gefüllt. Der Ballon steigt auf und zerplatzt in etwa 20 Kilometern Höhe. Die Asche wird vom Wind in alle Himmelsrichtungen getragen.

Trauerkultur, mitten in der Gesellschaft

Seit Kempkes Bücher veröffentlicht und ihren Podcast "Liebevoll Trauern" bespielt, bekommt sie immer mehr Anfragen zum Thema Trauerbegleitung. So viele, dass sie nun ihre Teilzeitstelle als Bestatterin aufgegeben hat, weil es nicht mehr zu schaffen war. Sie bildet jetzt andere Menschen in der Trauerbegleitung aus – und hilft Unternehmen dabei, eine gute Trauerkultur zu etablieren.

Ein Stück weit schließt sich also der Kreis, sie arbeitet wieder mit Führungskräften. Aber jetzt mit voller Motivation zu ihrem Herzensthema: Sterben, Tod und Trauer dorthin zu holen, wo sie hingehören, in die Mitte der Gesellschaft.

Brigitte

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