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In diesem Viertel halten die Alleinerziehenden zusammen 💪

Dulsberg: Kind mit Mutter
© Getty Images
Der Hamburger Stadtteil Dulsberg ist eigentlich ein sozialer Brennpunkt: Armut, Arbeitslosigkeit, winzige Wohnungen. Trotzdem fühlen sich gerade Alleinerziehende hier gut aufgehoben. Wie kommt das?

Im "Problemviertel" Dulsberg leben überdurchschnittlich viele Alleinerziehende - sie fühlen sich wohl hier

Da war zum Beispiel dieser Morgen, als Mandy Möller und ihre zehn Monate alte Tochter mit Fieber aufwachten und Möller dachte: Den Tag überstehe ich nicht, so elend, wie ich mich fühle. Die 30-Jährige rief zwei Nachbarinnen an, Single-Mütter wie sie. Die eine brachte sofort Suppe. Die andere bot an, eine Stunde zu babysitten. "Das hat mich gerettet", sagt Möller.

Oder der Abend, als Sabine Thiessen*, 40, ebenfalls alleinerziehend, mal wieder Spätdienst hatte und es nicht schaffte, ihre Kinder vom Spielnachmittag in der Elternschule abzuholen. Da brachte die Schulleiterin die zwei kurzerhand selbst nach Hause. Für die Selbstverständlichkeit, mit der sie das tat, ist Thiessen ihr noch heute dankbar.

Wer wissen will, was Solo-Eltern brauchen, kann Studien wälzen, Experten befragen - oder einfach mal dort hingehen, wo sehr viele von ihnen wohnen: nach Dulsberg. Der Hamburger Stadtteil hat mit 43 Prozent einen der höchsten Anteile von Alleinerziehenden in Deutschland (zum Vergleich: der deutsche Durchschnitt liegt bei 19 Prozent). Fast jedes zweite Kind wächst hier nur mit einem Elternteil auf.

Dulsberg gilt eigentlich als "Problemviertel". 8,5 Prozent Arbeitslose, mehr als jedes dritte Kind ist auf staatliche Hilfe angewiesen. An der Grund- und Stadtteilschule haben 80 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund. Doch fragt man Single-Mütter wie Möller oder Thiessen, wie sie es hier finden, schwärmen die: der Zusammenhalt, die Hilfsbereitschaft!

"Man hat hier einfach so etwas wie eine Ersatzfamilie", sagt Möller. "Genau das ist es, was dir anderswo im Alltag fehlt."

Dulsberg: Großstadtbrennpunkt mit Dorfcharakter

So ein Netzwerk entsteht nicht von selbst, gerade in Vierteln, wo die meisten selbst so viele Sorgen haben, dass oft die Energie fehlt, sich um Probleme anderer zu kümmern. So war es lange auch in Dulsberg. Man lebte nebeneinander her. Das lag auch an den Wohnungen in den schlichten Backsteinbauten: Die sind zwar günstig - einer der Gründe, warum es hier so viele Alleinerziehende gibt.

Thiessen etwa zahlt nur 570 Euro warm. Aber sie sind auch klein, im Schnitt 53 Quadratmeter. Für Treffen mit Nachbarn bleibt da kaum Platz. Für Café-Besuche wiederum fehlt oft das Geld - und Familien das Verständnis der anderen Gäste für herumtollende Kinder. "Die wichtigste Frage war daher: Wie kriegen wir die Menschen zusammen?", sagt Jürgen Fiedler. Der Diplom-Soziologe leitet das Stadtteilbüro von Dulsberg. Seit 1992 laufen hier, im Erdgeschoss eines Wohnhauses nahe der Kirche, die Fäden zusammen für die Wandlung vom Großstadt-Brennpunkt zum Kiez mit Dorfcharakter. Damals startete Hamburg sein erstes Stadtteilentwicklungsprogramm, und die Richtung war schnell klar: Dulsberg brauchte Orte, an denen man sich unverbindlich treffen konnte - zum Reden, Rat holen, Freundschaft schließen.

Vorbildlich: In Dulsberg gibt es 50 Einrichtungen und Treffpunkte

Ein Kreis aus Sozialarbeitern, Kirchenvertretern und Bürgern begann, solche Räume zu schaffen: Nachbarschaftscafés, Kulturzentren, Mutter-Kind-Treffs. Alleinerziehende standen gar nicht mal im Fokus. Doch sie profitierten am meisten.

Mit rund 50 Einrichtungen hat Dulsberg heute eines der dichtesten Netzwerke für Familien in Hamburg. Da ist der Nachbarschaftstreff , in den Mandy Möller mit ihrer Tochter flüchtet, wenn ihr sonntags zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. Oder die Elternschule mit dem gegenüberliegenden Eltern-Kind-Haus Villa Dulsberg, wo Sabine Thiessen Rat fand, als sie nach ihrer Scheidung nicht mehr weiterwusste. Auf dem Gelände der Grund- und Stadtteilschule wiederum ist ein Betreuungskosmos aus Frühstückstafel, Ganztagsschule, Haus der Jugend und schuleigenem Sportverein entstanden, in dem Kinder, wenn nötig, auch mal von sechs bis 18 Uhr umsorgt werden.

Alle Probleme werden früh angepackt

Eine heile Weltist Dulsberg natürlich trotzdem nicht. Wenn das Geld so knapp ist, dass es nur für Toastbrot reicht, wie bei Sabine Thiessen vor drei Jahren, hilft der schönste Familientreff nichts. Und wenn sich eine Mutter wie Mandy Möller nicht mehr in den Park traut wegen der Drogendealer, die da neuerdings sitzen, kann das bunte Miteinander auch nerven. Auf Rat einer Nachbarin will Möller das Thema demnächst im Stadtteilbüro ansprechen. Denn das ist dann doch der Punkt, der Dulsberg von anderen Vierteln unterscheidet: Wenn es Probleme gibt, packt man sie an. Am besten möglichst früh. Zwei Gremien, ein Arbeitskreis mit Vertretern der sozialen Einrichtungen und der Stadtteilrat, in dem Bewohner neben Ladenbesitzern und Polizisten sitzen, treffen sich dafür alle ein bis zwei Monate. "Seismografen des Viertels", nennt Fiedler sie.

Eine "Stadtteilmutter" steht alleinerziehenden Müttern zur Seite

Für die, die sich trotzdem noch verloren fühlen, kommt in das Familiencafé des SOS-Kinderdorfs jeden Dienstag Anna Roca*. Die 27-Jährige, drei Kinder, alleinerziehend, mosambikanische Wurzeln, ist die erste Stadtteilmutter von Dulsberg. Als geschulte Nachbarschaftshilfe nimmt sie Mütter an die Hand, die nicht selbst zu den Beratungsstellen finden. Die meisten werden ihr über Ärzte, Kitas oder andere Einrichtungen vermittelt.

Doch auch in die Café-Sprechstunde kommen Frauen, die Tipps brauchen, viele alleinerziehend. Denen erzählt Roca dann gern von sich. Um Mut zu machen. "Sie sollen merken: Als Single-Mutter muss sich keine schämen." Roca selbst wohnt inzwischen im Nachbarviertel, aufgewachsen ist sie aber in Dulsberg - und will am liebsten wieder zurück. Doch eine Wohnung zu finden ist schwer. Nicht weil die Mieten explodieren; dank engem Kontakt zwischen Stadtteilbüro und Wohnungsbauunternehmen sind die nach wie vor niedrig. Aber es werde einfach nichts frei, sagt Roca: "Wer hier wohnt, will nicht mehr weg."

*Der Name wurde von der Redaktion geändert.

Dulsberg ist mit 120 Hektar Fläche Hamburgs kleinster Stadtteil - und der am dichtesten besiedelte: 17 422 Menschen leben hier, rund jeder fünfte hat nicht-deutsche Wurzeln. Ein großer Teil der Wohnungen stammt noch aus den 1920er-Jahren. Damals konzipierte man das Viertel als Neubau-Arbeitersiedlung mit grünen Innenhöfen und Fußwegen, die die Höfe verbinden. Auch diese offene Architektur fördert heute das Miteinander.

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© Family Unplugged
BRIGITTE 2/2019

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