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Mütter in Ost und West: Wie die Geschichte sie prägt

25 Jahre nach dem Mauerfall fragen sich zwei Mütter aus Ost und West, was sie eint, was sie immer noch trennt - und wie sie selbst von ihren Müttern beeinflusst wurden.

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Die West-Mutter

Für Nina Massek aus Berlin war immer klar, dass sie nach der Geburt ihrer zwei Kinder wieder arbeiten will - was ihre eigene Mutter bis heute nicht verstehen kann. Warum sie die Mütter aus dem Osten manchmal um ihre starken weiblichen Vorbilder beneidet, schreibt sie in ihrem Brief an Henrike.

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Die Ost-Mutter

Henrike Voigt blieb nach der Geburt ihrer Kinder zu Hause und ist in Dresden damit eine Exotin. Ihre eigene Mutter hat immer gearbeitet, man sah sich nur zum Abendessen. Warum sie das System "Vollzeit arbeitende Mutter" oft hinterfragt hat, schreibt sie in ihrem Brief an Nina.

Liebe Henrike,

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25 Jahre ist es nun her, dass die Mauer fiel und wir uns auf den Weg der Wiedervereinigung machten. Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Südfrüchte. Was genau eine gute Mutter sein soll, war fest in unseren (westdeutschen Köpfen) verankert. Die Mutter soll mindestens drei Jahre beim Kind sein, danach eventuell Teilzeit arbeiten. Alle Konzepte, die aus der DDR kamen, waren dagegen fragwürdig. Eine Mutter, die Vollzeit arbeitet und ihre Kinder ab dem Kleinkindalter in die Fremdbetreuung gibt? Kollektives und zwanghaftes "aufs Tröpfchen setzen"? War doch alles sozialistische Indoktrination und schädlich, oder?

Als "Wessi" habe ich heute viele Freundinnen und Kolleginnen aus dem früheren Osten, die ich um eines sehr beneide: ihre Sozialisation. Ich bin übrigens keine heimliche westdeutsche Ostalgikerin. Dennoch:

Du bist mit einer berufstätigen Mutter aufgewachsen, für die (Vollzeit-)Arbeit und Muttersein normal war. Ihr heutigen Mütter aus dem Ostteil des Landes hattet starke, weibliche Vorbilder vor Augen. Ist das nicht ein echter Standortvorteil gegenüber uns Müttern aus dem Westen? Zumindest für diejenigen wie mich, die berufstätig sein wollen und mit einer komplett gegensätzlichen Ideologie aufgewachsen sind, von der es sich auch erst zu befreien gilt.

Sicher, es gab nicht wirklich freie Berufswahl in der DDR, eine höhere Schulbildung und Studium das Privileg der Linientreuen. Aber finanzielle Unabhängigkeit und berufliche Gleichberechtigung von Müttern war doch kein ferner Wunschtraum sondern eher Alltag, oder?

Meine westdeutsche Mittelschichts-Kindheit der 1980er Jahre war geprägt von einer Mutter, die selbstverständlich zu Hause blieb, als ich zur Welt kam und dann sechzehn Jahre Hausfrau war. Was von allen, auch von meinem Vater, so gewünscht war. Sie nahm den Beruf erst wieder auf, als meine Eltern sich scheiden liessen. "Für Deine Mutter ist es nicht leicht, wieder arbeiten gehen zu MÜSSEN", hörte ich damals von ihrer besten Freundin. In ihrem alten Beruf, den sie sehr gemocht hat, konnte sie nach einer so langen Pause nicht mehr arbeiten und ihre letzten Berufsjahre waren eher ein Arrangement.

"Dass ich nach der Geburt meiner Kinder arbeite - für meine Mutter unbegreiflich"

Dass ich aufs Gymnasium gehen soll, um danach zu studieren und einen "guten Beruf" zu erlernen, wurde von meiner Mutter nie angezweifelt, sie unterstützte mich auch darin. Für mich war nach der Geburt meiner Kinder klar, dass ich arbeite und auch nur kurz unterbreche, wahrscheinlich auch, weil ich die Geschichte meiner Mutter vor Augen habe. Was für sie offenbar unbegreiflich war.

"Ich weiß gar nicht, warum Du eigentlich Kinder bekommen hast, wenn Du gleich wieder arbeiten gehen willst", sagte mir meine Mutter nach der Geburt meines zweiten Kindes. Ich diskutiere übrigens auch immer wieder mit ihr, ob die Kita meinen Kindern nicht doch vielleicht schadet. Komisch, oder?

Ich kann meine Mutter schon verstehen. Als ich klein war, war die vorherrschende Meinung eben, dass es für eine Mutter genug Arbeit und die wichtigste Aufgabe ist, sich um Haus und Kinder zu kümmern. Für meine Oma war es noch ein Privileg und Statussymbol, Hausfrau zu sein. Das konnte man sich leisten, wenn der Mann einen anständigen Beruf hatte. Alle meine ostdeutschen Mütter-Freundinnen arbeiten selbstverständlich und Vollzeit. Sie erleben auch nicht mehr diese Diskussionen mit ihren Müttern und sind damit eine Generation weiter als wir. Manchmal scheint es mir wie ein ganzes Jahrhundert.

Sozialisation und ein vorherrschendes gesellschaftliches Ideal sind so unglaublich prägend. Wann immer ich auf Dienstreise bin, höre ich meine Mutter sagen: "Und die Kinder betreut jetzt Dein Mann, der Arme?" Und meine Oma würde sagen: "Ich weiß gar nicht, warum Du Dir das antust mit dem Job, Dein Mann verdient doch genug?"

"Ich kann mich an keine vollzeit arbeitende Mutter erinnern"

Sicher, Eure Mütter hatten im DDR-Alltag kaum Spielraum, ihr Leben frei zu gestalten. Aber auch in meiner westdeutschen Kindheit kann ich mich an keine vollzeit arbeitende Mutter erinnern, und wenn es so etwas Exotisches gab, wurde sie bemitleidet und argwöhnisch als egoistische Rabenmutter beäugt. Es ist nicht so einfach, sich vom anerzogenen, gesellschaftlichen Ideal zu lösen, wenn man es selbst anders machen will, oder? Wahrscheinlich geht es heutigen Müttern im früheren Ostteil des Landes, die sich für weniger Beruf und mehr Familie und Kinder entscheiden wollen, genauso. Wie ist das bei Dir?

Trotz aller sich oftmals widersprechenden Ideale, wie man es als Mutter in unserem Land nun machen soll, lässt sich doch heute ein Pluralismus der Lebensmodelle erkennen. Diese Freiheit wird aber leider durch die Intoleranz von uns Müttern untereinander sabotiert. Wenn uns ein Staat nicht vorschreibt, wie wir als Mütter leben sollen, so machen wir es gerne gegenseitig.

Freuen wir uns am heutigen Tag, dass wir nun die Möglichkeit, ja, die Freiheit haben, unseren Lebensentwurf zu wählen.

In diesem Sinne sage ich "Freundschaft" und winke von (West-)Berlin herüber nach Dresden.

Deine Nina

Liebe Nina,

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als Du mich neulich fragtest, ob ich heute, fünfundzwanzig Jahre nach dem Mauerfall, glaube, dass es noch immer große Unterschiede zwischen Ost und West gäbe, gerade in Bezug auf Gleichberechtigung und die Mutterrolle, dachte ich im ersten Moment, das könne doch gar nicht sein! Gerade, weil wir beide - nehmen wir mal uns als Beispiel - ja erst Mütter wurden lange nachdem Deutschland wiedervereinigt wurde. Und rein theoretisch unter den gleichen Bedingungen leben, arbeiten und erziehen. Oder doch nicht?

Du hast Dich gegen das vorgelebte Rollenbild Deiner Mutter entschieden. Ja, und auch ich hadere ebenso mit dem Vorbild meiner eigenen Mutter. Ist es nicht interessant, wie uns unsere unterschiedlichen Vorbilder geprägt haben?

"Ich war nach der Geburt meiner Kinder drei Jahre zu Hause und bin in meinem Umfeld ein Exot."

Ich war nach der Geburt meiner Kinder zwei beziehungsweise drei Jahre zu Hause und bin in meinem direkten Umfeld diesbezüglich ein Exot. In der Tat belegen Studien immer wieder, dass deutlich mehr Frauen in Ostdeutschland relativ früh wieder arbeiten gehen. Und auch wesentlich mehr Mütter in Vollzeit beschäftigt sind. Das kann man mit der gut ausgebauten Betreuungslandschaft erklären oder der Notwendigkeit aufgrund des immer noch existierenden Gehälterunterschiedes zwischen Ost und West, aber möglicherweise ist da noch mehr. Eine vorgelebte Selbstverständlichkeit zum Beispiel.

Ich bin in der DDR geboren. Bereits seit den Fünfzigerjahren war die Gleichstellung von Mann und Frau gesetzlich verankert, galt es als Scheidungsgrund, wenn ein Ehemann die berufliche Weiterentwicklung seiner Frau nicht unterstützte. Laut Ideologie des Marxismus-Leninismus kann die Gleichstellung der Frau nur durch wirtschaftliche Unabhängigkeit vom Mann, und die nur durch die vollständige Integration in den Arbeitsprozess erreicht werden. Lenin sagte, Hausarbeit sein die "Sklavenarbeit der Frauen". Hausfrau war kein anerkannter Beruf. Ich hatte keine "Nadelarbeit" in der Schule, ich hatte "Werken". Ich lernte erst als erwachsene Frau einen Knopf anzunähen, konnte aber bereits im Grundschulalter verschiedene Werkzeuge bedienen. Und meine Schulbücher waren voll mit starken, kämpferischen Frauen: Clara Zetkin, Käthe Kollwitz und Rosa Luxemburg zum Beispiel. Oder Valentina Tereschkowa, die erste Frau im Weltall. All diese Frauen waren Vorbilder und hatten einen großen Einfluss auf das Bild, das ich von einer "vorbildlichen" Frau hatte. Parallel zu den Frauen in meinem Leben. Diese hatten in dem System, in dem ich aufwuchs, die gleichen Rechte und Pflichten wie Männer. Mit dieser Selbstverständlichkeit wuchs ich auf. Ich sah darin nichts Exklusives. Ich war quasi per Geburtsrecht gleichberechtigt.

Und Frauen hatten ja nicht nur das Recht zu arbeiten, sondern auch die Pflicht, ihre Arbeitskraft in den Dienst des sozialistischen Volkes zu stellen. Dabei galt das Prinzip: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Ich arbeitete später in einem Betrieb auf "Akkord", also leistungsbezogen. Und da war es regelmäßig an der Tagesordnung, dass etliche Frauen am Monatsende mehr Geld in der Lohntüte hatten als mancher Mann. Wer sein "Soll" übererfüllte (das betraf die produzierenden Bereiche), der wurde entsprechend reichhaltiger entlohnt.

Meine Mutter bekam mich im Alter von neunzehn Jahren und musste sechs Wochen nach meiner Geburt wieder arbeiten. Die Kinder kamen in der Regel zu dem Zeitpunkt in Kinderkrippen und wurden dort entweder von morgens bis abends oder auch von montags bis freitags betreut. Ich habe viel Zeit mit meinen beiden Großmüttern verbracht. Wenn ich die Attribute "fürsorglich" oder "mütterlich" zuordnen müsste, bekämen meine Omas diese. Ich habe kaum Erinnerungen an Dinge, die meine Eltern mit mir in der Woche gemacht haben. Hausaufgaben habe ich später allein erledigt oder im Schulhort, dann war ich im Hof spielen oder bin in den Sportverein gefahren. Wir sahen uns zum Abendessen.

"Meine Mutter ging sehr gern auf Arbeit. Aber sie hat nicht wirklich die Wahl gehabt."

Meine Mutter ging sehr gern auf Arbeit. Aber selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte sie nicht wirklich eine Wahl gehabt, das darf man nicht vergessen. Die Tage, an denen ich mittags nach Hause kam und sie war schon da und hatte etwas für mich gekocht, gehören zu den besonderen und kostbaren Momenten in meiner Erinnerung.

Als die Mauer fiel und Deutschland wiedervereinigt wurde, habe ich nicht eine Sekunde meine Rolle, meinen Platz in der Gesellschaft, überdacht. Niemals wäre mir der Gedanke gekommen, irgendwer könnte annehmen, ich sei untergeordnet oder benachteiligt aufgrund meines Geschlechts. Ich kann mich auch an keinen Kulturschock bezüglich des tradierten Frauenbildes in Westdeutschland erinnern. Es war vielmehr so, dass ich manchmal dachte, wie gut diese Frauen es doch hätten! So ein schönes Heim, ein Auto, Nutella auf dem Tisch. Und dafür müssten sie noch nicht mal arbeiten! Und auch: Was machen die den ganzen Tag? Dass es bis in die Siebzigerjahre einer westdeutschen Ehefrau untersagt war, ohne die Zustimmung ihres Mannes ein Konto zu eröffnen oder einem Beruf nachzugehen, das habe ich erst sehr viel später erfahren. Diese Abhängigkeit von einem Mann ist unvorstellbar für mich! Apropos Mann: Auch mein Mann ist mit einer Vollzeit arbeitenden Mutter aufgewachsen und musste schon früh im Haushalt mit anpacken: Kochen und Backen lernen, Schuhe putzen, sauber machen. Und zwar selbstverständlich. Manches davon kann er heute noch besser als ich.

Oftmals höre ich von Müttern aus Westdeutschland mit ein wenig Neid in der Stimme, dass wir privilegiert seien aufgrund des geschichtlich gewachsenen und tatsächlich existierenden breit ausgebauten Betreuungsnetzes. Und ja, ich kann mir wirklich nicht vorstellen, welchen Zweck Einrichtungen haben sollen, die über die Mittagszeit schließen oder Öffnungszeiten bis 14:00 Uhr. Auch wird bei uns generell in den Grundschulen ein Früh-und Nachmittagshort angeboten. Ebenso eine Ferienbetreuung.

Und doch sehe ich auch das ein wenig kritisch. Ich habe das System "Vollzeit arbeitende Mutter" oft hinterfragt. Und erstaunlicherweise ist auch meine Mutter mir in ihrer Rolle kein Vorbild. Ich möchte mehr Zeit mit meinen Kindern verbringen als sie mit mir. Ich möchte wichtiger sein als Bezugsperson! Zumal meine Kinder keine emsig sorgenden Großmütter haben, wie ich sie hatte. Mein großer Sohn besucht mittlerweile die achte Klasse und seit er drei Jahre alt ist, gehe ich voll arbeiten. Die Jahre der Kita- und Grundschulzeit waren von permanentem Zeitdruck und schlechtem Gewissen meinerseits geprägt. Meine Mutter hat das System der Fremdbetreuung nie angezweifelt und käme nie auf die Idee, darin etwas Schlechtes zu sehen. Und ich? Ich kenne es aus eigenem Erleben als Kind und als Mutter und blicke kritisch darauf. Ist das nicht seltsam?

Ich halte die Möglichkeit der Entscheidungsfreiheit für die größte Errungenschaft. Aber das Beste wäre, wenn jede Frau in diesem Land unter den gleichen Bedingungen ihre Wahl treffen könnte. Und ohne dafür verurteilt zu werden. Das sollte das Ziel sein. Und dass Mädchen zu Frauen heranwachsen können, ohne über Entscheidungsfreiheit und Gleichberechtigung nachdenken zu müssen.

In diesem Sinne stoße ich mit Dir an auf das 25-jährige Jubiläum!

Deine Henrike

Texte: Nina Massek und Henrike Voigt

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