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Alleinerziehende unter Druck: Was sich endlich ändern muss

Familiensplitting
© Rohappy / Shutterstock
Sie sind bedroht von Armut und von Burnout: Wie kann man alleinerziehenden Eltern gezielt helfen? Die Familienrechtsprofessorin Anne Lenze hat da ein paar Ideen.
Interview: Madlen Ottenschläger

BRIGITTE: Frau Lenze, nur jedes zweite Kind bekommt regelmäßig Unterhalt in der vereinbarten Höhe. Was halten Sie davon, zahlungsunwillige Väter oder Mütter stärker in die Pflicht zu nehmen?

PROF. DR. ANNE LENZE: Der Knackpunkt ist, dass wir nicht wissen, warum diese Eltern nicht zahlen. Es gibt keine Zahlen, keine Studie. Ich sehe das Familienministerium in der Pflicht, hier endlich für Fakten zu sorgen. Denn es macht doch einen Unterschied, ob die Mehrheit nicht zahlen will oder nicht zahlen kann.

Je nach Ergebnis sind dann andere Maßnahmen sinnvoll. Wenn Eltern tatsächlich nicht willens sind zu zahlen, könnte man zum Beispiel konsequenter ihren Lohn pfänden. Auch über Führerscheinentzug kann man durchaus diskutieren.

Und was ist, wenn jemand tatsächlich den Unterhalt nicht zahlen kann?

Ich vermute, dass dies sogar recht häufig der Fall ist: Deutschland hat einen großen Niedriglohnsektor. Auch mit dem Mindestlohn kann kein Unterhalt für ein Kind gezahlt werden. Hinzu kommt, dass gerade bei niedrigen Einkommen die Sozialversicherungsbeiträge stark zu Buche schlagen. Eltern, auch Alleinerziehende, zahlen gleich hohe Sozialversicherungsabgaben, obwohl sie doch die nächste Generation erziehen und dafür sorgen, dass dieses System in Zukunft weiterbetrieben werden kann. Auch steuerlich könnte man gerade Alleinerziehende noch stärker entlasten, als es bisher der Fall ist. Derzeit werden sie fast wie Singles besteuert. Auch das führt dazu, dass in vielen Ein-Eltern-Familien das Einkommen nicht reicht.

Also weg mit dem Ehegattensplittung?

Ja und nein. Der Grundgedanke des Ehegattensplittings ist ja wertvoll: Erziehungsarbeit wird steuerlich honoriert. Es wäre aber wichtig, dass dies nicht nur für die Erziehungsarbeit von Eheleuten gilt, sondern auch für die von Alleinerziehenden, von unverheirateten Eltern oder Menschen, die Angehörige pflegen.

Aus dem Ehegattensplitting sollte deshalb ein Familiensplitting werden. Höhere Steuerentlastungsbeträge für Alleinerziehende sind sinnvoll. In der Sozialversicherung sollte Kindererziehung honoriert und das kindliche Existenzminimum bei der Beitragserhebung freigestellt werden. Neben dem Armutsrisiko ist die Alltagsüberbelastung ein Riesenproblem, Alleinerziehende sind oft am Limit.

Die Aktivistin und Bloggerin Christine Finke forderte deshalb unlängst Haushaltshilfen für Ein-Eltern-Familien anstelle von Mutter-Kind-Kuren.
Auf den ersten Blick klingt das abwegig. Andererseits wird auch die private Pflege durch Angehörige und Freunde in der Pflegeversicherung entgolten, und behinderte Menschen können eine Unterstützung bei der Bewältigung des Haushalts vom Sozialamt erhalten.

Noch wichtiger finde ich aber, dass wir am System ansetzen: Wir brauchen bessere finanzielle Hilfen, Entlastungen bei Steuern und Sozialversicherungsabgaben sowie gute Betreuungsangebote.

Brauchen wir auch eine neue Aufteilung der Betreuungsarbeit zwischen den Ex-Partnern? Anfang des Jahres hat der Bundesgerichtshof das sogenannte Wechselmodell gestärkt und entschieden, dass Familiengerichte auch gegen den Willen eines Elternteils anordnen können, dass das Kind je zur Hälfte bei der Mutter und beim Vater wohnt. Viele alleinerziehende Frauen fürchten nun um das Wohl ihres Kindes, etwa, wenn der Vater gewalttätig ist. Oder sie sagen, dass Väter dieses Modell wählen werden, um sich vor dem Unterhalt zu drücken.

Letzteres halte ich für unrealistisch. Das Wechselmodell kostet den Vater ja weit mehr Zeit, Energie und auch Geld als eine regelmäßige Unterhaltszahlung.

Das Problem liegt meiner Meinung nach anderswo: Von Familien aus meinem Bekanntenkreis, die dieses Modell praktizieren, weiß ich, dass die Eltern sich schon sehr gut verstehen müssen, anders ist dieses Modell kaum zu leben. Doch dass Familiengerichte es künftig einfach anordnen dürfen, heißt ja nicht, dass sie es im großen Stil machen werden oder den Einzelfall, etwa bei einer Gewaltbeziehung, nicht genau betrachten.

Seit knapp zehn Jahren bekommen geschiedene Frauen nur noch bis zum dritten Geburtstag des Kindes Unterhalt vom Ex-Partner. Danach müssen sie allein für sich sorgen, oft indem sie Vollzeit arbeiten. Ist das der richtige Weg?

Das war definitiv eine Reform, die den Druck auf Alleinerziehende erhöht hat, statt ihn zu senken. Dabei war der Grundgedanke der Reform durchaus gut: Frauen sollten selbstständiger werden und gleichberechtigter. Dass das alte Recht einen Halbtagsjob erst ab dem 8. Lebensjahr und eine Vollzeittätigkeit ab dem 15. Lebensjahr des jüngsten Kindes verlangte, war ja auch nicht mehr zeitgemäß. Aber so wie es heute ist, widerspricht es ebenfalls der Welt, in der wir leben.

Wie meinen Sie das?

Partnerschaften, in denen einer mehr verdient als der andere, werden doch immer noch begünstigt, flexible Betreuungsangebote fehlen.

Fakt ist: Die Mehrheit der Mütter steckt nach der Geburt beruflich zurück. Nun aber sollen diese Frauen nach einer Trennung aus dem Stand heraus beruflich durchstarten - und noch dazu unter erschwerten Bedingungen. Kann das wirklich gehen: ein Vollzeitjob, wenn man allein für seine Kinder verantwortlich ist? Bleibt da noch Zeit füreinander, auch um das emotionale Chaos, das eine Trennung fast immer verursacht, aufzufangen? Einen finanziellen Ausgleich für Alleinerziehende halte ich deshalb für unbedingt notwendig.

Die Reform ist fast zehn Jahre alt. Das Rad wird wohl nicht zurückgedreht. Daher: Was raten Sie Frauen, die (noch) in einer Ehe leben oder heiraten wollen?

Machen Sie einen Ehevertrag. Gerade wenn Sie wegen der Kinder beruflich erheblich kürzertreten.

Meine Erfahrung sagt: Praxis schlägt oft Theorie. Vor der Geburt stellt ein Paar sich vieles anders vor, mit den Jahren werden Schrauben neu angezogen, etwa wenn ein Kind in die Schule kommt. Muss ich alle zwei Jahre über eine mögliche Trennung sprechen?

Nein. Es reicht, wenn Sie einmal formulieren, welchen Ausgleich der Partner erhält, der für die Kinder beruflich zurücksteckt. Ich rate, verschiedene Szenarien zu beschreiben. Das geht dann von "ein Partner arbeitet nicht und erzieht die Kinder" bis "beide Partner arbeiten und teilen sich die Erziehung gleichberechtigt".

Unsere Expertin:

Anne Lenze, 57, lehrt und forscht an der Hochschule Darmstadt. 2016 untersuchte sie in der Bertelsmann-Studie "Alleinerziehende unter Druck" die Probleme von Ein-Eltern-Familien.

Ein Artikel aus BRIGITTE 20/2017

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