Anzeige

Mathias Mester "Ich hatte nie das Gefühl, dass ich ein Außenseiter bin."

Mathias Mester und Barbara
Mathias Mester und Barbara
© Meike Kenn
Er beendete seine Sportkarriere, als niemand damit rechnete, hält seinen Alltag frei von Ballast – also wenn einer Downsizing lebt, dann Mathias Mester.
Mathias Mester, 1986 in Coesfeld geboren, lernte erst mal was Vernünftiges, bevor er sich ganz dem Sport widmete. 2006 wurde der Leichtathlet Weltmeister im Speerwurf, 2007, 2009 und 2013 auch. Europameistertitel und Deutsche Meisterschaften sammelte er wie andere Leute Münzgeld, nur bei den Paralympischen Spielen reichte es "bloß" zu Silber – im Kugelstoßen. Kurz nach seinem Karriereende 2021 erschien sein Buch "Klein anfangen, groß rauskommen. Mein verrücktes Leben auf 142,5 cm" (Die Werkstatt) – mit dem "der Weltmester" auf Lesereise geht.
Mathias Mester, 1986 in Coesfeld geboren, lernte erst mal was Vernünftiges, bevor er sich ganz dem Sport widmete. 2006 wurde der Leichtathlet Weltmeister im Speerwurf, 2007, 2009 und 2013 auch. Europameistertitel und Deutsche Meisterschaften sammelte er wie andere Leute Münzgeld, nur bei den Paralympischen Spielen reichte es "bloß" zu Silber – im Kugelstoßen. Kurz nach seinem Karriereende 2021 erschien sein Buch "Klein anfangen, groß rauskommen. Mein verrücktes Leben auf 142,5 cm" (Die Werkstatt) – mit dem "der Weltmester" auf Lesereise geht.
© Meike Kenn

BARBARA: Mathias, wenn ich dich für das Thema „’Ne Nummer kleiner“ einlade, dann weißt du natürlich ganz genau …

MATHIAS: … dass Klamottengrößen gemeint sind und es nur ums Abnehmen gehen kann.

Meine Güte. Du hast vollkommen recht. In der Tat ist das der einzige Bereich in meinem Leben, in dem es mir um das Reduzieren geht.

Ach. Ansonsten nicht? Downsizing ist doch durchaus ein Trend in dieser Gesellschaft.

Nicht bei mir. Da muss ich tatsächlich sagen: Ich besitze gern. Ich bin noch nicht in der post-materialistischen Welt angekommen. Aber vielleicht passiert das ja noch im Laufe des Gesprächs. Zum Beispiel, wenn du mir jetzt erklärst, wie schön es ist, sich von Lasten zu befreien.

Ist es doch auch. Man ist sehr viel beweglicher mit wenigen Habseligkeiten.

Da ist was dran. Ich erinnere mich noch an meine ersten Umzüge. Das war mit zweimaligem Pkw-Beladen schnell erledigt. Truhe hinten rein, und schon war das Wichtigste an Bord. Zum jetzigen Zeitpunkt allerdings würde es mich wirklich beunruhigen, wenn alle meine Sachen in eine Truhe passen würden. Wie ist es bei dir?

Ehrlich gesagt: Dinge zu besitzen ist jetzt ohnehin nicht so mein Thema, ich bin da eher pragmatisch. Deshalb konzentriere ich mich wie du eher auf den Verlust von Gewicht.

Wie bitte? Kann nicht sein. Du bist doch Sportler.

Außer Dienst, das wollen wir mal nicht vergessen. In meiner aktiven Zeit habe ich um die 60 Kilo gewogen, neulich war ich bei 70. Und das gerechnet auf meine Größe von 142,5 Zentimeter …

Hallo! Der BMI ist kein Thema mehr! Das habe ich neulich von einem Experten gehört!

Na gut. Ich merke auch gerade, dass mich im Zusammenhang mit Verkleinern etwas ganz anderes beschäftigt.

Nämlich?

Das Nein-Sagen. Das ist etwas, das ich jetzt erst in mein Leben lasse.

Und vorher?

Na ja, ich bin eigentlich ein Typ, der immer und überall Harmonie herstellen, der es allen recht machen möchte. Jeder soll fröhlich nach Hause gehen, wenn ich in der Gegend war. Aber ich merke: Ich verändere mich gerade.

Zu einem Nein-Sager.

Wie gesagt, da bin ich noch am Anfang. Aber ja, ich sage öfter Nein zu alten Freunden, mit denen mich eigentlich nichts mehr verbindet. Das ist dann ein echter Cut, und ich spüre, wie gut es mir tut, diese Leute nicht mehr in meinem Leben zu haben. Mein Freundeskreis reduziert sich also gerade, und das ist echt gut.

Hast du wirklich schon mal aktiv mit einem Freund Schluss gemacht?

Ja. Einmal.

Boah. Das muss echt hart sein. Wer war das?

Jemand, mit dem ich seit 2005 Sport gemacht habe. Der war zwar immer für mich da, aber von anderen habe ich gehört, wie er gelogen und Blödsinn über mich erzählt hat. Dem habe ich vor zwei, drei Jahren gesagt: Hömma, dat passt irgendwie nicht mehr mit uns.

Ins Gesicht?

Nee, nur am Telefon. Face to face hätte ich wahrscheinlich gesagt: Na komm, wir kriegen das schon wieder hin.

Trotzdem stark. Gerade für Männer. Obwohl: Ein Freund von mir hat neulich einem seiner Freunde einen Abschiedsbrief geschrieben. Das hat mich schwer beeindruckt. Ich würde es wahrscheinlich aussitzen und hoffen, dass man sich nicht mehr bei mir meldet. Und sollte dann doch ein Anruf kommen, ist es ganz gut, sich vorher in eine leicht aggressive Stimmung zu pushen. Denn wenn man sowieso streitet, kann man am Ende einfach sagen: Ach, übrigens, noch was …

Ah, verstehe: klarer Fall von Binge-Streiten.

Absolut. Beim Streiten ist es wie beim Essen. Da sollte man am besten alles auf einmal zu sich nehmen und nicht über den Tag verteilt.

Das ist dann doch eher Intervallstreiten.

Wie immer du es nennst: Es ist effektiver und besser für den Metabolismus. Aber wenn wir schon beim Verabschieden sind: Wie war das, als du mit dem Sport aufgehört hast? Fiel es dir schwer?

Sagen wir mal so: Ich konnte mir partout nicht vorstellen, wie es sich anfühlen würde, diese Entscheidung zu treffen. Und dann bin ich im Juni vor zwei Jahren Europameister geworden, noch einmal. Aber ich habe gemerkt: Die sind alle jünger als ich, der Druck auf mich wird stärker. An dem Tag gewann ich den Speerwurf noch mal mit 30 Zentimetern Vorsprung. Und hatte plötzlich das starke Gefühl: Okay, das ist hier jetzt mein Ende.

Aber das war doch ganz kurz vor Olympia in Tokio.

Genau. Und ich spürte trotzdem: Das hier ist mein goldener Abschied – nicht Tokio. Und den kann mir keiner mehr nehmen.

Oh, wie schlau. So einen geilen Ausstieg hinzubekommen, das ist echt das Größte.

Und ich bereue bis heute rein gar nichts. Es war für mich der richtige Schritt.

Hattest du Angst vor dem, was danach kommt? Vor einem Loch, einer Leere?

Nee, aber ich habe ja in den letzten Jahren auch schon was nebenbei gemacht. Meinen Instagram-Kanal gefüttert und festgestellt, dass die Leute das mögen. Oder ich bin in Shows oder Sendungen aufgetreten …

… wie in „Let’s Dance“ zum Beispiel …

… und hab festgestellt: Das macht ja auch Spaß. Und es ist sogar richtig spannend. Aber wem erzähle ich das.

Mir. Aber ich sage dir eins: Ich habe diesem Erfolg im Showbusiness ganz lange misstraut. In den ersten acht Jahren, und da lief es schon echt gut, habe ich billig gewohnt und ein klappriges Auto gefahren, weil ich immer dachte: Gleich kommt einer und deckt auf, dass das alles ein großes Missverständnis ist. Ich bin halt eher bodenständig erzogen worden,

Na, ich doch auch. Ich bin in Goxel groß geworden, einem Dorf im Münsterland mit vielleicht 700 Einwohnern. Und ich habe noch meine Mutter im Ohr, wie sie sagt: Junge, egal was ist – du machst erst mal eine Ausbildung.

Und, hast du?

Klar. Ich bin ausgebildeter Bauzeichner. Und dann habe ich noch eine Lehre als Bürokaufmann nachgeschoben. Was gut war, so konnte ich neben der Leichtathletik in der Sportförderstelle was dazuverdienen.

Ach. Ich dachte, du wärst schon immer Profisportler gewesen.

Den Traum habe ich mir erst in den letzten drei Jahren meiner Karriere erfüllt.

Ach so. Aber ich denke gerade noch über dein Aufwachsen nach. Wie war das bei dir?

Behütet, einerseits. Und dann auch wieder einigermaßen frei. Ich durfte mich ausprobieren und jeden erdenklichen Quatsch machen. Das ist in der Rückschau nicht selbstverständlich, wenn die Eltern gesagt bekommen: Der Junge wird höchstens 1,20 Meter, er wird Gleichgewichtsstörungen haben, nie Fahrrad fahren können, er kann dies nicht und das nicht …

Wann war das eigentlich klar mit der Kleinwüchsigkeit?

Schon als meine Mutter mit mir schwanger war. Es gibt bestimmte Anzeichen dafür, die im Mutterleib erkannt wurden

Und wann wusstest du es?

Vergleichsweise spät. Geredet wurde bei uns erst mal nicht darüber. Ich hab’s dann selbst gemerkt, im Kindergarten. Da saßen die anderen Kinder irgendwann auf den größeren Stühlen und ich weiter auf einem kleinen, und meine Beine baumelten immer noch in der Luft. Und ich hatte einen Extra-Haken für meine Jacke … Da wurde mir allmählich klar, dass da irgendwas faul ist. Aber trotzdem: Ich hatte nie das Gefühl, dass ich ein Außenseiter bin.

Wie toll. Das heißt, wir dürfen uns dich als einen zufriedenen Menschen vorstellen?

Jedenfalls hindert mich meine Behinderung nicht daran, einer zu sein. Nur manchmal werde ich daran erinnert – und dann ist es besonders schmerzhaft.

Was meinst du?

Wenn’s um Frauen geht. Ich weiß noch, wie ich mal einen Liebesbrief geschrieben habe. Die Antwort war: Ich finde dich süß, du bist nett, du bist lustig – aber aufgrund deiner Größe wird das leider nichts mit uns.

Gottogott. Das ist hart.

War es wirklich. Ich habe das Mädchen Jahre später in der Dorfdisco wiedergetroffen. Sie hat mich auf den Brief angesprochen und dann gesagt: Damals war ich ja echt blöd.

Was hast du geantwortet?

Ich habe gesagt: Tja. Heute ist es zu spät.

Geil.

Schon, oder? Obwohl ich damals Single war. Aber da hatte ich das Gefühl, ich müsste mal ein Statement setzen.

Dabei hättest du sie direkt mit nach Hause nehmen können! Aber sonst im Alltag? Gibt es da nicht auch immer mal wieder Idioten, die dir im Vorbeigehen einen Spruch reindrücken

Interessante Frage.

Wieso?

Weil mir gerade auffällt: Ich nehme mich selbst oft gar nicht als anders wahr. Ich habe mich von diesem Gefühl befreit. Das sind eher meine Freunde, die Antennen dafür haben, wenn Leute sich bescheuert verhalten. Und die sagen dann schon so was wie: Ey, der Typ da guckt dich seit zehn Minuten an! Sollen wir da mal hin und den auf deine Größe bringen?

 Wie lustig!

Ich bin da sehr entspannt. Aber solche Situationen, und das ist auch interessant, kamen früher deutlich öfter vor. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ich es nicht mehr so wahrnehme, aber mein Eindruck ist, dass die Leute sensibler geworden sind. Und netter.

Das ist ja überhaupt meine Beobachtung: dass wir uns als Gesellschaft schon länger, wenn auch langsam, in die richtige Richtung entwickeln. Es gibt eben nicht nur Shitstorms und Hetze, sondern da tut sich auch viel Gutes … Und dass du das spürst, ist toll.

Tue ich. Ich bin natürlich besonders sensibilisiert in meiner Situation, und es ist immer noch zu wenig von allem – aber ich sehe die Bemühungen, integrative Kindergärten und Schulen zu schaffen und all diese Sachen.

Ich sehe das auch in meinem Bereich. Im Showgeschäft ist gerade in den vergangenen zwei, drei Jahren so viel passiert in Sachen Inklusion und Diversität. Früher hattest du vorwiegend alte weiße Männer in den Talkshows, die anderen gönnerhaft die Welt erklärten. Und jetzt kommt immer öfter die Welt und erklärt sich selbst. Andere Frage: War das schon immer da, dein Selbstbewusstsein?

Nein, das musste ich schon lernen. Der Sport hat mir aber sehr geholfen. Wenn du bei den Paralympischen Spielen ins Stadion gehst und da sitzen 91 000 Leute … Da musst du dann durch. Das bringt dich weiter. Mittlerweile bin ich an einem Punkt, wo ich weiß, wer ich bin und was ich kann. Ich gehe einfach raus und mache.

Weißt du, ich kenne echt viele Leute, dick, dünn, groß, klein. Und Komplexe haben wir alle. Aber bei dir merkt man, dass du aus einem guten Stall kommst, mit den richtigen Werten und der richtigen Sicht aufs Leben. Das ist so viel wert. Ich kenne so viele, die immer nur auf das Negative schauen, auf das, was gerade nicht funktioniert. Und die sagen dann oft: Bei dir läuft alles so großartig.

Stimmt ja auch.

Aber das ist eine Entscheidung. Es gibt auch sieben, acht Sachen, die in meinem Leben gar nicht laufen. Aber ich bestimme selbst, ob ich mich zum Opfer der Umstände machen lasse und meinen Fokus auf diesen Mist richte. Und das tue ich eben nicht. Wie du auch.

Stimmt. Auch ich stand vor der Entscheidung, in der Ecke zu sitzen und meine Behinderung zu beweinen. Aber was wäre das für ein Leben? Da gehe ich doch lieber zu "Let’s Dance" und zeige den Leuten, dass man auch als Kleinwüchsiger einen großen Spaß haben kann.

Haare + Make-up: Patrick Gorra; Styling: Fabiana Vardaro

Wir bedanken uns herzlich beim Team Clärchens Ballhaus (https://claerchensball.haus) für die Gastfreundschaft

Barbara

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel