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Whataboutism Was ist das eigentlich?

Whataboutism: Was ist das eigentlich?: Mutter und Kind auf Flughafen
© Odua Images / Shutterstock
Schon mal was vom "Whataboutism" gehört? Passiert immer dann, wenn Klugscheißer gutes Verhalten durch sinnlose Vergleiche kleinreden wollen.

Fährst kein Auto, aber fliegst nach Malle ...

Sagt mal, habt ihr sie noch alle?!, dachte ich, als ich die Kommentare zu Reisefotos der Umweltaktivistin Greta Thunberg las. Ob die 16-jährige Schülerin nun wochenlang zum Klimagipfel nach New York schippert oder mal wieder 32 Stunden mit dem Zug reist, um nicht fliegen zu müssen: Immer wird sie in bester Netzhetze-Manier angefeindet. Weil sie im Zug auf einem Foto, ach du Schreck, Bananen und ein Stück Brot aus einer eingeschweißten Packung isst, zum Beispiel. "Sind Bananen in Schweden jetzt ein Nationalgericht?", spielte jemand auf den Transportweg der Früchte an.

"Schönes Plastik. Wasser predigen, aber Wein trinken", kommentierte ein anderer. Und was ist mit den Tonnen CO2, die sie damit einspart, ihr Vollpfosten?!, schrie ich meinen Laptop an.

Später brachte mich der Mann in Rage, als er sagte: "Wenn du jetzt festes Shampoo nimmst, darfst du auch kein Essen to go mehr ordern. Denk an die Verpackungen", schwadronierte er – und hatte recht.

Ins Gesicht gesprungen wäre ich ihm trotzdem am liebsten. Du isst kein Geflügel, aber kaufst Eier? Du hast Ökostrom, aber fährst Auto? Du kaufst Bio, aber deine Kinder tragen Wegwerfwindeln? Na, pulsiert das Blut schon? Soll es auch.

Diese Taktik hat nur das eine Ziel: uns zu entmutigen und zweifelnd zurückzulassen. Denn dieses "Aber-was-ist-mit...?" ist ein uralter Rhetoriktrick, nennt sich "Whataboutism" – also "What about...?" – und hilft dabei, Diskussionen zu gewinnen mit Argumenten, die in Wahrheit keine sind, weil sie mit der Sache selbst nichts zu tun haben. Es ist, wenn man will, der alte Äpfel-Birnen-Vergleich.

Whataboutism - das Killer-Phänomen unserer Streitkultur

Beispiel: Einem Veganer wird vorgeworfen, dass sein Öko-Tun nichts wert ist, weil er ja in den Urlaub fliegt. Klingt logisch? Ja. Nur dass es nicht logisch ist. Denn so geht es nicht mehr um den positiven Impact, auf tierische Produkte zu verzichten, sondern um die CO2-Bilanz von Flugzeugen. Äpfel und Birnen eben.

Aber beides hat doch mit der Umwelt zu tun, könnte man jetzt meinen. Ja, das Problem ist nur, die Diskussion wird sabotiert. Mehr noch: Der Veganer wird zum Heuchler degradiert und das entscheidende Fazit verschleiert, dass sein Fußabdruck immer noch kleiner ist als der eines fliegenden Fleischfressers. Darüber aber redet niemand, weil sich zu dem Zeitpunkt schon alle in schönster Grundsatzmanier die Köpfe einschlagen.

Der Whataboutism, so darf man es konstatieren, ist zu einem Killer-Phänomen unserer Streitkultur geworden. Flüchtlinge sterben im Mittelmeer – ja, aber was ist mit der Armut im Osten? Rechtsextremismus wird immer schlimmer – ja, aber was ist mit den Linksradikalen? Und was ist mit den USA, die Schwarze abschlachten?, fragte auch immer gern die Sowjetunion, wenn dem Land im Kalten Krieg (der Geburtsstunde des modernen Whataboutism) selbst Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wurden.

Und die USA heute? Haben mit Präsident Donald Trump den König aller Whataboutisten hervorgebracht, wenn er jede Kritik an seiner Person mit der Gegenfrage pariert: "Und was ist mit Hillary? Warum sitzt sie nicht längst im Gefängnis?" Ah, ja.

Angriff ist eben die beste Verteidigung

Nicht umsonst werden heute auch Lokalpolitiker und PR-Leute darauf getrimmt: keine Polit-Show ohne What-about-Klatschen. Oder ein Kommentarstrang. Weil es funktioniert. Besonders gut bei Klimathemen!

Warum? Weil Angriff immer noch die beste Verteidigung ist. Und darum geht es in Wahrheit auch: die Whataboutisten fühlen sich angegriffen, sie sind wütend. Wütend darüber, dass ihnen jetzt alle in ihren Alltag reinreden. Darüber, dass ihr jahrzehntelanger Lebensstil, der für sie so gemütlich, praktisch, und ja, sicher auch hart erarbeitet war, plötzlich etwas Böses sein soll.

Und dass sie jetzt alle missionieren wollen. Vielleicht sind sie auch wütend, weil sie verstehen, dass sie etwas ändern sollten, aber nicht wissen wie. In ihrer Verzweiflung treten sie also die Flucht nach vorn an. Und diskreditieren, was das Zeug hält, um sich besser zu fühlen. Sie brauchen eine Rechtfertigung, warum sie selbst bisher nichts auf die Reihe bekommen haben. Damit werden sie zu einem der größten Bremser für ökologische Fortschritte, gegenüber anderen und – das ist das Schlimmste – gegenüber sich selbst.

Es gibt auch die Selbst-Whataboutist*innen

Eine Kollegin, die seit 25 Jahren kein Fleisch isst, kein Auto hat und kaum Klamotten shoppt, erzählte mir neulich frustriert, dass das ja eh keine Rolle spiele, weil sie in ihren 30ern extrem viel geflogen ist. Sie wurde zur Selbst-Whataboutistin – und merkte es nicht.

Hier kommen also ein paar Gegentricks: Wenn eine Debatte um Strohhalmverbot mal wieder mit einem "Aber Seefahrt ist viel schlimmer" gekapert wird, schnell zum demaskierenden "Das ist Whataboutism" greifen und aufklären!

Hat man Zeit und Muße, das Nicht-Argument zu entkräften, sollte man sich an Milena Glimbovski halten: Die Berlinerin eröffnete 2014 einen der ersten verpackungsfreien Supermärkte in Europa und erzählte, wie jemand zu ihr meinte, dass weniger Müll an den CO2-Emissionen ja per se nichts ändere. Glimbovski parierte: Viele Menschen starten erst mit Zero Waste und fangen dann an, ihren gesamten Lebensstil zu hinterfragen. Dieses Vom-Kleinen- ins-Große-Argument zieht eigentlich fast immer.

Leider machte Glimbovski den Fehler zuzugeben, dass auch sie nicht ganz ohne Plastik auskomme, beim Milchpulver für ihr Baby zum Beispiel. Ha!, hörte man den Whataboutisten da die Hände reiben: Wer im Glashaus sitzt! Ja, auch eine Milena Glimbovski sitzt im Glashaus. Greta Thunberg auch. Wir alle tun das. Allein schon weil wir essen, wohnen – leben müssen.

Ganz ehrlich: Um hundertprozentig ökologisch zu sein, müssten wir uns alle umbringen. Aber nicht ohne vorher die Ökobilanz einer Beerdigung zu googeln. Über eine CO2-neutrale Suchmaschine, versteht sich. Von einem fair produzierten Smartphone aus.

Niemand ist perfekt!

Worauf ich hinaus will? Niemand! Ist! Perfekt! Ich shoppe seit eineinhalb Jahren kein Fast Fashion, bestelle aber Essen to go. Mein Mann kauft Obst unverpackt, ist aber süchtig nach PET-Flaschen. Und Greta Thunberg isst eben eine blöde Banane!

Wie wäre es also mit ein bisschen Common Sense: Eine Person, die sich Gedanken macht, ob sie auf Fleisch verzichtet, nicht fliegt oder eine verdammte Klimarevolution anzettelt, ist wohl nicht diejenige, bei der jede andere Entscheidung auf die Goldwaage gelegt werden sollte. Baustellen gibt es immer, ja. Um die kümmern wir uns dann morgen, okay?

In BE GREEN, dem neuen Nachhaltigkeitsmagazin von BRIGITTE, lest ihr das exklusive Interview mit Greenfluencerin DariaDaria, in dem sie fordert: "Wir müssen Zeit neu definieren!"
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© Brigitte

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BRIGITTE BE GREEN 01/2019

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