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Meine Mutter zieht zu mir - ein riesiger Fehler?

Meine Mutter zieht zu mir - sich haltende Hände
© JP WALLET / Shutterstock
Ihr Verhältnis war nie einfach, ständig gab es Streit. Trotzdem nimmt Katharina Federlein, 54, ihre Mutter zu sich - auch wenn alle abraten.

"Du machst dich nur selbst fertig!", sagen alle

Wir sind auf Wohnungssuche, sechs Zimmer, Altbau, bezahlbar. Weil meine Mutter zu uns zieht, 75, Rentnerin, depressiv. "Bist du wahnsinnig?", fragen meine Freundinnen einstimmig. "So was geht nie gut. Du machst dich nur selbst fertig."

Vor einem Jahr hätte ich das auch noch gesagt. Hätte von unterschiedlichen Lebenskonzepten, Unabhängigkeit, Verantwortung und Platzmangel erzählt. Dann ist meine Mutter Edith mal wieder abgestürzt. So nennt sie es, wenn sie in Depressionen verfällt. Schwarze Löcher, gegen die immer stärkere Medikamente und regelmäßige Überweisungen in eine Nervenklinik wenig ausrichten.

Edith ist eine gebildete Frau, die als Rechtsanwältin Karriere gemacht hat. Eine Perfektionistin, die Studium mit kleinen Kindern, Praktika, Kanzlei und traditionelle Gattinnen-Rolle glänzend absolviert hat. Eine stolze, gepflegte Erscheinung. An ihren guten Tagen.

Ihre schlechten häufen sich seit der Pensionierung und dem Tod ihres Mannes. Seit sie keine Aufgabe mehr hat, sich nicht mehr gebraucht fühlt. Zwar ist ihr Kalender randvoll mit Theaterbesuchen, Stadtbummeln und Kaffeeklatsch. Aber nichts davon kann Edith retten, wenn ihre Welt wieder dunkel wird, wenn sie nachdenkt, allem ein Ende zu setzen.

Die Sorge um sie, die Kontrollanrufe, die panische, fünfstündige Anreise, wenn sie nicht erreichbar ist, sind für mich Alltag geworden. "Nehmen Sie Abstand von Ihrer Mutter. Sie können nichts tun. Lernen Sie sich abzugrenzen",rät eine Klinikärztin nach dem letzten Absturz.

Ich hätte für meinen Rückzug eine glaubwürdige Entschuldigung: das eigene, vollgepackte Leben mit Mann, drei Kindern und einem Beruf als Lektorin. Die unerträgliche Achterbahnfahrt von Sorge, Wut, Hilflosigkeit und Erschöpfung, wenn mein eigenes Leben wegen ihr mal wieder zum Stillstand kommt.

Endlich gesteht meine Mutter ein, dass sie es alleine nicht mehr schafft

"Haben Sie eine Mutter?", frage ich die Ärztin, die nur mitleidig lächelt. Ich gebe Edith ein Ultimatum: "Entweder kommst du jetzt gleich mit zu uns, oder ich verabschiede mich hier und heute endgültig von dir." Ich erwarte ein Nein. Bloß kein Eingeständnis, dass sie ihr Leben nicht im Griff hat. Wir streiten uns ohnehin häufig - sie die Perfektionistin, ich diejenige, die mehr oder weniger erfolgreich ihr Leben improvisiert. Aber es ist mir bitterernst. Vielleicht spürt sie das. "Ich komme mit. Ich schaffe das nicht mehr allein", gibt Edith zum ersten Mal zu und fängt gleich an zu packen. Nur für den Übergang, beschließen wir. Bis zum nächsten Klinikplatz.

Vier Monate wohnt Edith in unserem Kinderzimmer, schläft im Bett meines Sohnes unter Postern von Rappern und Fußballern. Für eine Frau, die seit Jahren keine Kompromisse mehr in ihrem Alltag eingehen musste, fügt sie sich erstaunlich gut in unser Familienleben. Sie wird Pausenbrot-Beauftragte - jeden Morgen zwölf Stullen schmieren - und fragt die Kinder Französischvokabeln ab.

Anfangs schwankt sie noch zwischen Unruhe, Apathie und Selbstmitleid. Dagegen hilft ein flotter Marsch im Park. Ich gehe gern mit, dann wird es noch etwas flotter. "Wie im Bootcamp", höre ich sie einmal am Telefon einer Freundin erzählen. Aber sie schläft gut, das erste Mal seit Jahren. Jeden Morgen plaudert sie mit dem türkischen Gemüsemann, lernt im Café um die Ecke schon bald andere Pensionäre kennen, die sie in Museen und auf Märkte schleppen. Edith blüht auf.

Je besser es ihr geht, desto mehr bleibt von meinem Leben erhalten

Ich sehe ihre Gemütsverfassung als meine Verantwortung. Projekt stabile Mutter. Das hat natürlich auch Eigennutz. Je besser es ihr geht, desto mehr bleibt auch mir mein eigenes Leben erhalten. "Sicherungen auswechseln? Das kann ich nicht." - "Dann lernst du das." - "Ich bin schon 75." - "Du bist erst 75."

Immer noch Wortgefechte. Über die Lebensdauer von Spülschwämmen, über den WiFi-Code, über absichtlichen Altersstarrsinn und Kasernenhofton. Das ist jetzt meine Herausforderung: nicht ungeduldig zu werden, nicht meinen Frust der letzten Jahre an ihr abzulassen.

Wir bemühen uns. Beide. Das ist der Deal. Die Kinder lieben das Leben mit Edith. Mein Mann nimmt den Dauerbesuch gelassen hin und zieht sich zurück, wenn es ihm zu viel wird. Bei mir stellt sich Gelassenheit erst langsam ein. Anfangs trifft jede Mäkelei von ihr doppelt hart. Dies hier ist mein Leben, in dem ich Regie führe und ihr einen Platz einräume. Ich will keine Dankbarkeit, aber vollen Einsatz. Edith begreift. "Ich bin ein Mensch, der immer viel geleistet hat. Zu Hause würde ich jetzt nur auf den Tod warten. Hier habe ich wieder eine Aufgabe",sagt sie während einer Parkrunde.

Ein Klinikplatz wird frei - aber Edith bleibt bei uns

Unser Umgang miteinander verändert sich, wird gelassener und verständnisvoller. Dabei kehren wir nichts mehr unter den Teppich. Das funktioniert vielleicht noch bei einem Wochenendbesuch, aber sicher nicht im gemeinsamen Alltag. Und so lernen wir nach und nach beide, Kritik der anderen einzustecken, keine leichte Übung für Mütter und Töchter.

Ediths Hausärztin ruft an: "Da wäre ein Klinikplatz frei für Ihre Mutter." Ich spüre Skepsis statt Erleichterung. Wem wollen wir etwas vormachen? Wieder sechs Wochen in einer Klinik oder sogar zwölf, dann nach Hause und doch nur eine Frage der Zeit bis zum nächsten Absturz? "Edith bleibt", spricht mein Mann aus, was ich gerade anzudenken wage. Aber will sie das überhaupt? "Wenn ihr mich haben wollt", sagt sie und klingt dabei, als habe sie das längst für sich entschieden.

Sie fährt wieder nach Hause. Aber nur, um ihre Wohnung aufzulösen. "Das könnte ich nie, meine Tochter so über mein Leben bestimmen zu lassen", ist sich ihr Kaffeekränzchen einig. Edith findet das nur noch amüsant. "Und wenn Ihre Kinder demnächst aus dem Haus sind? Dann sind Sie immer noch gebunden. So als hätten Sie ein viertes Kind. Das muss Ihnen bewusst sein", warnt mich Ediths Hausärztin.

Ich mache mir dazu meine eigenen Gedanken. Als ich vor 30 Jahren zu Hause auszog, war das keine Nestflucht, nicht das Gefühl, unbedingt weg zu müssen, sondern einfach das nächste Abenteuer in meinem Leben. So will ich Ediths Einzug auch sehen.

Meine Zukunftspläne lasse ich mir trotzdem nicht nehmen

Familienzusammenführung mit umgekehrten Vorzeichen, aber bitte nicht mit einem Rollentausch. Ich will Edith nicht bemuttern und sie will nicht bemuttert werden. Sie soll die Verantwortung für ihr eigenes Leben nicht abgeben. Mehrgenerationen-WG ist ein gutes Wort für das, was mir vorschwebt.

Natürlich wird irgendwann Ediths Unabhängigkeit kleiner und die Belastung für mich größer. Aber diese Vorstellung ist nichts gegen die alten Panikattacken, ob sie noch lebt oder nicht. Und unsere Zukunftspläne, vielleicht noch einmal für ein paar Jahre ins Ausland zu gehen zum Beispiel, werden wegen ihr natürlich auch nicht aufgegeben. Denn das würde mir die Luft abschnüren. "Denk nur daran, dass du mich dann im Gepäck hast", sagt Edith und guckt nicht mal von ihrem Kreuzworträtsel auf.

BRIGITTE 05/2019

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