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Body Positivity "Ich weiß, ich hab' zugenommen. Aber ist das alles, was du nach einem Jahr zu mir sagen möchtest?"

Body positivity
Durch die Pandemie haben sich viele Figuren verändert, was nicht unbedingt heißen muss, dass die Menschen damit unzufrieden sind.
© Africa Studio / Shutterstock
Umfragen zeigen: Viele Menschen haben in der Corona-Zeit zugenommen, andere haben abgenommen. Kommentare über diese fehlenden oder gewonnenen Kilos sollten wir uns verkneifen, findet unsere Autorin.

Die Impfkampagne in Deutschland schreitet schnellen Schrittes voran und auch die Corona-Regeln zeigen Wirkung: Die Infektionszahlen sinken. Langsam beginnt wieder der Alltag, den wir von vor der Pandemie kennen. Der Einzelhandel öffnet, die Kontaktbeschränkungen werden gelockert und vielerorts öffnet die Gastronomie ihre Türen.

Doch hinter uns liegt eine schwere Zeit. Im Lockdown alleine, viele Freund:innen haben wir lange nicht gesehen – und selbst wenn wir sie gesehen haben, war es meist nur digital ein Ausschnitt des Oberkörpers und Kopfes. In so einer stressigen Zeit, kann es sein, dass der Körper unserer Mitmenschen sich verändert hat. Kilos können gepurzelt oder hinzugekommen sein – ob aus Frust oder Stress. Gerade, wenn wir Menschen lange nicht gesehen haben, stechen uns diese Veränderungen besonders ins Auge. Dennoch sollten wir dazu beim ersten Treffen lieber nichts sagen. 

Viele Menschen haben in der Pandemie zugenommen

Mehr als ein Viertel der Erwachsenen – etwa 27 Prozent – haben während der Pandemie zugenommen. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage des Forsa-Instituts aus dem September 2020 unter 1000 Personen im Alter zwischen 20 und 65 Jahren. Laut Robert Koch-Institut lag das mittlere Körpergewicht nach dem ersten Lockdown ein Kilogramm höher als im vergleichbaren Zeitraum ein Jahr zuvor. 

Klar ist: Dass immer mehr Menschen zunehmen, liegt wohl an einer Kombination aus falscher Ernährung und fehlender Bewegung. Viele neigen außerdem dazu, aus Frust zu ungesunden Lebensmitteln zu greifen. "Wenn ich mich meinen Freunden und der Familie nicht mehr nähern darf, will ich das kompensieren", sagt der Ernährungsmediziner Professor Dr. Hans Hauner von der Technischen Universität München dazu gegenüber der "Apotheken Umschau".

Die Zahl der Jugendlichen mit Essstörungen steigt

Gleichzeitig bekommen Krankenhäuser, wie das Klinikum Nürnberg zurzeit noch eine andere Folge der Pandemie zu spüren: Sie behandeln seit dem Ende des ersten Lockdowns deutlich mehr Kinder und Jugendliche mit Essstörungen. Nürnbergs Chefarzt Patrick Nonell berichtete der Deutsche Presse-Agentur: "Es sind etwa doppelt so viele wie sonst. Die Magersucht sticht dabei besonders hervor."

Erhöhter Stress in den Familien, weniger soziale Kontakte und der Wegfall von festen Tagesstrukturen seien Risikofaktoren, die Essstörungen jeder Art begünstigen könnten, erklärt Nonell. Den Kontrollverlust in der Pandemie versuchten die Jugendlichen demnach oft damit auszugleichen, indem sie ihr Gewicht noch stärker kontrollieren würden. "Dadurch haben sie das Gefühl, wenigstens das selbst in der Hand zu haben", erläutert Nonell. 

Die erste Bemerkung gleich über das Gewicht

Ja, es kann sein, dass wir über die letzten Monate der Pandemie ein wenig zu- oder abgenommen haben. Gerade in Bezug auf mehr Kilos auf den Hüften haben Frustsüßigkeiten in Einsamkeit und fehlender Sport nicht zur "perfekten" Figur beigetragen. Aber glaubt mir: Wir wissen, dass wir kurviger sind als vor ein paar Monaten. Das muss man uns nicht auf die Nase binden.

Außerdem: Vielleicht fühlen wir uns so ja auch viel wohler als vorher. Vielleicht versuchen wir jetzt nicht mehr auf Zwang 90-60-90-Maße zu haben, sondern sind zufrieden damit, wie es ist.

Natürlich kann zu viel Kurve an den Hüften ungesund sein. Genauso wie zu wenig Speck schnell schädlich werden kann. Und ja, das kann man der Person dann auch mal sagen. Aber muss das die erste oder zweite Bemerkung sein, wenn man sich seit einem Jahr zum ersten Mal wieder sieht? 

Keine große Überraschung

Nur weil man eine Person, deren Figur sich im Laufe des letzten Jahres verändert hat, jetzt zum ersten Mal wieder sieht und die Veränderungen des Körpers überraschend erscheinen, heißt das nicht, dass es auch für die Person selbst eine Überraschung war. Ich garantiere: Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat die Person das schon lange gemerkt.

Vielleicht passten die alten Hosen oder Oberteile nicht mehr und neue Kleidung musste frustrierenderweise noch eine Nummer größer gekauft werden. Oder die Löcher im Gürtel reichten plötzlich nicht mehr, weil der Bauch zu dünn geworden war. Gewichtsveränderungen passieren üblicherweise vor den Augen der Person.

Ungesunde Menschen

Es stimmt: Zu viel oder zu wenig Körpergewicht kann gesundheitsschädigend sein. Aber Freund:innen, Bekannte und Familienmitglieder, die nach einem Jahr der Abwesenheit nichts Besseres zu tun haben, als einen in die gesellschaftlich perfekte Norm eines Körpers pressen zu wollen, sind auch ungesund. Wahrscheinlich noch viel ungesünder als das eigentliche Körpergewicht des Menschen.

Es dreht sich schließlich nicht immer nur um die physische Gesundheit des Körpers, sondern auch um die der Psyche. Für die sind dumme Kommentare oder gut gemeinte – aber völlig fehlplatzierte – Ratschläge für die Figur garantiert nicht gesund.

Schlussendlich geht es doch immer darum, ob der Mensch sich gut und wohlfühlt. Ob die Person mit ein paar Kilo mehr oder weniger als vor der Pandemie zufrieden ist. Und ganz im Ernst: Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Ich glaube, es gibt gerade wichtigere Probleme, als dass jemand ein paar Kilos zugenommen hat … oder nicht?

Quellen: "Ärzteblatt" / "Deutsche Apotheker Zeitung" / "Apotheken Umschau" / DPA / Robert Koch-Institut

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf stern.de.

eli/stern

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