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Gastkommentar "Wir brauchen dringend ein Geschlechter-Update"

Gastkommentar: "Wir brauchen dringend ein Geschlechter-Update"
© Scott Griessel / Adobe Stock
Deutschland diskutiert: Gibt es wirklich nur zwei Geschlechter oder mehr? Und wenn ja, wie viele? Ein Gastkommentar von Aminata M. Nomi.

Seit Januar 2019 gibt es in Deutschland offiziell drei Geschlechter: männlich, weiblich und divers. Doch seit der Absage des Vortrags "Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht: Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt" an der Humboldt-Universität Berlin (HU) Anfang Juli diskutiert Deutschland wieder verstärkt darüber, wie viele Geschlechter es nun wirklich gibt. 

Hier lest ihr den Gastkommentar von Journalistin und Pädagogin Aminata M. Nomi. Als Partnerin einer trans Frau setzt sie sich als Transgender-Beraterin für die Akzeptanz von Menschen ein, die nichtbinär sind. 

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"Deutschland diskutiert. Gibt es denn nun zwei Geschlechter oder mehr? Ist das hier ein Volksentscheid?

Die Frage ist so unglaublich dämlich. Und die wissenschaftliche Antwort lautet: Das kommt darauf an, wie man definiert ...

Es ist ungefähr genauso sinnvoll zu fragen, wie viele Lilatöne es gibt: Zwei oder mehr? Nur einen? Es kommt darauf an, wo du die Grenzen ziehst.

Es gibt Prototyp "männlich" und Prototyp "weiblich". So haben wir sie bisher genannt. Bei diesen Prototypen ist alles in der "Norm". Hormone, Geschlechtsteile, Hormondrüsen, Chromosomen, Körperbau, Fertilität, Identität: alles wie erwartet.

Hauptkriterium bei der Zuweisung von Geschlecht bei der Geburt: Ist da etwas, was kleiner ist als einen Zentimeter? Zwischen ein und drei Zentimeter? Oder größer als drei? Ungeachtet dessen, was der Mensch fühlt. Und ab da geht es mit dem Sozialisieren los.

Ab da müsste das Kind erklären: Bei mir ist etwas anders als ihr denkt. Anders als es der:die Ärzt:in gesagt hat. Und der Zeitpunkt dafür ist immer falsch: Das kannst du noch nicht wissen, du bist zu jung. Warum sagst du das erst jetzt?

"Bei mir ist das anders als ihr denkt"

"So ein Quatsch!"

Na, dann kann uns unsere Statistik natürlich immer noch sagen: Ab drei Zentimeter: lebenslang männlich. Das ist die Regel. Das Maßband ist da tatsächlich die Entscheidungsgrundlage.

Hormonlevel, Chromosomen, innere Anatomie? Das schaut man sich nur dann an, wenn irgendetwas nicht so läuft wie erwartet.

Menschen bestehen aus 100 Billionen einzelnen Zellen. Jede ist komplex und wir haben noch lange nicht alles verstanden, was im menschlichen Körper so passiert. Wie hoch die Hormon-Level in verschiedenen Bereichen des Körpers sind, ob die Rezeptoren mit den Hormonen genau das machen, was wir denken, dass sie machen.

Und wie sie entsteht, die Identität. Die haben wir übrigens alle: Geschlechtsidentität. Egal ob cis, inter oder trans. Wenn uns morgen jemand sagen würde: "Meines Erachtens bist du gar kein ... " Dann hätten wir sofort ein Gefühl, ob das richtig ist.

Biologisches Geschlecht betrachtet fast immer nur das Sichtbare, das Fassbare. Und obwohl sogar Penis und Klitoris im Prinzip das gleiche Organ sind (nur etwas unterschiedlich in Größe und Lage), benutzen wir zwei Worte dafür, als seien es völlig unterschiedliche Dinge. Was im Inneren vorgeht - auf Zellebene - das betrachten wir kaum. Und wir verstehen es kaum. Wir tun aber so, als würden wir es verstehen. Und hätten die Deutungshoheit. Und denen, die uns etwas darüber erzählen könnten, Menschen, die inter*, trans* und nichtbinär sind, denen hören wir kaum zu.

Ich habe in den letzten Tagen und Wochen ernsthaft solche Dinge gelesen wie: Es gibt nur zwei Geschlechter. Alles andere ist ein "Fehler der Natur".

Und da zeigt es sich für mich. Eigentlich wissen alle, dass es noch etwas anderes gibt als zwei Geschlechter. Aber ob wir diejenigen, die es auch noch so gibt, als "Fehler", "Geschenk" oder einfach "Mitmensch" sehen – das ist hier die Frage, über die debattiert wird (ohne, dass es ausgesprochen wird).

Diejenigen, die heute sagen: "Boah, jetzt gibt es 60 verschiedene Geschlechter!", die kennen eigentlich selbst schon lange 60 verschiedene Geschlechter. Aber statt nichtbinär, transmaskulin oder demigirl möchten sie einfach lieber wieder die Geschlechterbegriffe verwenden, die sie seit Jahrzehnten nutzen, um andere abzuwerten:

Mannsweib, Tunte, Zicke, Tussi, Schwächling, Weichei, Kampflesbe ... ich könnte hunderte Begriffe aufzählen, die nur eine Funktion haben: beleidigend das Geschlecht einer Person als nicht prototypisch männlich oder weiblich zu diffamieren.

Wenn es um Gemeinheit geht, dann kann es gar nicht genug Geschlechterbegriffe geben ... so scheint es.

Jetzt könnten wir den ganzen Sommer lang diskutieren, wie viele Geschlechter es nun gibt. Wir können es wie in den USA und Großbritannien machen und Kämpfe austragen über die Rechte von Menschen, bei denen das Geschlecht nicht so eindeutig ist wie bei anderen. Und wir können suggerieren, dass jede Person, bei der etwas anders ist als es das Biologiebuch darlegt, niedere Beweggründe habe, sich für "das andere Geschlecht" auszugeben: Kriminelle Energie, sexuelle Motive, psychologische Komplexe, Minderwertigkeitsgefühle und sonst noch was.

Wir kennen diese Zuschreibungen ebenfalls seit Jahrzehnten. Und wissen, dass sie nur zeigen, wie viel Angst vor dem Unbekannten dahinter steckt. Wir blenden dabei einfach aus, dass es das gibt in der Natur: Menschen, bei deinen etwas nicht genauso ist wie bei einem biologischen Prototyp.

Diese Diskussion bewirkt mehrere Dinge: Eine Teilung der Gesellschaft, die aus nichts anderem resultiert als aus Fehlinformationen. Sie ist der Boden für Gewalt, Diskriminierung, psychisches Leid, Selbstgefährdung und Schmerz, unter denen die diskriminierten Gruppen und wir alle als Gesellschaft zu leiden haben werden.

Jeden Tag spreche ich mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die nicht ganz genau Prototyp A oder Prototyp B sind, die aber auch nicht in Schublade "anders" gesteckt werden möchten. Ich sehe sie leiden, wenn ihr Umfeld jeden ihrer Schritte hinterfragt: Ich sehe sie aufblühen, wenn ihr Umfeld signalisiert:

Ich weiß, dass du bist, wer du bist. Und ich weiß, dass es Teil der menschlichen Biologie ist, dass es Menschen gibt wie dich. Du bist genauso normal wie ich. Und du bist genauso gut, so wie du bist.

Ich sehe, wie die Jugendlichen wahrnehmen, dass sie nun auch gesamtgesellschaftlich diskutiert werden. Als seien sie möglicherweise doch nur eine kollektive Wahnvorstellung. Dabei wünsche ich mir, dass sie sie sein können, ohne Debatte. Als Person, die cis ist, kann ich überall hingehen und meine Identität wird nicht hinterfragt. Für Personen, die trans sind, ist das noch nicht so.

Nicht jede:r muss 60 verschiedene Violetttöne auseinanderhalten können. Aber abzustreiten, dass es sie gibt, ist völlig absurd.

Ich wünsche mir, dass wir hier die Abkürzung nehmen können, dass wir die Diskussionen "Gibt es mehr als zwei Geschlechter?" sein lassen, die Kommentarspalten schließen könnten und es stattdessen ein paar wirklich gute Wissenschaftssendungen geben würde, die sich dem Thema Geschlecht in seiner Komplexität widmen. Wir brauchen alle mal dringend ein Update."

Tipp: Der Bundesverband Trans* (BVT* e. V.), die Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti e. V.), TransInterQueer (TrIQ e. V.) und Inter*Trans*Beratung Queer Leben haben die Petition "Gegen trans*feindliche Berichterstattung, für einen respektvollen und sachlichen Umgang" gestartet, die sich an alle deutschen Medienschaffenden richtet. Unterschreiben geht hier.

Brigitte

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