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Der Feind in weiß? Warum sich viele dicke Menschen nicht zum Arzt trauen

Der Feind in Weiß? Warum sich viele dicke Menschen nicht zum Arzt trauen
© Iryna / Adobe Stock
17 Millionen Menschen in Deutschland sind zu dick – der Gang zum Arzt ist für viele eine Überwindung. Denn: Häufig werden dicke Menschen stigmatisiert, ihre Leiden werden auf das Gewicht reduziert und wichtige Untersuchungen bleiben aus. Hinzu kommt: Aufgrund des "Lifestyleparagrafen“ müssen die Kosten einer Therapie zur Abnahme oft selbst getragen werden.

Das Patient:innen-Gespräch gehört zwar zum Medizinstudium dazu, jedoch fehlt es vielen Studierenden gerade dann an Empathie und einer vorurteilsfreien Begegnung, wenn die Patient:innen mehrgewichtig sind. Das zeigte auch eine Untersuchung der Universität Tübingen aus dem Jahr 2019. Hier wurden Adipositasanzüge verwendet, um einen möglichst realistischen Eindruck der Gespräche zu schaffen und zu ermitteln, ob diese Art der Ausbildung sinnvoll wäre.

Bereits Medizinstudierende haben Vorurteile gegenüber dicken Menschen

Für den speziellen Kurs schlüpften 13 Angestellte der Universität in einen speziellen Anzug, der eine Grad 2-Adipositas simulierte – das entspricht einem BMI von 35 bis 39,9. Im Kurs mimten die Mitarbeiter:innen eine Person mit Typ-2-Diabetis, die sich zu einem regelmäßigen Nachsorgetermin bei dem:der Arzt:Ärztin vorstellte und im Gespräch dann die Schwierigkeit offenbarte, die sie mit den Empfehlungen des:der Arzt:Ärztin hatte, sich körperlich zu bewegen, gesünder zu essen und die Medikamente regelmäßig einzunehmen.

Vielen der teilnehmenden Medizinstudierenden gelang es nicht, bei einer Person mit Adipositas vorurteilsfrei zu bleiben, zeigten die Antworten des "Anti-Fat Attitudes Test" (AFAT), der im Anschluss an die Simulation durchgeführt wurde. Zustimmung bekamen unter anderem Aussagen wie: "Wenn dicke Leute wirklich abnehmen wollen, schaffen sie es" oder "dicke Leute haben keine Willenskraft" oder "die meisten fetten Leute sind faul". Die Medizinstudierenden stimmten diesen drei Aussagen häufiger zu als ihre Ausbilder:innen und die Mitarbeiter:innen, die den Anzug trugen. Viele Studierende vertraten ebenfalls die Ansicht, dass "die meisten fetten Leute Ausreden haben, warum sie fett sind" oder "die Idee, dass Gene Menschen fett machen, ist nur eine Ausrede" sei.

Dicke Menschen gehen häufig erst viel zu spät zum:zur Arzt:Ärztin

Unter solchen Voraussetzungen fällt es vielen schwer, medizinisches Personal aufzusuchen – sogar dann, wenn Schmerzen sie plagen. Eine Übersichtsarbeit der Yale Universität zeigte bereits vor einigen Jahren, wie sich die Benachteiligung von dicken Menschen in ärztlichen Behandlungen niederschlage. Das Fazit: Für mehrgewichtige oder gar adipöse Patient:innen nehmen sich Ärzt:innen deutlich weniger Zeit als für dünne. Sie werden weniger aufgeklärt und egal ob Bluthochdruck, ein verstauchter Fuß oder die langjährigen Allergien: Die Ursache ist immer das Mehrgewicht.

Viele mehrgewichtige Menschen haben bereits ähnliche Erfahrungen gemacht, ein Gang zum:zur Arzt:Ärztin ist eine Überwindung. Bei vielen führt die Scham und die Angst vor weiteren Diskriminierungen dazu, dass sie gar nicht oder teilweise viel zu spät zu einer Untersuchung gehen. Denn nicht nur die Aussagen des medizinischen Personals sind verletzend, auch die fehlende Ausstattung bringt Komplikationen mit sich. Blutdruckmanschetten sind viel zu eng, Tische für mehr Gewicht nicht ausgelegt oder die Liegen zu schmal. Studien zeigen ebenfalls, dass mehrgewichtige Personen Vorsorgeuntersuchungen seltener wahrnehmen.

Therapien zum Abnehmen müssen häufig selbst gezahlt werden

Beschäftigt man sich dann intensiver mit Maßnahmen zur Gewichtsreduzierung stellt man schnell fest: Es fehlt an angemessenen Therapien. Auch wenn eine Gewichtsreduktion längst nicht jedes Leiden heilen kann, kann sie dennoch bei einigen dazu beitragen ein gesünderes Leben zu führen. Doch muss hier unterschieden werden zwischen ein paar wenigen Kilos, damit die Jeans wieder passt und einer Abnahme bei Adipositas – also starkem Mehrgewicht – beides hat absolut seine Berechtigung, die Herangehensweise ist jedoch eine andere.

Zwar gibt es bereits Therapiemöglichkeiten, nur werden diese wenig genutzt. Unter anderem liege es daran, dass sie sich nicht jede:r leisten kann. Beispielsweise muss für eine Ernährungsberatung ein gewisser Teil selbst gezahlt werden – der schnell mehrere hundert Euro betragen kann. Eine medikamentöse Unterstützung der Gewichtsreduktion würde vielen Mehrgewichtigen helfen, doch werden diese nicht von der Krankenkasse gezahlt. Der Grund: Durch die Anwendung stehe eine "Erhöhung der Lebensqualität im Vordergrund". Der sogenannte "Lifestyleparagraf" (Paragraf 34, Absatz 1 im Sozialgesetzbuch V.) verbiete es den Kassen jedoch, genau solche Anwendungen zu zahlen. Erst wenn die Folgeschäden – Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und weitere – auftreten, dann zahlt die Krankenkasse die Medikamente gegen die Folgeerkrankungen und mögliche Eingriffe. 

Die Gesellschaft des Überflusses macht es Adipösen nicht leichter gesund zu leben

Hinzu kommt, dass "eine wirksame Therapie möglichst individuell gestaltet werden" sollte, sagt Christina Holzapfel, Forschungsgruppenleiterin am Institut für Ernährungsmedizin der Technischen Universität München, so das "RedaktionsNetzwerk Deutschland".

Das Zusammenspiel aus einem Spektrum an medizinischen Hilfen für Betroffene und politischen Rahmenbedingungen, die es Menschen erleichtern, einen gesunden Lebensstil zu verfolgen, sind wichtig auf dem Weg in eine gesunde Gesellschaft. Der Überfluss verschärft das Problem. "Wir brauchen mehr Transparenz bei Lebensmitteln durch eine bessere Kennzeichnung und ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel – insbesondere für Kinder", sagt Hans Hauner, Direktor des Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München. Denn: Adipositas ist nicht mehr nur ein medizinisches, sondern längst ein gesellschaftliches Problem.

Ein Bündnis von Verbraucher- und Kinderschutzorganisationen fordert jetzt Werbung für ungesunde Lebensmittel zwischen 6 und 23 Uhr einzudämmen, beziehungsweise zu verbieten. Sie gehen noch weiter und fordern rund um Schulen eine "100-Meter-Bannmeile" für Werbeplakate und das Influencer:innen auf den Social-Media-Plattformen nur noch Werbung für gesunde Lebensmittel machen dürfen.

Verwendete Quellen: bmjopen.bmj.com, rnd.de, editionf.com

Brigitte

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