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Annalena Baerbock "Wenn man sich immer nur von anderen treiben lässt, ist man ein Fähnchen im Wind"

Annalena Baerbock
Außenministerin Annalena Baerbock, 42, wurde in Hannover geboren, die Mutter ist Sozialpädagogin, der Vater Ingenieur. Sie hat Politik und Internationales Recht studiert und war vier Jahre Grünen-Parteivorsitzende. Sie ist verheiratet, ihre Töchter sind 2011 und 2015 geboren. Die Familie lebt in Potsdam, ihrem Wahlkreis.
© Sebastian Reuter / Getty Images
Annalena Baerbock ist die beliebteste Politikerin Deutschlands – und für manche eine Provokation. Zwei Jahre ist sie jetzt im Amt. Wie hat die Zeit sie verändert? Wir haben sie auf Reisen begleitet und auf der BRIGITTE LIVE-Bühne gesprochen.

An einem Donnerstagvormittag Ende Juni, nach einem Zehn-Stunden-Flug von Berlin in die Mongolei, betritt Annalena Baerbock mit der aufgerichteten Haltung einer Tänzerin den roten Teppich zum Regierungshaus in Ulan Bator. Den Stil ihres bunten Sommerkleides wird die "Bild"-Zeitung später als modern und "clean, mit Details" beschreiben; die hohen Absätze, die bei öffentlichen Auftritten auch eine gewisse Fallhöhe mit sich bringen können, scheinen für sie eher Ansporn, noch konzentrierter ihren Weg zu gehen.

Im Juni 2023 in Ulan Bator mit Amtskollegin Battsetseg Batmunkh.
Im Juni 2023 in Ulan Bator mit Amtskollegin Battsetseg Batmunkh.
© photothek / Thomas Trutschel / imago images

Man kann viel hineininterpretieren in diesem kurzen Moment, in dem die deutsche Außenministerin auf das zweitägige Treffen im Hochland Zentralasiens mit einer Gruppe Amtskolleginnen zusteuert, denn er repräsentiert die Art, wie sich Annalena Baerbock häufig auf der weltpolitischen Bühne bewegt: forsch, leicht schwebend, maßvoll lächelnd, fokussiert, aufmerksam.

Annalena Baerbock zu Besuch in der Ukraine
Beim Besuch in Butscha, Ukraine, im Mai 2022 

© ASSOCIATED PRESS | Efrem Lukatsky / Picture Alliance

Diplomatie, das ist ein kleiner Schritt nach dem nächsten, um den Weg für den übernächsten vorzubereiten, der dann eines Tages und im besten Fall die ganz großen Ziele möglich macht: die globale Klima-Kooperation zum Beispiel, die internationale Ächtung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine oder die feministisch ausgerichtete Außenpolitik, die bei jeder Entscheidung die Bedürfnisse von Frauen im Blick hat. Diese drei Themen definieren Annalena Baerbocks Agenda, und am zufriedensten macht sie, wenn sie sie miteinander verzahnen kann. Wie hier, in der Mongolei, wo es ihr später, in der Abschlusserklärung, gelingt, dass auch das zu Kriegsbeginn Putin-zugeneigte Südafrika und die von russischen Öl-Importen abhängige Mongolei die Formulierung "Krieg gegen die Ukraine" (und nicht, beispielsweise, die deutlich harmlosere "Ukrainekonflikt") mitunterzeichnen.

Annalena Baerbock zum Flugzeug
Annalena Baerbock im Oktober 2023 auf dem Weg nach Israel, ihr erster Besuch in der Region nach dem Hamas-Überfall.

© photothek / Florian Gärtner / imago images

Zwei Jahre im Amt: Eine Zeit voller neuer politischen Lagen

Annalena Baerbock in Südafrika
In Südafrika, Juni 2023, mit Amtskollegin Naledi Pandor.
© photothek / Thomas Koehler / imago images

Für solche diplomatischen Mikro-Erfolge fliegt sie um die Welt, unermüdlich, fast so, als würde sie noch Energie aus all diesen Strapazen ziehen. Hält noch kurz vor Mitternacht ein Pressebriefing an Bord der Regierungsmaschine nach Ulan Bator ab, obwohl es ihr zweiter Langstreckenflug an diesem Tag ist, erst am Morgen war sie aus Südafrika zurückgekommen. Beantwortet Fragen und kommt dabei ins Erzählen, dass sie sich fast selbst bremsen muss, um überhaupt noch etwas Schlaf zu bekommen. "Eine letzte Anekdote", kündigt sie an, und erzählt, was man als Außenministerin erlebt, wenn man die Leitlinien-Broschüre zur feministischen Außenpolitik in der arabischen Welt verteilt. Nämlich auch das: Wohlwollen, sofern man die richtigen, das heißt unideologischen Argumente anführt, etwa, dass es doch jeder wirtschaftlichen Entwicklung zugutekommt, wenn sie auch Frauen einbezieht. So macht sie das inzwischen, Erfahrungswerte.

Zwei Jahre ist sie im Amt, eine Zeit mit rasanten politischen Eskalationen: Energiewende, Migrationsgesetze, Populismus, Waffenlieferungen, Inflation, China, Ukraine, Nahost. Vor die Welle kann man in so einer Lage nicht kommen, aber nur dahinter aufzuräumen, wie manche ihrer Vorgänger, das ist nicht ihr Stil. Dafür ist sie zu ambitioniert, sind ihre Vorstellungen von werteorientierter Politik zu unabdinglich.

Dass sie ihre Rolle schnell finden würde, war schon sechs Wochen nach Amtsantritt bei ihrem Besuch in Moskau zu beobachten. Während Russland riesige Truppenkontingente an den ukrainischen Grenzen zusammenzog, reiste sie an mit einer, wie sie sagte, "dicken Gesprächsmappe" voller Probleme, bei denen es "große, teils fundamentale Meinungsverschiedenheiten" gab. Dass sie es ernst meinte mit ihrer Warnung vor Kriegstreiberei, gab sie ihrem Amtskollegen Sergej Lawrow deutlich zu verstehen, inklusive eines schweigenden Abgangs nach der gemeinsamen Pressekonferenz. Lawrow habe sie, kommentierte der "Tagesspiegel" später, erstaunt und intensiv angeschaut, "wie ein Wissenschaftler eine neue Spezies begutachten würde".

Annalena Baerbock in Moskau
Im Januar 2022 in Moskau, mit Sergej Lawrow.
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Ein einzigartiger Stil: jung und unverbogen

Das war ihr Stresstest im neuen Amt, der Wendepunkt in ihrem Ansehen. Kurz vorher noch hatten zwei von drei Deutschen ihr nicht zugetraut, Deutschland international zu repräsentieren – Frau, gerade 40, ohne Regierungserfahrung. Was im Wahlkampf ihr Alleinstellungsmerkmal gewesen war und den Grünen zunächst einen ungekannten Höhenflug beschert hatte (Frau!, jung!, unverbogen!), galt plötzlich als Makel, befeuert vom konstanten Abfeiern jedes Versprechers, jedes Fake-Videos in den sozialen Medien.

Annalena Baerbock im BRIGITTE-Talk
Annalena Baerbock (Mitte) im Oktober in Berlin, im Gespräch mit BRIGITTE-Chefredakteurin Brigitte Huber (l.) und Chefreporterin Meike Dinklage.
© Sebastian Reuter / Getty Images

Sie spüre den Gegenwind, hatte sie im Juli 2021, zu Gast in der Gesprächsreihe BRIGITTE LIVE in Berlin, gesagt, und man merkte damals, dass sie den Kopf oben behalten wollte, aber, wenn nicht angezählt, doch ohne ihre übliche Selbstgewissheit war. Sie bekomme mitgeteilt, dass sie für manche eine Zumutung sei, sagte sie. Aber sie werde "klare Kante zeigen": "Wenn man sich immer nur von anderen treiben lässt, ist man ein Fähnchen im Wind." Damals klang es nach Selbstbeschwörung, als würde sie sich im Dunklen Mut zupfeifen. Kurz danach ging sie in Urlaub, weg vom Geraune, man werde sie als Kandidatin noch austauschen gegen Robert Habeck, der den Tag ihrer Nominierung als den schmerzhaftesten seiner eigenen politischen Laufbahn bezeichnet hatte.

Heute wirkt das alles vergessen. Sie pflegt ihren Stil, der ist, wie sie geht: auf handfeste Art elegant. Sie kann Protokoll, aber sie kann auch mal einen raushauen, etwa im MeToo-Fall des spanischen Frauenfußball-Trainers Rubiales, als sie anmerkte, man müsse sich nur mal vorstellen, Angela Merkel hätte 2014 Philipp Lahm so geküsst. "Ohne Ecken und Kanten wäre man todlangweilig, deswegen ist das aus meiner Sicht nichts Negatives", sagt Annalena Baerbock im Oktober 2023, als sie erneut in Berlin zu Gast ist auf der BRIGITTE LIVE-Bühne. Sie wirkt nicht mehr hadernd und vorsichtig, sondern sprudelnd, offen, on. Erzählt von ihren Töchtern, die nicht glauben konnten, dass es seine Richtigkeit hat, dass aus der Baustelle vorm Haus nur Männer arbeiteten, weil es doch ihrem Bild von Gleichberechtigung zuwiderläuft; erzählt vom Tote-Hosen-Konzert in Berlin, auf das sie sich mit ihrem Mann "im Dunklen" schleichen konnte, ohne dass es jemand mitbekam; erzählt, dass sie den Kopf frei bekommt, wenn sie einfach mal mit ihren Kindern Playmobil spielt.

Mit Ehemann Daniel Holefleisch
Mit Ehemann Daniel Holefleisch im April beim Bundespresseball.
© dpa | Annette Riedl / Picture Alliance

Sie fühlt für die ganze Nation mit

Am folgenden, sehr frühen Morgen fliegt sie nach Israel, der erste Besuch nach dem Hamas-Überfall. Sie trifft sich mit Angehörigen verschleppter Deutscher, die Fotos der Vermissten in Händen halten. Wie sie einem Vater während eines Pressestatements den Arm auf die Schulter legt, solche Szenen brennen sich ein. Wie viele Bilder, die sie mit Verwundbaren, Kindern, Frauen, Vertriebenen überall auf der Welt zeigen. Sie will diese Bilder schaffen, sie sind nicht inszeniert, aber ihre Besuchsprogramme sind auch so angelegt, dass sie entstehen können. Weiche Momente in härtesten Krisen, die Baerbocks Gefühle zurückwerfen sollen auf die Handy-Displays und Bildschirme in Deutschland, damit niemand mehr zweifelt, ob man Waffen liefern, sich uneingeschränkt auf die Seite Israels stellen oder Vergewaltigung im Krieg verurteilen sollte. Baerbock fühlt dann für die ganze Nation mit. Dass sie auch als Mutter auf die Dinge blicke, als Mutter fühle, sagt sie oft auf ihren Besuchen. So was kann einzahlen auf weibliche Klischees, Glaubwürdigkeit kosten, wenn man es nicht gut dosiert. Bei Baerbock funktioniert es als eine Art Bonus, weil es ihre offizielle Rolle nicht infrage stellt.

Anna Lena Baerbock in Israel
lm Oktober im südisraelischen Ort Netiwot nahe Gaza, mit Außenminister Eli Cohen.
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Annalena Baerbock
Beim anschließenden Treffen mit Angehörigen verschleppter Deutscher.
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Einen Großteil ihrer Agenda liefern ihr die im März vorgestellten Leitlinien zur feministischen Außenpolitik. Ihr sei klar gewesen, dass schon das Wort "feministisch" triggern werde, sagt sie im BRIGITTE-Gespräch. "Es hat dann auch enorm getriggert, bei einigen Herren insbesondere. Aber das war gut so. Hätte ich es schwammiger formuliert, hätten sich die meisten nicht dafür interessiert." Es habe "richtig was verändert", zum Beispiel werde bei jeder finanziellen Entscheidung im Außenministerium nun genau geschaut, ob das Geld allen, auch Frauen und Kindern, zugutekommt. "Anfangs wurde mir vorgeworfen, als deutsche Frau anderen die Welt erklären zu wollen", sagt sie. "Aber ganz im Gegenteil: In Südafrika sagte man mir: Endlich habt ihr es auch verstanden." Frauenrechte, das sei "der Gradmesser für den Zustand von Gesellschaften, und ein Rollback bei Frauenrechten stellt Demokratien infrage." Wie in Russland: "Da war zu sehen, wie zuerst die Frauenrechte abgebaut wurden, etwa mit der Entkriminalisierung häuslicher Gewalt 2017. Das war der Beginn für den Abbau ganz vieler demokratischer Rechte."

Feminismus, Geostrategie – wie in einer Parallelwelt wirkt Baerbock manchmal, auch in Anbetracht der Entwicklung ihrer Partei, der sie vier Jahre vorstand. Den Grünen haben die vielen Kompromisse und der rechthaberische Streit in der Koalition geschadet; das "Erwachen in einer anderen Welt", von dem Baerbock am Tag nach dem Überfall Putins auf die Ukraine gesprochen hatte, war auch ein grünes Erwachen. Es verschob neben der friedens- auch die klimapolitische Programmatik.

"Es gibt Augenblicke, wo Kritiker einfach alles falsch finden, was man sagt und tut"

Instagram-Selfie
Instagram-Selfie im Hoodie der Initiative "Pulse of Europe".
© instagram.com/abaerbock / Instagram

Längere Atomlaufzeiten, Energie-Deals mit menschenrechtsverletzenden Golfstaaten, aufgeweichte ökologische Bau- und Heizstandards – ihre Partei ist für manche zum Feindbild geworden, im bayerischen Wahlkampf flogen Steine auf die Spitzenkandidat:innen, das Heizungsgesetz hat das Image der Bevormundungspartei verstärkt. Baerbock kann all dem qua Amt entschweben. Nur beim verpatzten Flug nach Australien und Neuseeland im August, bei dem auch die BRIGITTE an Bord war, wurde ihre Reisetätigkeit selbst zum Dilemma. Eine grüne Ministerin, die viel Zug fahren und Linie fliegen wollte und dann in einem Regierungsflieger sitzt, der zwei Mal tonnenweise Kerosin ablassen muss – so was kommt nicht gut an. Baerbock wirkte zwar zunehmend ernüchtert in diesen zwei nahezu schlaflosen Tagen, hielt aber bis zuletzt an ihren Reise-Plänen fest, weil ihr der Besuch in der von China und Russland umschmeichelten Ozeanien-Region geo-strategisch wichtig ist. Dann musste sie schließlich, gestrandet in einem Hotel in Abu Dhabi, doch aufgeben. "Mehr als ärgerlich", twitterte sie.

Zwei Jahre noch. Wenn die Ampel-Koalition durchhält. Zwei Jahre, in denen sie verstärkt daran arbeiten will, Europa – auch vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine – friedlicher zu machen, denn "ohne Freiheit ist alles nichts, und das schaffen wir nur gemeinsam", sagt sie im BRIGITTE-Talk. Sie ist nach wie vor die beliebteste Bundespolitikerin, viele schätzen, dass sie Klartext rede, etwa wenn sie Chinas Präsidenten Xi Jinping einen Diktator nennt.

Annalena Baerbock und Olaf Scholz
Im Oktober 2023 mit Kanzler Olaf Scholz am Rande des Macron-Besuchs in Hamburg.
© Political-Moments / imago images

Gleichzeitig wird sie hart angegangen – sie zerschlage zu viel Porzellan, moralisiere zu viel. TV-Philosoph Richard David Precht bescheinigte ihr im Frühjahr "die moralische Inbrunst einer Klassensprecherin". Auch Kompromisse wird sie weiter eingehen müssen. Und sich dem Vorwurf aussetzen, ihre feministische Agenda sei nur eine Absichtserklärung, die sie im Ernstfall hintanstelle – wie im Fall ihrer zögerlichen Solidarität mit den Protesten der Frauen im Iran. Zu dem Zeitpunkt, wurde gemutmaßt, wollte sie ein damals noch für möglich gehaltenes Atomabkommen mit den Mullahs nicht gefährden.

"Es gibt Augenblicke, wo Kritiker einfach alles falsch finden, was man sagt und tut", sagt sie. "Dann liest man eben mal keine Presse, keine Social-Media-Kanäle, um die Freiheit zu haben, wirklich für sich selber zu entscheiden, was zu tun ist."

Brigitte

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