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"Lasst Merkel doch zittern": Wieso es an der Zeit ist, die Kanzlerin in Ruhe zu lassen

Angela Merkel erleidet immer wieder Zitteranfälle
© Adam Berry / Getty Images
Angela Merkel erlitt ihren dritten Zitteranfall in der Öffentlichkeit. Alle schauen zu. Dabei bin ich der Meinung, dass es an der Zeit ist, wegzuschauen.

Vor etwa drei Wochen sahen wir Angela Merkel das erste Mal zittern. Beim Empfang des ukrainischen Präsidenten Selenskyj am 18. Juni in Berlin bebte die Kanzlerin am ganzen Körper. Das Szenario wiederholte sich neun Tage später bei der Ernennung der Justizministerin Christine Lambrecht. Nun folgte gestern ein erneuter Empfang und mit ihm ein weiterer Zitteranfall. Diesmal hatte Merkel den finnischen Ministerpräsidenten Antti Rinne begrüßt.

Die Welt sorgt sich. Die Medien spekulieren. Auch mich lassen die Videoaufnahmen einer labilen Merkel nicht kalt. Doch neben Sorge macht sich langsam Wut in mir breit.

Angela Merkel: Dritter Zitter-Anfall

Über Zitteranfälle zu reden, macht sie nicht besser

Denn seit den Zitteranfällen sprießen vermeintliche Expertenmeinungen aus dem Boden wie Unkraut. Leidet die Kanzlerin an einer schweren Krankheit? Ist die Hitze schuld? Sind die Ursachen psychischer Natur?

Ein BILD-Redakteur betitelt das Zittern nun als "hässliches Sinnbild“ für einen verpassten Ausstieg aus der Politik. Wenn ich solche Worte lese, bin ich erschüttert. Ja, es handelt sich um die deutsche Bundeskanzlerin. Ja, ihre Gesundheit liegt im öffentlichen Interesse. Ja, sie trägt Verantwortung für ein Land. Vor allem ist Angela Merkel aber ein Mensch. Ein Stück Menschlichkeit wünscht man sich derzeit aber vor allem von den Autoren derartiger Kommentare.

Die Gaffer in uns

Wie fühlst du dich, wenn Millionen Augenpaare auf dich gerichtet sind? Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich wäre unsicher. Und vermutlich würden auch meine Hände zittern. Würde mir dieselbe Situation jedoch mehrfach geschehen und ich würde immer wieder daran denken, nicht zittern zu dürfen, kann ich dir sagen, was passieren würde: Ungefähr das, was passiert, wenn man dir befiehlt, nicht an einen rosafarbenen Elefanten zu denken. Das Gegenteil. Wundern würde sich darüber keiner.

Keiner weiß, wieso Angela Merkel zittert

Nun deuten die Zitteranfälle der Kanzlerin tatsächlich auf eine gravierendere Ursache als Aufregung hin, doch der Grund, wieso sie so für Unruhe sorgen, ist ein anderer: Unsicherheit sind wir von der Kanzlerin nicht gewöhnt.

Im November ist Angela Merkel 14 Jahre im Amt. In dieser Zeit haben wir sie stoisch, aussitzend, erfreut, verärgert, ja bei so manchem Präsidententreffen gar genervt wahrgenommen. Schwäche zeigte Merkel hingegen fast nie.

Über ihre Amtszeit hat sie es sogar geschafft, für manche ein Symbol der Ruhe – Kritiker mögen es Stillstand nennen – darzustellen. Dabei hat man zwei Dinge fast vergessen:

Dass Angela Merkel bereits vor Jahren einen Zitteranfall in Mexiko erlitt, bei einem Empfang, während der Nationalhymne.

Und dass Angela Merkel ein ganz normales Lebewesen wie du und ich ist. Auch die Bundeskanzlerin hat einen Körper, und dieser gehorcht ihr aktuell nicht. Seien die Ursachen physischer oder psychischer Natur, ist in diesem Moment völlig egal.Fakt ist: Wir wissen es nicht. Und Merkel möchte sich nicht dazu äußern. Das ist zu respektieren.

Lasst Merkel doch zittern

Wenn sich weltweit Zuschauer Sorgen machen, kann man nur mutmaßen, was die Kanzlerin selbst wohl empfinden mag, wenn sie die Kontrolle über den eigenen Körper einen Moment verliert – ich hätte Angst.

Zeigen tut sie diese jedoch nicht. "Es geht mir gut“, lässt sie stattdessen verlauten. Den Menschen reicht das nicht. Aber wer zeigt sich in der Öffentlichkeit schon gerne verletzlich? Ich jedenfalls nicht.

Alle sehen, dass Angela Merkel zittert. Lippenleser meinen sie ein mantraartiges "Ich schaffe das“ murmeln zu sehen, wie mehrere Medien nun berichten. Doch keiner sieht, was eigentlich passiert: Dort steht ein Mensch, der gerade mit erheblichen Problemen zu kämpfen hat. Der sich sichtlich unwohl fühlt.

Ja, irgendwann ist Angela Merkel der Bevölkerung eine Antwort schuldig – dann, wenn sie nicht mehr in der Lage ist, ihr Amt auszuführen. Bis dahin sind wir es ihr jedoch schuldig, ihr Zeit zu geben, sich um sich zu kümmern. Und ihr einen Stuhl anzubieten, wie es heute zumindest beim Empfang der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen der Fall ist. Vielleicht ist es gerade die äußere Ruhe, die die Kanzlerin braucht, um ihre innere wiederzufinden.

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