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Einblicke in die Mordkommission - ein Protokoll

Einblicke in Mordkomission - ein Protokoll: Rollen eines Schreibtischstuhls
© Chonlawut / Shutterstock
Martina Wolf*, 57, ist Protokollantin bei der Berliner Mordkommission. Ihr Job: Still bleiben – und das Grauen der Welt aufzeichnen. Wie hält man das aus? Protokoll einer Sinngebung

Die Frau im Dunkeln

DIE MEISTEN MENSCHEN WISSEN ÜBERHAUPT NICHT, dass es mich gibt. Und das ist gut so. Ich bin die graue Maus, die Frau im Hintergrund, die unsichtbar bleibt. Doch ich bekomme alles mit: Ich habe wohl schon in jeden menschlichen Abgrund geblickt. Seit vier Jahren arbeite ich als Protokollantin bei der Berliner Mordkommission, Abteilung "Delikte am Menschen". Davor war ich in einem Verlag tätig. Insgesamt sind wir sechs Protokollantinnen. Warum das nur Frauen sind, weiß ich nicht. Wahrscheinlich weil es ein Bürojob ist. Man muss für diese Arbeit schnell tippen können. Das ist die eine Grundvoraussetzung. Die andere ist: Bereitschaftsdienst, man muss für eine Vernehmung auch mal nachts um zwei ins Büro fahren. Und man sollte eine gewisse Reife mitbringen. Ich habe zwei erwachsene Söhne und schon einiges erlebt. Mich haut so schnell nichts um.

Beim Eignungstest musste ich eine Vernehmung protokollieren, die über ein Aufnahmegerät abgespielt wurde. Es ging um einen Kannibalenmörder, der seine grausigen Taten schilderte. Wie er das gemacht hat, wie lange die Opfer lebten, bis er sie tötete. Es war schrecklich. Und das war die Messlatte: Wenn ich es schaffe, bei dem Thema stoisch weiterzutippen, kann man mir den Job wohl zumuten. Aber ich war überhaupt nicht schockiert, weil ich so damit beschäftigt war, alles richtig zu machen.

Ich bin für die meisten Menschen niemand Offizielles, sondern irgendwas dazwischen, eine, die auf keiner Seite steht.

An meinem ersten Arbeitstag standen Blumen in meinem Büro, die Wände waren frisch gestrichen. Ich war gerührt und fühlte mich willkommen. In meinem Büro finden auch die Vernehmungen statt. Es ist kein düsterer Ort, wie es im Fernsehen manchmal aussieht, sondern mit hohen Fenstern, Pflanzen und einem Sofa, auf dem ich mich nachts mal hinlegen kann. Aber keine Bilder, nichts, was ablenken könnte. Die Wände sind gedämmt. So kann nichts nach draußen dringen und umgekehrt. Bei einer Vernehmung sitze ich zwischen den Parteien hinter meinem Bildschirm: links von mir der Kommissar oder die Kommissarin, rechts der Beschuldigte oder Zeuge. Manchmal sitzen noch Rechtsanwalt oder Dolmetscher dabei. Ich bin für die meisten Menschen niemand Offizielles, sondern irgendwas dazwischen, eine, die auf keiner Seite steht. Das hat für viele der Befragten etwas Beruhigendes. Ich strahle keine Macht aus, keine Autorität. Ich bin jemand, der wie sie nichts zu sagen hat.

WÄHREND ICH SCHREIBE, kann der Kommissar auf seinem Bildschirm mitverfolgen, was ich aufzeichne: Alles, was gesagt wird, aber auch Emotionen, Verhaltensweisen, ob einer lacht, weint, schluchzt, mit der Faust auf den Tisch haut, aufsteht, stark schwitzt. Ich beobachte neben dem Zuhören genau. Nur werten darf ich nicht. Ob einer "hämisch" lacht, "widerlich" ist, so etwas gehört nicht ins Protokoll. Ich kann den Kommissar aber darauf hinweisen, wenn mir etwas auffällt, dann schreibe ich das auf, er liest ja alles mit. Ob einer lügt zum Beispiel. Man kann das manchmal erahnen, wenn jemand nach unten blickt oder plötzlich seine Körperhaltung verändert.

Man muss versuchen die Geschichten hinter jeder Tat zu erkennen

Wir haben hier schon sechs Stunden gesessen. Einfach weil ein Sachverhalt so komplex ist. Es geht nicht darum, so lange zu fragen, bis einer gesteht, sondern bis man etwas begreift. Wir erzwingen nichts. Als Beschuldigter hat man das Recht zu schweigen. Das kommt auch vor, und dann stehen alle nach ein paar Minuten wieder auf. Viele wollen es jedoch einfach loswerden. Die sagen: Ich hab’s gemacht, Geschichte zu Ende, neues Kapitel. Ich will nur noch in den Knast, und dann ist gut. Für die ist es eine Erleichterung, dann müssen sie das schwere Gepäck der Schuld nicht mehr mit sich schleppen. Die schildern ganz detailliert, was sie gemacht haben, wo und warum.

Das sind keine Monster, sondern meistens ganz normale Menschen. Keiner geht einfach so los und mordet. Der eine ist psychisch krank, der andere so verzweifelt, dass er keinen anderen Ausweg sah. Jede Tat ist eingebettet in Umstände. Ganz oft ist Angst ein Motiv. Angst vor zu Hause, dem Ehemann, vor Drogendealern, Zuhältern oder pure Existenzangst. Man muss die Geschichte hinter einer Tat suchen. Das entschuldigt sie nicht, doch es erklärt sie vielleicht. Es gibt aber auch Menschen, die einfach nur böse sind, Soziopathen, eiskalte Raubmörder. Wenn die erzählen, wie sie jemanden auf grausame Weise getötet haben, läuft auch bei mir ein Film vor meinem inneren Auge ab. Aber ich bin so darauf konzentriert, alles festzuhalten, dass ich das nicht bewusst erlebe. Erst hinterher holt es mich ein. Es ist dann gut zu wissen, dass diese Menschen eine Weile nicht auf die Straße können. Mir sind noch nie Tränen gekommen bei einer Vernehmung. Weil ich das nicht zulasse. Es geht nicht um mich und meine Gefühle. Nur einmal konnte ich nicht mehr. Ich musste im Dezernat für Kindesmissbrauch aushelfen, es ging um ein Kind, das im häuslichen Umfeld missbraucht worden war, also in der eigenen Familie, da, wo es am verletzlichsten ist. Ich führte Protokoll bei der Vernehmung des Kindes. Und danach bin ich aufgestanden und habe gesagt: Ich gehe jetzt, für heute reicht es. Ich bin dann raus, es war schönes Wetter, und habe mich in ein Straßencafé gesetzt. Lauter nette, fröhliche Menschen um mich. Licht und Leben.

Wir arbeiten hier für die Leute, die keine Stimme mehr haben, weil sie nicht mehr da sind. Dafür, dass das, was ihnen passiert ist, gehört wird.

Das mache ich immer, wenn mir ein Fall zu nah geht. Ich suche das Schöne. Ich gönne mir hinterher das dickste Stück Torte, eine Zigarette, einen Kaffee. Ich lasse es mir gut gehen und mich nicht runterziehen. Man darf sich das nicht zu Herzen nehmen, denn das kann wie ein Strudel sein, in den man hinabgezogen wird. Dann wird man verrückt. Deshalb trinke ich auch keinen Alkohol: Ich darf die Kontrolle nicht verlieren und die Gefühle von der Leine lassen. Denn das nützt keinem was. Das ist wie mein Mantra: Es nützt keinem, wenn ich mitleide. Es nützt nur etwas, wenn ich meine Arbeit gut mache.

ICH MUSS WIE EIN SPIEGEL SEIN. So ist die Wirklichkeit, schlimmer, als wir es uns vorstellen können, und das halte ich fest. Ich schaue nicht weg, ich höre mir alles an. Wir arbeiten hier ja für die Leute, die keine Stimme mehr haben, weil sie nicht mehr da sind. Dafür, dass das, was ihnen passiert ist, gehört wird und damit Realität wird. Ich bin ein kleines Rädchen in einem Apparat, der dafür sorgt, dass das Grauen ans Licht kommt. Dass Recht geschieht und eine Tat gesühnt wird. Darum geht es: Es ist ein Dienst an den Toten. Neulich ist ein Täter gefasst worden, der ein Mädchen umgebracht hat. Das ist viele Jahre her, und so lange waren die Kommissare da dran, bis sie ihn endlich hatten. Wir sind jetzt mitten in der Vernehmung, und das wird dauern. Aber wir werden uns all die Zeit nehmen, die dafür nötig ist.

* Name von der Redaktion geändert

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