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Das allgegenwärtige Gefühl

Zukunftsangst ist so alt wie die Menschheit. Zuverlässig warnt sie uns vor Gefahren. Doch warum meldet sich die Zukunftsangst heute oft völlig grundlos oder wird sogar zu einem ständigen Begleiter?

Es war ein Donnerstag, 8.45 Uhr, die Sonne schien, wir wollten segeln gehen.

Zusammen mit einer Bekannten fuhr ich auf der Salzburger Autobahn von München in Richtung Chiemsee. Sorgenfrei und unbeschwert. Doch dann war schlagartig alles anders.

Ein Geisterfahrer schoss uns entgegen, kurz hinter Rosenheim. Blitzschnell fädelte ich mich von der linken in die rechte Spur ein. Wir zwei hatten Glück. Hätte unser Vordermann nicht genau in diesem Augenblick Gas gegeben, hätte die Lücke zum Einfädeln gefehlt. Wir hätten dem Auto des jungen Drogenabhängigen nicht ausweichen können. Doch so raste es in einen Wagen des bayerischen Rundfunks, nicht einmal hundert Meter hinter uns. Der Unfall kostete Petra Schürmanns Tochter Alexandra das Leben.

Seit diesem Morgen weiß ich, was es heißt, Angst zu haben. Ich brauchte Wochen, um wieder eine Nacht durchzuschlafen, Monate, um nicht mehr jeden Tag an den Geisterfahrer zu denken. Seit jenem 21. Juni 2001 bin ich nie wieder an dieser Stelle vorbeigefahren, ohne mich daran zu erinnern, wie schnell das Leben vorbei sein kann. Nicht nur für mich, auch für die Menschen, die ich liebe.

Angst ist eines unserer elementarsten Gefühle, da sind sich alle Forscher einig. Sie warnt uns machtvoll vor Gefahren und befähigt unseren Körper, in kürzester Zeit alle Reserven zu mobilisieren. Das Gehirn schüttet Botenstoffe wie die Stresshormone Adrenalin und Kortisol aus, die Körper und Geist außergewöhnliche Kraft verleihen. Zu Urzeiten mussten unsere Vorfahren blitzschnell entscheiden, ob sie fliehen oder kämpfen sollten, wenn ein Mammut auf sie zukam. Ich sah, als der Geisterfahrer auf mich zuschoss, alles viel schärfer als sonst, konzentrierte mich nur noch auf die rettende rechte Fahrspur. Eine kanadische Studie hat gezeigt: In solchen Momenten haben Menschen in allen Kulturen dieser Erde denselben Gesichtsausdruck - hochgezogene Augenbrauen und aufgerissene Augen. Das erweitert das Gesichtsfeld und verschafft bei Gefahr einen Überlebensvorteil.

Die Angst hat mich gerettet. Ich muss ihr dankbar sein. Doch seit damals begleitet sie mich, meldet sich, als diffuses Gefühl, auch ohne konkreten Anlass. Manchmal überfällt sie mich in der Nacht, wenn mein Mann auf Dienstreise ist. Dann liege ich wach und habe Angst, es könnte ein Anruf der Polizei kommen. Ein paar Monate nach dem Vorfall auf der Autobahn hatte tatsächlich jemand nachts um drei unsere Nummer gewählt, ein junger Mann, er hatte sich geirrt. Seine Entschuldigung habe ich noch mitbekommen, auch an die Flut der Erleichterung, die mich durchströmte, kann ich mich erinnern. Dann hatte ich einen Blackout: Ein paar Sekunden später fand ich mich ausgestreckt am Boden wieder, mit einer großen Beule am Kopf. Die Kinder mussten einen Arzt holen. Hatte das traumatische Erlebnis mit dem Geisterfahrer doch tiefere Spuren hinterlassen? Oder bin ich besonders ängstlich?

Vielleicht ist Angst aber auch einfach ansteckend. Experimente amerikanischer Forscher mit Angstschweiß legen diese Vermutung nahe. Doch egal ob sie sich tatsächlich über Geruchsbotenstoffe in der Luft ausbreitet oder nicht - Angst ist in unserer Gesellschaft inzwischen ständig präsent. Sie ist allgegenwärtig, ein permanentes Lebensgefühl, und das, obwohl wir sicherer, gesünder und friedlicher leben als jede Generation vor uns. Niemand muss mehr verhungern oder erfrieren.

Die Angst hat heute auch eine dunkle Seite. Längst ist sie nicht mehr bloß nützlich, sie hat ihre Qualität verändert. Sie warnt nicht mehr nur vor unmittelbaren Gefahren, sie übertreibt und polarisiert auch und behindert so nicht selten unsere Wahrnehmung der Welt. Sie erzeugt Misstrauen, Unsicherheit, neue Ängste. Sie lähmt uns, macht uns im wahrsten Sinne des Wortes ohnmächtig, so wie mich, mitten in der Nacht. Und im schlimmsten Fall wird sie zur alles beherrschenden Krankheit (siehe Kasten), macht sie Menschen das Leben zur Hölle.

Angst ist ein selbstverständlicher Teil des Alltags.

Genau betrachtet scheint sich die Angst heute zynischerweise vom elementaren zum luxuriösen Lebensgefühl gewandelt zu haben.

Furcht, so das Fazit der amerikanischen Essayistin Barbara Ehrenreich, muss man sich erst einmal leisten können. "In Gesellschaften, in denen es primär ums Überleben geht, ist Angst kein öffentliches Thema, sondern selbstverständlicher Teil des Alltags", sagt sie. "Ängste zu kultivieren gehört zum Luxus von Gesellschaften, die den permanenten Überlebenskampf überwunden oder an die Ränder verdrängt haben."

So generiert der Wohlstand übertriebene, zum Teil sogar alberne Ängste: Kaum fahren wir in den Urlaub, treibt uns die Furcht um, im falschen Hotel zu landen, wegen Montezumas Rache auf der Toilette statt am Strand zu sitzen, bestohlen zu werden und uns nicht genug zu erholen. Vielleicht regnet es sogar.

Die Angst, etwas zu verpassen, nicht das Optimum für uns herauszuholen, ist ständig präsent. Schon junge Menschen ziehen angesichts eventueller künftiger Schicksalsschläge den Kopf ein. Sie lebten in einem Dilemma zwischen "Versorgungsparadies und Zukunftsängsten", stellte das Rheingold-Institut in seiner Jugendstudie fest. "Das Leben in modernen Gesellschaften wird immer unübersichtlicher und erzeugt immer mehr psychische Abhängigkeiten", sagt der Münchener Psychologe und Autor Wolfgang Schmidbauer.

Wer viel hat, kann viel verlieren. Das schürt die Angst. Mühelos steigern wir uns in die Gedankenschleifen der Furcht hinein. Die Versicherungskonzerne profitieren davon. Berufsunfähigkeit, Unfall, Tod - wir versichern uns gegen alles, sogar gegen einen Reiserücktritt. Mit jeder zusätzlichen Police versuchen wir, dem Schicksal ein Stückchen mehr Sicherheit abzujagen. Versicherungen bescheren uns das Pseudogefühl der Omnipotenz. Leider fallen wir dann umso tiefer, wenn uns trotz regelmäßiger Beiträge ein Schicksalsschlag trifft. Gegen Geisterfahrer kann man sich nicht versichern. Gegen Alzheimer und Aids auch nicht, selbst wenn uns diese Vorstellung gefallen würde. "German Angst" - so nannten angelsächsische Intellektuelle Ende der 80er Jahre das Lebensgefühl der Deutschen. Zunächst tauchte dieser Begriff im Zusammenhang mit der zögerlichen Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands nach der Wiedervereinigung auf. Inzwischen steht er aber für wesentlich mehr: für eine bedenkenträgerische Ängstlichkeit, eine kollektive blockierende Lähmung.

Verzagtheit und Mutlosigkeit hatten sich in Deutschland schon vor Hartz IV und den Folgen der Globalisierung breitgemacht. Die Kölner Journalistin Sabine Bode, Autorin des Buches "Die deutsche Krankheit - German Angst", vermutet tiefe Narben in unserer Volksseele, die von traumatisierenden Kriegserlebnissen herrühren. Aus Scham über die Hitler- Diktatur und den Holocaust hät- ten es die meisten Familien ver- mieden, darüber zu sprechen.

Leid und Schuld seien nicht genug verarbeitet worden, so ihre These. Es sei eine Mischung aus "diffusen Gefühlen des Bedrohtseins, einer Angst vor dem Rückfall in die Barbarei und vor Verelendung" entstanden. Diese kollektive Last aus der Vergangenheit wurde zur Bürde für die Zukunft nachfolgender Generationen, also für mich und meine Kinder.

Inzwischen wird den Deutschen zwar schon wieder mehr Lässigkeit attestiert, sogar im Umgang mit der gegenwärtigen Wirtschaftskrise. Aber solche Veränderungen brauchen Zeit, bis sie sich nachhaltig im kollektiven Bewusstsein verankern.

Die Angst, so scheint es, mendelt sich durch. Dresdner Wissenschaftler haben unlängst einen familiären Zusammenhang bei Angsterkrankungen gefunden. Kinder betroffener Eltern haben demnach ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko, ebenfalls eine solche Störung zu entwickeln. Wie stark die Gene daran beteiligt sind, lässt sich nicht sagen. "Wir prüfen vor allem die Frage, über welche elterlichen Verhaltensweisen im Umgang mit Kindern diese außerordentliche Risikoerhöhung zustande kommt", sagt Professor Hans-Ulrich Wittchen, der die Studie leitet.

Leben ist auch mal Risiko.

Angst ist eben in erster Linie ein individuelles Gefühl - und eines, das in der frühesten Kindheit entsteht. Zu diesem Zeitpunkt graben sich Erfahrungen ins Gehirn, organisieren und strukturieren es mithilfe von Gefühlen wie Freude oder Angst. Doch: "Kinder haben heute überhaupt keine unbeobachtete Zeit mehr", klagt der renommierte dänische Familientherapeut Jesper Juul. Wie fühlt es sich an, auf einen Baum zu klettern? Was passiert, wenn man den Klassenstärksten provoziert? Kann man Regenwürmer essen? Wer solche Dinge ausprobieren kann, riskiert vielleicht mal ein blaues Auge oder einen verdorbenen Magen, lotet aber auch seine Grenzen aus. Und lernt schon früh, dass Leben nun mal Risiko ist und dass Umsicht Gefahren verringern kann. Wahrscheinlich würden wir unsere Kinder stärker machen, wenn wir uns weniger um sie sorgten. Und auch wir selbst würden ohne ständiges Uns-Sorgen- Machen besser leben.

Denn Angst tötet Kreativität und unterbindet Entdeckerlust - nicht nur in jungen Jahren. Und schlimmer noch: Sie versperrt den achtsamen Blick auf das Hier und Jetzt. Das, wovor wir uns fürchten, liegt immer in der Zukunft. Wer sich ständig das Hirn darüber zermartert, was ihm selbst oder seinen Angehörigen morgen alles zustoßen könnte, verlernt, die Gegenwart zu leben und zu genießen. Das Leben kann sich so oder so von einer Sekunde auf die nächste ändern.

Vor zwei Jahren erkrankte ein sehr guter Freund von mir an Krebs. Nach einer Operation und vier Monaten Chemotherapie war er ein anderer Mensch. Seitdem regt er sich über vieles nicht mehr auf, vieles ist für ihn einfach nebensächlich geworden. Manchmal kann Angst auch ein Lehrmeister sein. Sie kann uns daran erinnern, uns auf die Gegenwart zu besinnen und heute ganz präsent zu sein. Und uns auf das, was jetzt ist, zu konzentrieren und nicht allzu weit in die Zukunft zu denken. Auch das habe ich am 21. Juni 2001 begriffen.

Angststörungen: ganz normal - oder pathologisch panisch?

Angst ist eine natürliche Reaktion des Körpers. Wer vor einem Bewerbungsgespräch Bauchdrücken hat oder nachts wach liegt und sich um pubertierende Spätheimkehrer sorgt, ist nicht krank. Behandlungsbedürftig wird Angst erst, wenn sie sich verselbständigt, also auch ohne echte Bedrohung ausgelöst wird. Etwa neun Prozent aller Deutschen leiden derzeit an einer Angsterkrankung. Auf die gesamte Lebensspanne bezogen, machen sogar 15 Prozent aller Bundesbürger irgendwann eine Phase mit Angst durch, die behandelt werden muss. Frauen sind fast doppelt so häufig betroffen wie Männer.

Dabei unterscheiden Ärzte und Psychologen verschiedene Arten von Angststörungen.

1. Panikstörung: Plötzlich auftretende Angstanfälle ohne konkreten Anlass mit Herzrasen, Atemnot, Schmerzen in der Brust; manche Erkrankte befürchten, sterben zu müssen.

2. Phobien (griechisch "phobos" = Furcht): Heftige, unangemessene und irrationale Angstreaktionen auf bestimmte Reize, die als extrem beängstigend empfunden werden, obwohl sie ungefährlich sind. Dazu gehören zum Beispiel:

  • die Agoraphobie, die "Platzangst" vor öffentlichen Straßen, Plätzen oder Verkehrsmitteln;
  • die Klaustrophobie, die Angst vor geschlossenen Räumen wie Aufzügen, Kaufhäusern oder Kinos;
  • spezifische Phobien, Ängste vor bestimmten Gegenständen wie Spritzen, vor Tieren (z. B. Spinnen) oder vor Situationen (z. B. Flugangst);
  • die soziale Phobie, die Angst vor dem Umgang mit anderen Menschen; Betroffene verspüren Panik, wenn sie vor oder mit anderen sprechen müssen, sind extrem schüchtern und ziehen sich immer mehr zurück.

Angststörungen lassen sich in der Regel mit einer Verhaltenstherapie heilen. Dabei werden Patienten schrittweise immer wieder mit Situationen konfrontiert, vor denen sie sich fürchten. Manchmal helfen auch moderne Antidepressiva.

Mehr Infos dazu unter www.christoph-dornier-stiftung.de

Zum Weiterlesen:

"Ängste verstehen und überwinden" von Doris Wolf (2005, 226 S., 12,80 Euro, Pal Verlag);

"Das Angstbuch" von Borwin Bandelow (2006, 384 S., 9,95 Euro, Rowohlt Tb);

"Alles über Angst" von Christophe André (2009, 300 S., 19,95 Euro, Kreuz)

Text: Anne-Bärbel Köhle

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