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Wie viele Leben hat ein alter Tisch?

BRIGITTE WOMAN-Mitarbeiterin Judy Herzberg über einen Tisch, der vieles ertragen hat - ein alter Tisch mit Geschichte eben.

Ein alter Tisch erzählt viele Geschichten

Zeitlos schön ist er nicht, zu wuchtig, zu stillos, zu raumgreifend. Er löst Gefühle aus wie einst die Eiche, aus der er gemacht wurde: Ehrfurcht. Man würde nicht auf die Idee kommen, ihn eine "Antiquität" zu nennen (obwohl er eine ist) - darunter stellt man sich ein zierliches Biedermeier-Möbel vor oder ein edles Barock-Teil. Vielleicht war er aber genau nach dem Geschmack des Altonaer Kaufmanns, dessen Frau das Möbel zusammen mit der üblichen Aussteuer und einer unüblich großen Summe Goldmark mit in die Ehe brachte. Der Tisch bietet vielen Menschen Platz; er lässt sich ausziehen und in einem zweiten Vorgang ausklappen. Dann entspringen dem Ungetüm auf eine elegantzauberische Weise vier weitere Beine. Ein Tisch mit acht Beinen, an den locker 24 Menschen passen, aber auch die doppelte Menge, wenn alle etwas zusammenrücken. Und es waren viele Menschen, Männer mit gewichsten Stiefeln, eleganten Uniformen und Armbinden mit Hakenkreuzen, die um 1939 regelmäßig Gäste des Kaufmanns waren. Männer mit formvollendeten Tischmanieren. Die Nazis von Altona. Sie aßen und tranken und diskutierten, und einer von ihnen notierte akkurat in zackigem Sütterlin Namenskolonnen. Manchmal lugte ein kleiner Junge mit schwarzen Haaren und olivfarbener Haut durchs Schlüsselloch, um einen Blick auf den Großvater und seine Kameraden zu werfen. Was hätte er darum gegeben, einmal dabei sein zu dürfen, mit diesen Männern, an diesem Tisch! Denn was wusste der Dreijährige schon von völkischen Parolen und Denunziantentum und der systematischen Ermordung der Juden? Er wusste ja nicht einmal, dass er das war, was die Gäste der Großvaters in ihrem menschenverachtenden Nazijargon "Halbjude" genannt hätten, wenn sie die Wahrheit über den Vater des Jungen erfahren hätten.

Der alte Tisch überlebte die Zeit der Finsternis

Im Gegensatz zum Vater des Kindes überlebte der Tisch aus Eichenholz die Zeit der Finsternis. Stoisch hat er das braune Gesindel ertragen, allenfalls ein wenig geknarzt und, wenn Tische ein Gedächtnis haben (dieser hat ganz gewiss eines), an sein früheres Leben auf dem Hof eines reichen Großbauern auf der Insel Fehmarn gedacht. Auch dort stand er im Mittelpunkt, vor allem bei Festen. Das Schönste waren die Kindstaufen und Geburtstage. Und der Weihnachtsschmaus. Die ganze Familie saß an dem Tisch, dazu die Mägde und Knechte in ihrem Sonntagsstaat. Und die Kinder, alle hellhäutig und blond und blauäugig, langweilten sich bald, kippelten auf den Stühlen und hakelten unter dem Tisch mit ihren Stiefelchen. Oder krochen gleich ganz hinunter und kicherten. Ein Tisch, an dem man lachte, sich stritt und sich wieder versöhnte. Und die Verlobung der ältesten Tochter des Hauses mit dem unbescholtenem Altonaer Kaufmann feierte.

Der alte Tisch hat einen Fleck, in dem man viel hineinfantasieren kann

Unbescholten war dieser Mann nicht mehr, als der Krieg verloren war. Aber für einige war er doch ein Held, und so sah er sich auch: Hatte er nicht seinen jüdischen Enkel bei sich aufgenommen und so vor dem Abtransport bewahrt? Die Mutter des Kindes, die es mit Fleiß und Klugheit zu einer der ersten weiblichen Steuerberaterinnen der Stadt gebracht hatte, war jetzt die Besitzerin des Tisches, der ihr als Schreibtisch diente. Hier schrieb sie Zahlenkolonnen auf Zettel und Formulare. Und Briefe an den Suchdienst.

Sie war eine progressive Frau, wütend und kämpferisch. Sie kämpfte für ihre Mandanten, kleine selbständige Einzelhändler, die unter dem Druck von Immobilienspekulanten nach und nach ihre Geschäfte aufgeben mussten. Aus Wut darüber hat sie einmal ein Tintenfass umgestoßen. Die Tinte ergoss sich über das fein gemaserte Eichenholz. Ein riesiger Fleck, in den man bis heute vieles hineinfantasieren kann: ein Mammut, einen Nasenbär, einen Harry Potter mit weitem Umhang. Die Steuerberaterin schrieb lange Briefe an das Finanzamt, um für eine junge Mandantin, eine engagierte Journalistin, Steuern zu sparen. Diese Frau würde später in den Untergrund gehen und eine der meistgesuchten Terroristinnen Deutschlands sein. Das aber war zu einer Zeit, als der Tisch im Haus ihres längst erwachsenen Sohnes stand, der als Kind durchs Schlüsselloch gelinst hatte. Und wieder wurde der Tisch auf Geburtstagen herausgeputzt: mit einer weißen Tischdecke und bunten Smarties und Luftschlangen und Negerküssen und selbst gemalten Namenskärtchen. Eines der kleinen Mädchen, die zarteste von allen mit olivfarbener Haut und schwarzen, glänzenden Haaren, ist heute die Besitzerin des Tisches. Inzwischen selbst Mutter einer kleinen Tochter, lebt sie mit ihrer Familie in Bayern. An Wochenenden geht's hinaus aufs Land. Dort, in einem umgebauten Bauernhaus, steht der Tisch aus Eiche massiv. Und wenn er aus dem Fenster schauen könnte (dieser Tisch kann es ganz gewiss!), sieht er in der Ferne die Berge. Das Tintenfleck-Mammut ist verdeckt von einem kleinen eleganten Laptop. Und wenn die Mutter daran arbeitet, sitzt die Tochter daneben auf dem großen Tisch und schaut einfach zu. Platz ist ja genug.

Foto: iStockphoto Text: Judy Herzberg

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