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Überall nur Gesundheits-Apostel: Haben wir verlernt zu genießen?

Genuss
© Shutterstock / UfaBizPhoto
Früher gab es fette Torten und fette Fritten, heute kennt man nur noch Blutfettwerte. Unsere Autorin Evelyn Holst ist genervt: Genießen können ist eine Kunst geworden, die fast niemand mehr beherrscht.

Geburtstag bei einer guten Freundin. Ich habe vorher ein Käsebrot gegessen, weil meine Freundin sehr gesund kocht. Auch an diesem Abend enttäuscht sie nicht. Es gibt gedünsteten Lauch, danach eine Gemüsetofusuppe, grau und ungesalzen, den krönenden Abschluss bildet eine rote Grütze, die zuckerfrei und somit so sauer ist, dass ich den ersten Bissen fast ausgespuckt hätte.

"Na, schmeckt's?", fragt die Gastgeberin. "Das Brot ist übrigens selbst gebacken, glutenfrei." Deswegen also klebt es mir an der Zunge wie aufgeweichte Pappe.

Die Frage, ob ich zwischen den leckeren Gängen am Tisch eine Zigarette rauchen darf, stelle ich schon längst nicht mehr. Weil meine Freunde fast alle fanatische Nichtraucher sind. "Du rauchst noch?", rufen sie entgeistert, wenn ich verschämt um einen Aschenbecher bitte. "In deinem Alter?"

Ich fühle mich dann wie eine Süchtige, die ins soziale Abseits gerutscht ist, ich betone, dass ich nur abends und nicht auf Lunge und nie mehr als fünf Zigaretten rauche, dann gehe ich auf den Balkon, von wo aus ich die Süchtigen auf den anderen Balkons beobachte. Manchmal winken wir uns zu.

Es wird nur noch der Verzicht gepredigt

"Hast du das Buch über Zucker und Krebs gesehen?", fragt meine Physiotherapeutin, während sie mich durchknetet. "Krebszellen lieben Zucker und vermehren sich wie wahnsinnig, wenn sie auf etwas Süßes treffen."

Ich denke an den großen Löffel Honig, den ich in jeden Becher Tee tröpfle, meine Entspanntheit tröpfelt gleich mit. "Gilt das auch für Honig?", frage ich. "Honig ist der Superzucker", sagt sie streng, "Süßstoff ist natürlich auch verboten."

Wenige Tage danach habe ich meinen jährlichen Check-up. "Auch die Schlaganfallvorsorge?", fragt der Arzt. "Wieso, bin ich gefährdet?", frage ich erschrocken. "Ihr Cholesterinspiegel ist leicht erhöht", sagt er, "und in Ihrem Alter will man doch auf der sicheren Seite sein."

Ich verlasse seine Praxis mit dem dringenden Rat, in Zukunft möglichst auf alle Milchprodukte zu verzichten. Kein Käsebrot mehr!

Langsam reicht es mir!

Besteht denn die ganze Welt nur noch aus Gesundheitsaposteln? Ständig diese gut gemeinten Warnungen und Ermahnungen. Dass Rauchen ungesund ist und zu viel Alkohol die Leber schädigt, dass gesund essen, Sport treiben und genug Schlaf wichtig sind, geschenkt!

Das beherzige ich alles mehr oder weniger. Warum habe ich trotzdem das ungemütliche Gefühl, dem Gesundheitswahn meiner Umgebung nicht zu genügen?

Muss man mit steigendem Alter eine Heilige werden?

Muss ich, nur weil ich deutlich jenseits der 50 bin, auf einmal eine Heilige werden? Ein reines Gefäß, in das nur handgeschöpftes Wasser und biologisch angebaute Runkelrüben gefüllt werden dürfen? Weil ich sonst ... Ja was? So schlagartig verblühe wie die holländischen Tulpen, die ich mir im Winter immer kaufe? Besteht das ideale Leben jenseits der Wechseljahre denn nur noch aus durchlässigen Gefäßen, niedrigen Werten und einem schwindsüchtigen Body-Mass-Index?

Ich finde die Themen Gesundheit, Vorsorge, Wellness einfach grottenlangweilig. Komischerweise sind es oft gerade diejenigen meiner Freundinnen, die es als junge Frauen so richtig krachen ließen, die jetzt nur noch fettarm, nachhaltig und ökologisch wertvoll sind.

Ich warte nur auf die erste Veganerin, um direkt vor ihren entsetzten Augen ein saftiges Steak zu verschlingen.

Meine Mitmenschen wollen mich optimieren

Aber auch jenseits aller lästigen Gesundheitstipps muss ich mich ständig gegen die Optimierungsvorschläge meiner Mitmenschen zur Wehr setzen. "Ich spiele jetzt Klavier", erzählt eine Freundin, "das beugt dem Alterungsprozess des Gehirns vor. Du vergisst doch auch so viel in letzter Zeit." Ist mir gar nicht aufgefallen, aber vielen Dank für den Tipp.

Meine Schwester ist aus demselben Grund verrückt nach Sudokus, und meine Nachbarin verschlingt jedes Buch, das die Worte "Gedächtnis" und "besser" im Titel hat. Alles muss ständig verbessert werden, das hat für mich fast etwas Panisches.

Keiner raucht, keiner trinkt, jeder hat irgendeine Allergie, geht früh ins Bett, hat kaum noch Sex, fastet, lässt gerade seinen Darm durchspülen, alle sehen dabei grau, müde, faltig aus.

Wo bleibt die Lebensfreude?

Ich bin davon überzeugt, dass zu viel Vorsicht Körper, Geist und Seele nicht jünger, sondern älter machen. Weil die Lebensfreude fehlt. Die Leichtigkeit des Seins. Weil zu viel Nabelschau unfroh und langweilig macht. Nur noch "Turne bis zur Urne!" und nachhaltig angebauter Brokkoli? Das ist nicht meine Vorstellung von glücklichen goldenen Jahren. Das ist meine Vorstellung von Alterskrampf.

Klar ist es wichtig, auf seine Gesundheit und darauf zu achten, dass wir nicht restlos verkalken. Wir alle wollen fit bleiben und als Leiche mit perfekten Blutfettwerten in die Grube sinken.

Aber bevor wir das tun, sollten wir uns ab und zu eine kleine Unvernünftigkeit erlauben. Ein Glas Wein zu viel, ein fettes, ungesundes Stück Sahnetorte, ein ganzes Wochenende im Bett, ein Flirt mit einem Mann, der viel zu jung für uns ist.

Wir sind noch nicht so gebrechlich, dass uns eine gelegentliche Abschweifung vom Tugendpfad gleich auf die Intensivstation bringt. Dafür putze ich mir seit einem TV-Bericht auch die Zähne auf einem Bein. Das soll nämlich das Gleichgewichtsgefühl bis ins hohe Alter erhalten.

"An irgendwas muss ich doch sterben", lacht mein 84-jähriger Vater, wenn meine Mutter seine Whiskyflasche versteckt, weil sich Alkohol nicht mit den vielen Tabletten verträgt, die er gegen seine diversen Zipperlein nehmen muss. Ich bringe ihm deshalb zu jedem Besuch fünf Gläser Herrenmarmelade von Schwartau mit, weil die richtig schön nach Whisky schmeckt. Und wo die Flasche versteckt ist, weiß ich auch.

Text: Evelyn Holst <br />BRIGITTE woman 10/13

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