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Durcheinander oder Ordnung?

Organisiert durchs Leben zu gehen mag einfacher sein, als kreatives Chaos walten zu lassen. Aber macht das Leben in geordneten Verhältnis auch genauso viel Spaß?

Es war ein einziges Durcheinander. Die Möbel standen unter Plastikplanen verhüllt, Peter verlegte den neuen Teppichboden, Ruth beizte die Fensterrahmen ab. Sie picknickten im Schlafzimmer, weil in der Küche Freunde die Rohre unter Putz legten. "Ist das nicht romantisch?", sagte Peter am Abend und schaute sich in der unbewohnbaren Wohnung um. "So haben wir als Studenten auch gewohnt. Bierkästen als Tische, Bücher auf dem Boden, und mitten in dem Chaos führten wir Gespräche über die Veränderung der Welt. Du musst zugeben, das hatte was."

Ruth nickte, aber in Wirklichkeit war ihr schon damals der Mangel an Ordnung auf die Nerven gegangen. Auch jetzt hätte sie lieber ein paar kompetente Handwerker für die Renovierung beauftragt. Aber Peter wollte erstens Geld sparen, zweitens sich handwerklich austoben und entdeckte drittens auch noch die Lust am Provisorium. Je fröhlicher er wurde, desto spießiger kam sich Ruth vor."Ich habe es einfach lieber, wenn alles am rechten Platz steht." So erzählte es Ruth Elena, und Elena erzählte es Birgit, und Birgit rief Ruth an und schlug vor, dass sie sich alle drei in einem richtig gepflegten Café treffen sollten, wo es garantiert nicht nach Staub und Farbe riechen würde.

Sie freuten sich, in dem Café die Kellnerin zu sehen, die immer da arbeitete. Jede bestellte den Kuchen, den sie immer bestellte. Sie überlegten, was an dem Bedürfnis nach Ordnung schlimm sein sollte. Dann wurde der Prosecco serviert, und Elena meinte: "Also, ein bisschen verstehe ich Peter schon. Mit ordentlichen Gedanken in einem aufgeräumten Häuschen in einem ordentlichen Stadtviertel kann man sich irgendwann gar nicht mehr vorstellen, wie es wäre, die Welt aus den Angeln zu heben.Ein bisschen Chaos kann doch sehr belebend sein."

Ein bisschen Ordnung braucht der Mensch. Wer keine Ordnung hält, verplempert Stunden, um seine Schlüssel, die Gebrauchsanweisung für den Drucker oder die Filtertüten für die Kaffeemaschine zu finden. Ordnung macht das Leben leichter und überschaubarer. Ordnung ist - in Ordnung. Ein bisschen Unordnung braucht der Mensch auch. Aus der Unordnung entsteht Neues, ursprünglich sogar die Welt mit einem Knall. Unordnung pfeift auf Regeln, Unordnung sorgt für Überraschungen und ungewöhnliche Ideen. Wer unordentlich ist, braucht gute Nerven und Flexibilität. Vor allem, wenn sich die Unordnung zum Chaos auswächst.

Mit der Neigung zur Unordnung kommen wir auf die Welt. Dass man sein Zimmer aufräumen muss, lernen wir mühsam. In der Schule und im Beruf müssen wir uns ordentlich verhalten, nur auf dem Spielplatz und in den Ferien dürfen wir ein schönes Lotterleben führen. Wenn die Kinder klein sind, kommt die Unordnung wieder gratis ins Haus. Kakaoflecken auf dem Teppich, überraschende Besuche von anderen Kindern, ein gebrochenes Bein beim Jüngsten und ein gebrochenes Herz bei der Ältesten machen jede gemütliche Planung zunichte. Gegen die Unwägbarkeiten des Lebens hilft noch mehr Ordnung. Dann läuft alles wie geschmiert. Tagein, tagaus.

Das kann einem mächtig auf die Nerven gehen. Und wenn man das Einerlei mal auf den Kopf stellen und sich dem Ungewissen hingeben würde? In die Oper gehen, ohne zu wissen, was gespielt wird. Nicht zu Hause sein, wenn die Schwiegereltern zum Sonntagskaffee kommen. Was muss eigentlich passieren, bevor endlich mal wieder etwas passiert? Davon zu träumen, ist schön. Vor allem, wenn man es nicht ausprobieren muss. Noch hat man Verpflichtungen im Beruf und in der Familie. Aber später, dann könnte man es ja mal richtig krachen lassen. Und irgendwann ist "später" und alles ein wenig anders.

"Ich gebe es ja ungern zu. Aber ich werde immer pingeliger", sagt Birgit. "Bevor wir verreisen, putze ich neuerdings sogar das ganze Haus. Beim letzten Mal hat mich mein Mann gefragt, ob ich es den Einbrechern so richtig gemütlich machen wolle." Elena sagt: "Manchmal habe ich große Sehnsucht nach aufregenden Erlebnissen oder spontanen Reisen. Einmal hat mich mein Mann mit zwei Flugtickets nach London überrascht, Abflug am nächsten Morgen. Ich konnte mich überhaupt nicht freuen. Habe immer nur gedacht, was ich denn anziehen soll und dass meine Lieblingsschuhe gerade beim Schuster sind und dass ich eigentlich noch zum Friseur müsste. Aber als wir in London waren, war es sehr schön. Und danach haben wir gesagt: Das machen wir jetzt öfter. Bei dem Vorsatz ist es geblieben."

Ordnung bedeutet Sicherheit. Alles soll beim Alten bleiben. Da weiß man, was man hat. Und wer sagt, dass Überraschungen nur schön sind?Wer kennt nicht den Urlaub, bei dem man spontan losgefahren ist, kein Hotel bekommen hat, in einer spießigen Pension gelandet ist, in der die Betten und das Essen grauenhaft waren? Warum hat einem das früher nichts ausgemacht? Warum hat man elend lange oder unbequeme Ausflüge in Kauf genommen, bloß um einen Sonnenaufgang zu sehen?

Das muss ich nicht mehr haben, sagt man eines Tages. Weil man vieles tatsächlich schon gehabt hat. Gesehen hat. Erlebt hat. Von wirklich alten Menschen kennt man das Bedürfnis, dass das Leben nach einem festen Rhythmus laufen soll. Immer um die gleiche Zeit aufstehen, essen oder fernsehen. Am Sonntag auf den Anruf der Kinder warten. Die könnten zwar auch am Mittwoch fragen, wie es geht. Aber an das Sonntagsgespräch hat man sich so gewöhnt. Wer alte Eltern hat, weiß, dass man eingefahrene Rituale nicht brechen darf.

Man muss aber nicht hochbetagt sein, um lieben Gewohnheiten auf ewig treu zu bleiben. Seit Monaten treffe ich mich mit einer Freundin zu immer demselben Spazierweg rund um immer denselben See. In meiner Stadt gibt es mehrere Seen und hunderte von Spazierwegen. Aber bei dem einen wissen wir, was uns gefallen wird. Und machen nicht mehr die Erfahrung, was uns bei den anderen Ausflugsmöglichkeiten entgeht. Das muss kein Verlust sein. "Alles Unglück auf der Welt kommt daher, dass die Menschen nicht ruhig zu Hause in ihren Zimmern sitzen können", hat einmal Blaise Pascal, ein französischer Philosoph, gesagt. "Wer stört?", sagen heute manche Leute zur Begrüßung, wenn das Telefon klingelt.

Unvorhergesehenes stört, die einen mehr und die anderen weniger. Man muss schon sehr jung sein, um sich schon morgens zu freuen: Mal schauen, was heute alles wieder passiert. Aber, theoretisch zumindest, halten wir Spontaneität und dann und wann eine kleine Portion Chaos für wichtig. Künstler dürfen, nein, müssen chaotisch sein, das braucht die Kreativität. Bücher, in denen es seitenlang keine einzige Überraschung in der Handlung gibt, legen wir gelangweilt in die Ecke. Menschen, die spontan sind, bewundern wir für ihre offene und herzliche Art. Bis sie unerwartet an unserer Tür klingeln. Was jetzt? Tot stellen oder sich freuen?

"Ich war gerade in der Gegend, und da dachte ich...", sagt die Bekannte draußen vor der Tür. "Ach wie nett", sagt man. Und denkt: Oh, die Wohnung ist nicht aufgeräumt. Ich bin schlampig angezogen. Ich habe keinen Kuchen zum Anbieten. Ich habe keine Lust auf diesen Überfall. Aber weil man höflich ist, bittet man die Frau herein, und entschuldigt sich für alles, was gerade nicht in Ordnung ist. "Bestimmt ist die Bekannte nicht zur Wohnungskontrolle gekommen", sagt Birgit. "Aber natürlich wird sie sich etwas dabei denken, wenn alles ein wenig schlampig ist. Das wäre mir früher egal gewesen, da legten wir alle keinen Wert darauf, vom Fußboden essen zu können." Aber in einem bestimmten Alter gilt eine aufgeräumte Wohnung nun mal als sichtbarer Beweis für ein aufgeräumtes Leben.

Sicher ist es auch eine Frage des Temperaments, wie viel Chaos man verträgt. Aber die meisten Menschen halten im Lauf der Zeit stärker am Gewohnten fest als früher. Es kann anstrengend sein, neue Erfahrungen zu machen. Es ist gelegentlich peinlich, zu merken, wie viel Ruhe und Ordnung man braucht, um zufrieden zu sein. Aber soll man sich etwa Mühe geben, das Durcheinander zu lieben, bloß um sich zu beweisen, dass man jung geblieben ist? Es gibt Anleitungen für alles und jedes. Simplify your Life. So werden Sie schlank & froh. Sogar eine "Anleitung zum Unglücklichsein" gibt es. Aber, soweit ich weiß, keinen Ratgeber "Unordnung leicht gemacht. Tipps für Anfänger und Fortgeschrittene".

Warum eigentlich nicht? Das Bedürfnis nach kreativem Chaos und Spontaneität scheint von ähnlicher Beschaffenheit zu sein wie ein Jungmädchen-Po: Mit den Jahren machen beide schlapp. Den Hintern kann man unter Kleidung verbergen. Den Mangel an Flexibilität verbergen wir, indem wir uns ihr weniger aussetzen. Wer sich Überraschungen vom Leib hält, muss nicht merken, dass er unsicher oder ängstlich ist.Wer sich nicht bewegt, dem passiert auch nichts. Nichts Schlechtes und nichts Gutes. Nicht mal ein ordentlicher Muskelkater.

Elena hat sich etwas ausgedacht. Für Jannis. Gelb würde ihm gefallen, hatte er neulich vor einem Schaufenster gesagt. Da hat Elena Farbe gekauft. Und als Jannis morgens zum Büro gefahren ist, hat sie sich an die Arbeit gemacht. Eine Stunde, bevor er abends zurückkam, war die Wand über der Couch im Wohnzimmer frisch gestrichen. Elena hat nichts verraten. Schon gar nicht, dass sie völlig verspannte Schultern hatte. "Und dann?", hatte Ruth gesagt. "Er hat mich gefragt, warum ich ständig die Schultern so komisch bewege. Und als ich nach einer Stunde gesagt habe: Fällt dir denn im Wohnzimmer gar nichts auf?, da hat er geguckt und gesagt: Wir rauchen zu viel, die eine Wand ist schon ganz gelb."

Text: Regina Kramer Foto: Getty Images

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