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Schatzsuche auf Bretonisch

Fußfischen in der Bretagne: Ganze Familien suchen zu Fuß die Küsten nach Fischen ab. In ihre Fangkörbe wandern Krebse, Krabben, Muscheln, Austern und Schnecken und mit etwas Glück sogar Hummer.

Clément mag Seespinnen. Auch Meeresschnecken, Krebse und Muscheln findet er prima. Allerdings ist seine Zuneigung, wie die vieler französischer Kinder, kulinarischer Art. Denn Meeresfrüchte schmecken wunderbar zart und dürfen am Tisch ganz ohne Formalitäten geknackt, ausgelutscht und mit den Fingern gegessen werden. Und sorgen schon vorher für großen Spaß beim Finden, Fangen und Fischen.

Schätze des Meeres

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Ich begleite Clément und seinen Vater Jean-Michel beim Fußfischen. Skeptisch beäugen wir den Himmel und hoffen, sein Blau möge gegen die sturmgetriebenen schwarzen Wolkenmonster siegen, die ihre Schatten über die Landschaft werfen. Aber was auch geschieht, die "Grande Marée" werden wir uns auf keinen Fall entgehen lassen – diesen außergewöhnlich großen Tidenhub im Frühling, wenn die Sonne und der Mond mit vereinten Kräften das Wasser an sich ziehen und dadurch kilometerweise Meeresboden freilegen. Ausgerüstet mit Fangnetz, Schaufel, Harke, Eimer und Gummistiefeln ziehen wir los, und ich lausche den Erklärungen von Jean-Michel, der sich hier als Einheimischer bestens auskennt. Er zeigt mir verschiedenartig geformte Löcher, die überall im Sandboden zu finden sind – sie stammen von Muscheln. Die Öffnungen dienen der Luftzufuhr, und jede Muschelart hat ihre eigenen. Wie ein Schlüsselloch sehen beispielsweise die Atemlöcher der Schwertmuschel aus, die vertikal im Sand steckt und dort auf die Rückkehr des Wassers wartet. Um sie nach oben zu locken, streuen wir nach alter Tradition Salz auf das Atemloch. In Erwartung der salzigen Flut steigt die Muschel hoch, wo Clément sie rasch mit beiden Händen umgreift und mit all seiner Kraft aus dem Sand zieht.

Besonders emsige Fischer befühlen auch Algen und Kiesel

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Roh oder in Olivenöl leicht angebraten schmecken diese Schwertmuscheln köstlich. Neben den Muschellöchern türmen sich die Ringelhäufchen der Sandwürmer. Die fressen sich durch den Schlick, entziehen ihm Nährstoffe und scheiden den Rest in Form kleiner Spaghettiportionen aus. Viele Sammler schätzen die Würmer – allerdings nur als Fischköder. Überall um uns herum sind Leute am Werk: Der Sandboden wird geharkt und nach Muscheln umgegraben, jeder Stein wird gewendet, um die darunter versteckten Krebse zu erwischen, Felsbrocken werden nach Austernkolonien und Hummerlöchern abgesucht. Besonders emsige Fischer befühlen die überall herumliegenden Algen und Kiesel – es könnte ja eine Meeresschnecke daran haften.

Die "pêche à pied" ist für die Bretonen weit mehr als ein Hobby. Sie ist ein Fest, das alle Fußfischer in einer Art Verschwörung eint, in der gemeinsamen Begeisterung für die Naturgewalt, das Meer, die Luft und die Meeresfrüchte. Höhepunkt im Leben aller Fußfischer ist so eine Grande Marée wie heute, wenn der Meeresspiegel im Laufe von sechs Stunden um bis zu 15 Meter sinkt. Dann füllen sich selbst bei Sturm und Regen die Parkplätze am Ufer, machen sich ganze Völkerscharen auf in Richtung Meer. In Küstennähe ist an einem solchen Tag in der Regel nirgends ein Handwerker aufzutreiben. Und in vielen Büros leistet oft nur eine Notbesetzung ihren normalen Dienst.

Teppichmuscheln, auch Pferdehoden genannt, sind sehr beliebt

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Hinter jedem Felsblock steht oder kniet ein Fußfischer, der in zwei, drei oder vier Stunden seinen köstlichen Schatz bergen wird. Dabei werden auch mal Täuschungsmanöver inszeniert – denn natürlich bemüht sich jeder, "sein" Hummerloch oder seinen Krabbentümpel vor den anderen geheim zu halten. Nicht bei allen Meeresfrüchten ist solches Besitzdenken möglich. Die köstlichen Jakobsmuscheln zum Beispiel liegen wie die Ostereier dahingestreut auf dem Sand – man muss sie nur aufheben. Ihre schwarzen Innereien wandern in den Müll (oder in den Hühnerstall), gegessen werden nur der weiße Muskel und der orangefarbene Rogen, der "corail". Man genießt Jakobsmuscheln entweder roh mit etwas Zitronensaft und Salz, kurz angebraten oder klassisch französisch: mit Crème fraîche und abgeriebener Orangenschale in der Pfanne gedünstet. Nahezu überall zu finden sind auch Herzmuscheln. Gedünstet mit Zwiebel, Tomate und Knoblauch lässt sich daraus eine tolle, schmackhafte Pasta-Soße nach Art der italienischen "spaghetti alle vongole" zaubern. Schwieriger gestaltet sich die Suche nach den süßlichen und wie Austern roh zu essenden Venusmuscheln, die nur in grobkörnigem und sehr schwerem Sand leben. Auch Teppichmuscheln, die wegen ihres charakteristisch geformten Muschelfleisches im Innern auch "couilles de cheval" (Pferdehoden) heißen, entdeckt man nicht alle Tage.

Umweltbewusste Fischer drehen jeden Stein wieder zurück.

Das Buddeln liegt Clément sowieso nicht besonders. Viel lieber fahndet er unter Steinen und Felsbrocken nach Krebsen. Star unter den Krustentieren ist natürlich der wunderschön blau gefärbte bretonische Hummer, der sich ebenfalls unter Felsen verbirgt. Aber so weit geht Cléments Ehrgeiz gar nicht. Ihm reichen schon die Taschenkrebse. Wenn seine kleinen Schwestern Salomé und Illona beim Fußfischen dabei sind, sammeln sie am liebsten die schwarz glänzenden Strandschnecken auf Felsen und Algen. Man kocht sie in Wasser mit Salz, Pfeffer und Lorbeerblatt. Ein wunderbarer Snack zum Aperitif. Umweltbewusste Fußfischer drehen übrigens jeden Stein nach der Inspektion wieder in seine ursprüngliche Lage zurück: damit die an ihm haftenden Algen, Fischeier und Jungmuscheln nicht austrocknen.

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Früher gab es hier Meerestiere im Überfluss. Sie zu sammeln war für die Menschen in der traditionell armen Bretagne eine Lebensnotwendigkeit – man nahm nur so viel mit, wie eine Familie essen konnte. Heute ist die Fußfischerei ein Freizeitvergnügen für Einheimische und für Touristen. Von Jahr zu Jahr reisen sie zahlreicher an und versorgen oft einen großen Abnehmerkreis mit Meeresfrüchten. Das verkraften einige Bestände nicht. Also entschloss sich der französische Staat, das Fußfischen zu reglementieren. Die Vorschriften über Fanggrößen und -zahlen von Muscheln, Hummern, Krebsen und Schnecken sind streng. Und die Strafen, die Gendarmen in Zivil gleich vor Ort verhängen, werden immer härter. Zu Hause sortieren wir unseren Fang und bereiten ihn zu: Die Austern werden gleich roh auf einer Platte angerichtet. Krebse, Seespinnen, Garnelen müssen zuerst in Salzwasser (am besten Meerwasser) gekocht werden. Am meisten Arbeit machen die Strandschnecken, die man in Frankreich "berniques" oder "chapeaux chinois" nennt, chinesische Hüte: Mit einem Messer löst man vorsichtig die wohlschmeckenden Muskeln von den Schalen, hackt sie mit Tomaten und Möhren klein und lässt sie dann in der Pfanne mit angedünsteten Frühlingszwiebeln und wenig Knoblauch etwa zehn Minuten köcheln – eine wunderbare Pasta-Soße! Und dazu noch sehr gesund wegen ihres hohen Gehalts an Jod, Mineralien und Proteinen, ganz ohne Fett. Auch die Muscheln werden zunächst entsandet und dann gedünstet: mit Schalotten, etwas Butter, einem Lorbeerblatt, Pfeffer, einem Glas Weißwein oder Cidre, eventuell auch Crème fraîche und Curry. Durch die Hitze öffnen sich die Schalen von selbst.

Der selbstgefischte Meeresfrüchteteller macht satt und stolz

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Fachmännisch nutzen Clément, Salomé und Illona leere Muschelschalen als Zangen, um damit das Fleisch der anderen Muscheln herauszuklauben. Schwieriger wird es bei den Krebsen. Sie lassen sich auch nach dem Kochen (je nach Größe 7 bis 25 Minuten, möglichst in Meerwasser) nur mühsam öffnen. Hilfreich sind ein Nussknacker und Spezialbesteck in Form langer, spitzer dünner Gabeln. Unsere selbst gefischte "Plat de fruits de mer" erfüllt uns mit Stolz – und Riesenappetit. Welch ein Unterschied zum Meeresfrüchteteller im Restaurant, den man sich zuvor nicht selbst erarbeitet hat . . .

Anfänger seien jedoch gewarnt: Zwar ist eine solche Mahlzeit sehr kalorienarm, aber ungemein reich an Proteinen. Leider folgt einer maßlosen Meeresfrüchte-Mahlzeit oft der "Eiweiß- Schock". Nach einem Tag ist man aber gegen diesen Brechdurchfall "abgehärtet" und kann sich anschließend bedenkenloser den Genüssen hingeben. Ein Eiweiß-Schock lässt sich übrigens vermeiden, wenn man möglichst viele Kohlenhydrate vor, zu oder nach den Meeresfrüchten isst. Mit anderen Worten: Bei Nudeln, Brot und Süßspeisen darf und sollte sogar kräftig zugelangt werden!

Text: Beate Kuhn-Delestre<br/><br/>Fotos: Thomas Neckermann

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