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Rentner in Australien Immer unterwegs zu immer neuen Zielen

Statt daheim die Hecke zu stutzen, ziehen Australiens Rentner lieber über den riesigen Kontinent. Diese grauen Nomaden sind zu beneiden: Sie haben das Berufsleben hinter und viele Abenteuer vor sich haben.

Am Warri-Gate treffen wir Beth und Gary. Das klingt nicht weiter bemerkenswert, ist es aber. Denn dieses Tor ist eine Drahtpforte zwischen Queensland und New South Wales und liegt so "way out back" im australischen Hinterland wie nur möglich: 327 Kilometer Piste vom 200-Seelen-Kaff Thargomindah entfernt. Eine Grenze ohne Baum oder Kiosk. Dafür erstreckt sich links und rechts bis zum Horizont ein hoher Zaun, der wilde Wüs tenhunde ein- beziehungsweise aussperrt. "Please shut the gate", mahnt ein Schild.

Seit Stunden haben mein Lieblingsreisebegleiter und ich viel Staub und jede Menge Emus gesehen, aber weder Mensch noch Auto. Doch genau in dem Moment, als ich in diesem endlosen Nichts die Pforte einhake, hupt ein Landrover. "How are you, folks?", rufen zwei Stimmen. "Beth & Gary on tour" verrät der Aufkleber auf dem Kühler. Natürlich steigen sie auf ein Schwätzchen aus, Grey Nomads wie die beiden gut gelaunten Mittsechziger haben es selten eilig.

Das Label "grau" verdanken sie ihrer Haarfarbe, Nomaden heißen sie, weil sie schwer zu halten sind - vor allem nicht zu Hause, wo sie gemütlich ihren Ruhestand aussitzen könnten. Wer in Australien unterwegs ist, begegnet über kurz oder lang garantiert einem von ihnen, denn Grey Nomads haben nun einmal chronisches Reisefieber. Die beste Medizin dagegen: Sie machen den Wohnwagen flott und folgen ihrem Fernweh.

Daheim bleiben sie nur so lange, wie nötig ist, um die nächste Tour zu planen und kurz bei den Kindern und Enkeln reinzuschauen. Alles klar? Na, bestens! Und schon geht's wieder los: Richtung Osten zum Great Barrier Reef und dann weiter rauf gen Cooktown in den Regenwald oder nach Broome im Nordwesten, wo rote Felsen fast bis in den Indischen Ozean reichen.

Hauptsache, sie müssen nicht zu Hause die Hecke schneiden.

Beneidenswert, diese Entdecker, die das Berufsleben hinter und ein Abenteuer vor sich haben: Sie umrunden den eigenen riesigen Kontinent - 20 000 Kilometer Schotter und Asphalt, auf der einen Seite die Küste, auf der anderen die Weite des Outback. Umwege ins Landesinnere? Auch gut. Hauptsache, sie müssen nicht zu Hause die Hecke schneiden.

Australiens berüchtigte "Tyrannei der Distanzen", wie die Einheimischen die gewaltigen Entfernungen im dünn besiedelten Down Under nennen? Für Grey Nomads kein Thema, oder wenn, dann keines mehr, das stört, sondern befl ügelt: zu immer neuen Touren, immer ferneren Zielen, wie eben dem Warri-Gate.

Ob Platz sei am "Dead Horse Gully"- Campingplatz, erkundigen sich Beth und Gary, die früher mal als Apotheker gearbeitet haben, und wie der Handy-Empfang dort sei. Wir zucken die Schultern. Hm, da können wir nicht helfen, unsere Telefone schweigen seit Tagen. Wir genießen das Ganzweit- weg-Gefühl. Für uns ist es ein Luxus, unsere Handys nicht mal aufzuladen. Allerdings haben wir auch nur zwei Wochen Zeit. Und ein Zelt statt eines Wohnwagens - im Gegensatz zu all den grauen Nomaden, die sehr viel komfortabler unterwegs sind. Immerhin gehören laut Statistik gut zwei Drittel der rund 350 000 "Recreational Vehicles" im Land Menschen über 55, und etwa 80 000 solcher Freizeit-Gefährte rollen permanent über den Kontinent. Gesteuert werden sie von "Abenteuer suchenden Pensionären", wie sie gern von eigens für sie erfundenen Zeitschriften genannt werden, oder Frührentern, den "early retirees", was in Australien übrigens keine Spur mitleidig klingt - eher nach jemandem, der sich früher als andere für mehr Spaß entschieden hat.

Einige sitzen im Wohnmobil aus dritter Hand, andere geben für ihre Villa auf Rädern mit TV, Sofa und Solardusche 200 000 Euro aus. Manche können sich kaum Gruseligeres vorstellen, als 24 Stunden am Tag allein mit der Person zu verbringen, mit der sie seit 30 Jahren verheiratet sind, und machen sich in Kolonnen auf den Weg, treffen alte oder finden neue Freunde. Manche stellen in drei Monaten wahre Kilometerrekorde auf, einige ziehen jahrelang herum. Ganz Entschlossene kehren sogar nie zurück und verkaufen ihr Haus - sehr zum Leidwesen potenzieller Erben.

Wieder andere suchen eher Sinn als Erholung. In Milparinka etwa, einem winzigen Nest, in dem vor über 160 Jahren die Inlandsexpedition des Forschers Charles Sturt endete, haben die 58-jährige Sally und drei Freunde ihre Wohnwagen hinter zwei alten Sandstein- Bauten geparkt, in denen sie ein Museum in Schuss bringen. Letztes Jahr, erzählt Sally, eine ehemalige Lehrerin, habe sie einer Farmerfamilie geholfen, die durch einen Unfall in Not geraten war. Nächstes Jahr will sie am Cape York Schildkröten retten. Cape York? Wirklich? Bis dorthin sind es für die gute Seele aus Adelaide etwa 4500 Kilometer, also etwa so weit wie von Kiel nach Lagos und zurück. Sally hebt die Brauen, als wollte sie sagen: Was sind schon ein paar Wochen oder Monate auf der Straße? " Ziele und Möglichkeiten gibt es doch genug", meint sie schließlich lachend.

Auch durchs Internet düsen Australiens Rentner

Um beides zu finden, genügen ein paar Mausklicks. Grey Nomads mögen zwar reifere Semester sein, von gestern aber sind sie nicht: Viele düsen so sicher durchs Internet wie über die Highways, sie haben eigene Webseiten, tauschen sich in Online-Foren aus, und die Sallys unter ihnen checken kabellos, ob irgendwo in der Nähe ihr Einsatz gefragt ist. Im Netz erfahren sie dann, welcher Anhänger wie viel Sprit frisst, wie tief die Schlaglöcher auf der Gibb River Road sind und ob im Westen schon Wildblumen blühen.

Ein paar Stunden nach unserer Begegnung am Warri-Gate kurven Gary und Beth samt ihrem flachen Anhänger über den roten Staub des Campingplatzes. Während Beth aus einer Lade im Heck den zweiflammigen Herd zaubert, legt derweil Gary routiniert ein paar Hebel um. Es sirrt leise, Scharniere klicken, und keine fünf Minuten später hat sich über dem Trailer ein stattlicher Wohnturm entfaltet. Mit zwei weiteren Handgriffen schließt Gary die Satellitenschüssel und den Laptop an, und schon schwatzen sie bei einer Tasse Tee mit der Tochter in Melbourne.

Wir staunen. "Eigentlich", flüstere ich, "leben die doch im Busch wie zu Hause. Wahrscheinlich stehen selbst Salz und Pfeffer an der gleichen Stelle." - "Stimmt", sagt Beth, als ich sie beim Sonnenuntergangsbier vorsichtig dazu befrage. "Ein paar nette Seiten des Alltags genießen wir auch unterwegs; nur die unangenehmen, die vermeiden wir. Gehen uns zum Beispiel die Nachbarn auf den Wecker", sie kneift grinsend ein Auge zu, "dann packen wir ein und ziehen weiter."

Text: Julica Jungehülsing Foto: Getty Images

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