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Hermann Hesse im Tessin: Auf Spurensuche

Hermann Hesse musste man früher gelesen haben, um mitreden zu können über Freiheit und Selbstbestimmung. Aber auch heute sind seine Romanhelden keine müden Männer von gestern. BRIGITTE WOMAN-Autorin Regina Kramer und ihre Bücher-Tour durch Deutschland und das Tessin.

Schön ist es, mit Männern zu reisen, die es gar nicht gibt, eigentlich. Der eine ist 108 Jahre, der andere 85 und der dritte erst 82. Wir sind kreuz und quer durch die Schweiz gefahren, die Berge hoch und zu den Seen herunter. In Zürich und Basel haben wir Wein um Wein getrunken, so mochten es die beiden Älteren. Wir haben einen Abstecher ins Schwäbische gemacht, weil der dritte dort im Kloster war. Natürlich haben wir uns nicht immer verstanden, aber doch lieb gewonnen, so jedenfalls würde ich es sagen. Den ältesten, den Peter Camenzind, habe ich erst bei dieser Reise kennen gelernt. Der Harry Haller ist mir schon in meiner Studentenzeit begegnet, er nannte sich Steppenwolf. Und der Herr Goldmund war ein veritabler Womanizer.

Vor dieser Reise habe ich Freundinnen gefragt, ob sie Hermann Hesse gelesen haben. Ja sicher, sagten viele, und manche erinnerten sich an die 70er Jahre, Lucy in the sky with Siddharta, weißt du noch, und dann kriegten sie diesen verträumten Blick. Oder den bedeutenden Blick bei "Unterm Rad" und "Demian". Hesse gehört zu den meistgelesenen Schriftstellern Deutschlands. 1946 hat er den Literaturnobelpreis bekommen. Und in all seinen Büchern erzählt er immer auch von seinem eigenen Leben, von der Sehnsucht nach Freiheit, von der Notwendigkeit, aufzubegehren. Deshalb waren wir jungen Leser von Hesse so fasziniert. Und wie wird es mir heute mit seinen Büchern gehen? Hier im Tessin, wo er von 1919 bis zu seinem Tod 1962 gelebt hat, fange ich noch einmal an zu lesen.

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Luganer See, Tessin. Ich sehe nichts. Über dem Wasser schwankt Nebel, das Grau macht die Landschaft vornehm und mich langsam. Ein guter Tag für Bücher, ich nehme den "Camenzind" und setze mich in eine Bar.

Tessin. "Peter Camenzind" erscheint 1904 und erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der auf Reisen geht und Schriftsteller wird. Er will frei, heftig und schön leben, er will sich nicht verbiegen lassen. Ich lese und kriege gar nicht mit, was sich draußen tut. Wind hat den Nebel weggeblasen, Palmen am Ufer biegen sich, die Sonne blinzelt, gleich gehe ich raus, bloß noch diesen Abschnitt lesen.

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"Zeigt mir das Ding in der Welt, das schöner ist als Wolken. Sie sind zart, weich und friedlich wie die Seelen von Neugeborenen...sie schweben silbern in dünner Schicht...sie schleichen finster und langsam wie Mörder...sie sind das ewige Sinnbild alles Wanderns, alles Suchens, Verlangens und Heimbegehrens."

Ich bin den Wolken hinterhergefahren, kurvige Straßen hoch, an Bergdörfern vorbei. Es ist eine einsame Gegend. Einmal halte ich an und schaue in ein verlassenes Haus mit offen stehender Holztür. Drinnen hat jemand ein Feuer gemacht. Sofort denke ich an Camenzind auf einer seiner Wanderungen. In Astano in der Region Malcantone gibt es einen grünblauen Bergsee. Man kann hier campen und fischen. Und neben einem Kiosk auf quietschgelben Plastikstühlen sitzen. Und Camenzind mittendrin? "So oft hatte ich das Gefühl einer schauerlichen Einsamkeit zwischen mir und den Menschen. Da lief ich hinaus in die Wälder, auf Hügel, auf Landstraßen. . . hinter Träumen her, von denen noch keiner sich erfüllt hat", höre ich ihn sagen. Sofort teile ich seine Wehmut, über Natur und Einsamkeit kann dieser Camenzind so schön und ohne Pathos erzählen, dass es mich packt. Ich fahre zurück, über Hügel und Landstraßen, die Wolken schütten wieder Wasser aus, Kirchtürme und Wälder glänzen.

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Zürich & Basel. In Städten gibt es Menschen, Menschen können enttäuschen, das konnten sie früher schon und tun es noch heute. Dann kann man ins Wirtshaus gehen. Früher hießen die Lokale "Zum goldenen Schwan" oder "Zum Hirschen", und so heißen sie auch heute noch, aber beim "Hirschen" gibt es Souvlaki und beim "Schwan" Tagliatelle. Das hätte Camenzind vielleicht gemocht, aber er geht nicht zum Essen ins Wirtshaus. "Ich bin Trinker und menschenscheu", sagt er und bestellt zwei Liter Wein, Waadtländer oder roten Veltliner. Nach zwei Gläsern verabschiede ich mich höflich, ich habe noch eine Verabredung.

Das Buch

Peter Camenzind: Ein junger Mann verlässt seine Heimat in den Bergen, zieht in die Städte und wird Schriftsteller. Er bleibt ein Einzelgänger, ist enttäuscht von der Moderne und geht schließlich zurück in sein Dorf, wo man ihn sein lässt, wie er ist (305 S., 7 Euro, Suhrkamp Verlag)

Der Steppenwolf

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Zürich. Am Bellevue in Zürich, im "Café Odeon", hätte es sein können. Ein Mann, bald 50 Jahre, hört Jazzmusik, er geht in das Tanzlokal, die Musik erscheint ihm roh und wild. Ihm fehlt, was man zum Feiern braucht: die Unschuld, die Leichtigkeit und der Schwung. Er wird es lernen, das Tanzen und das Verrücktsein. Das "Odeon" ist heute ein modernes Café, an den Wänden hängen Fotos von ehemaligen Tanzbällen. Junge Familien frühstücken, eine Frau tippt auf ihrem Laptop, manche lesen Zeitung. Sitzt hier irgendwo einer, der ähnliche Gedanken hat wie in den 20er Jahren Harry Haller? Fühlt sich einer wie ein Steppenwolf, fremd in einer unverständlichen Welt?

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Ich finde Zürich schön und reich und das Bergpanorama am See grandios, lauter Klischees. Der Steppenwolf, den ich doch schon kannte, erscheint mir heute auch wie ein Klischee: sein Ekel an der Welt und den Menschen, seine seltsame Liebe zu zwei Frauen, sein Selbsthass und seine Arroganz. Auch Tage später, als ich schon in Basel bin, wo Hesse den Steppenwolf hat wohnen lassen, bin ich gereizt. Am Fischmarkt gibt es keinen Fisch mehr zu kaufen, aber immerhin noch den schönen Brunnen aus dem 14. Jahrhundert. Und zu viel Verkehr. Grüne Tram von rechts, gelbe von links, weißer Bus von hinten. Der Steppenwolf kam oft hierher, gegenüber vom Brunnen war seine Stammkneipe "Zum Stahlhelm". Dort beobachtete er die Bürger und hasste "diese Zufriedenheit, Behaglichkeit, diese fette gedeihliche Zucht des Mittelmäßigen".

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Basel. Ich laufe am Rhein entlang, wo Basel am schönsten ist, auf der Promenade gegenüber dem Münster. Die einen joggen, die anderen sitzen auf einer Bank, viele telefonieren. Ich kann Steppenwölfe nicht leiden, die sich über andere Menschen erheben. Die ihre Verweigerung, sich anzupassen, und ihre Individualität zelebrieren. Und warum habe ich den Steppenwolf als Studentin gemocht? Weil ich (wie viele andere) gegen eine autoritäre Gesellschaft und deren Normen protestiert habe. Heute gehört es längst zum guten Ton, antiautoritär und individuell zu sein. Unterm Strich zähl ich, so steht es überall. Aber das Buch erscheint 1927, der Erste Weltkrieg ist neun Jahre her, der Zweite wird in zwölf Jahren anfangen. Bereits vorher werden die Menschen, ihre Gedanken und Gefühle mit Propaganda und Gewalt gleichgeschaltet. Auch auf diese geahnte Katastrophe spielt das Märchen vom Steppenwolf an.

Das Buch

Der Steppenwolf: Harry Haller erträgt seine innere Zerrissenheit nicht mehr und möchte sich umbringen. Da lernt er Hermine kennen, die ihm eine unbekannte magische Welt zeigt. Hier begegnet er den vielfältigen Aspekten seiner Persönlichkeit und findet einen Ausweg aus seiner Krise (229 S., 7 Euro, Suhrkamp Verlag)

Maulbronn & Montagnola - Narziß und Goldmund

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Maulbronn, Baden-Württemberg. Heute ist Mittelalter, eine Ritterin verkauft Quarkbällchen, ein Junge lernt Bogenschießen, sein Onkel trinkt Met, ich hasse Historienfeste. Aber ich liebe diese Klosteranlage, die Brunnenkapelle, den Kreuzgang und die Madonna. Ich würde gern im Refektorium essen, im Parlatorium diskutieren und im Oratorium in mich gehen. Aber erstens habe ich als Frau nichts da zu suchen, und zweitens wird gerade alles renoviert.

Als das Kloster noch nicht Weltkulturerbe war, erschien 1930 eines der schönsten und gegensätzlichsten Freundespaare der Literatur: Narziß und Goldmund. Hier im Kloster hat Hermann Hesse ihre Geschichte anfangen lassen. Der Mönch und Denker Narziß sucht die geistige Annäherung zu Gott, Goldmund sucht seine Erfahrungen in der Kunst und der Sinnlichkeit. Dazu muss er raus in die Welt, und die Welt war "bereit, ihm wohl zu tun und weh zu tun".

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Mit Goldmund in der Gegend umherzuschweifen ist schön. Ich kann ihn mir auf dem Marktplatz in Calw vorstellen, ich sehe ihn tanzen und flirten im Jagdschloss Hirsau. Er liebte die Frauen und sie ihn. So viel Goldmund-Zärtlichkeit ist mir früher gar nicht aufgefallen. So habe ich auch noch beim Essen Lust weiterzulesen. Zwischen Maultaschen und Spätzle sehe ich Goldmund Madonnen schnitzen, zum Mörder werden und durch Dörfer wandern, die von der Pest verseucht waren.

Montagnola, Tessin. Ich war im Museo Hermann Hesse, ich habe im Café nebenan etwas getrunken. Überall guckt mich Hermann an, als Plakat von den Wänden, von den Büchern im Regal, von CDs mit seinen Gedichten. Draußen gehen zwei junge Männer mit Kinderwagen vorbei. Warum hat Hesse, der selbst drei Söhne hatte, dem Camenzind, Goldmund und Steppenwolf keine Kinder gegönnt? Familie und Kunst, das war damals für Männer nicht vereinbar.

Es ist Zeit, Abschied zu nehmen von den Büchern mit Landschaft, von den Männern, die es gar nicht gibt, eigentlich. Und welcher ist mir der liebste geworden?

Erst am nächsten Morgen, als mich eine laute Kirchenglocke morgens um sieben weckt, als ich mich an Träume von Wäldern und Verfolgung und an ein Kloster erinnere, weiß ich die Antwort: Goldmund. Weil seine Geschichte eine Sehnsucht anspricht, die Menschen früher, heute und hoffentlich auch noch übermorgen fühlen. Narziß, Goldmunds bester Freund, kann das besser erklären als ich: "Es war am Ende wohl auch mutiger und größer, ein Goldmundleben zu führen, sich dem Strom und Wirrwar zu überlassen, Sünden zu begehen und ihre bitteren Folgen auf sich zu nehmen, statt abseits der Welt mit gewaschenen Händen ein sauberes Leben zu führen."

Das Buch

Narziß und Goldmund: Die Erzählung spielt im Mittelalter. Goldmund wandert durch Dörfer und Städte, er lernt die Liebe und das Geheimnis der Kunst kennen. Am Ende seines Lebens kehrt er zurück in das Kloster, in dem er Narziß, seinen ersten Lehrer und Freund, wiedertrifft (305 S., 7 Euro, Suhrkamp Verlag)

Schöne Unterkünfte

Hotel Restaurant Rössle. Gemütliches Hotel im Zentrum von Calw. Die Zimmer heißen wie die Erzählungen von Hesse, z. B. "Siddharta" oder "Gerbersau". Gutes Essen im Restaurant und reichhaltiges Frühstück. DZ/F ab 85 Euro (Hermann-Hesse-Platz 2, 75365 Calw, Tel. 07051/ 79 00-0, www.roessle-calw.de). Hotel Schwan. 15 Kilometer von Zürich entfernt, im historischen Stadtkern von Horgen gelegen. Dieses sehr schöne Haus ist 550 Jahre alt, war immer Herberge und im Mittelalter zudem Gemein¬dehaus. Sehr gutes Frühstück in der Taverne im Haus, in der man auch gut zu Abend essen kann. DZ/F ab 170 Euro (Zugerstraße 9, CH-8810 Horgen, Tel. 0041/44/725 47 19, www.hotel-schwan.ch). Hotel Carina Carlton. Das Haus liegt nur durch die Uferstraße getrennt am Luganer See. Die Zimmer sind teils gediegen, teils schlicht. Es gibt einen kleinen Swimmingpool auf einer Dach-terrasse und viele kleine Bars und Trattorien in der Nähe. DZ/F ab 100 Euro (Riva da Sant Antoni, CH-6922 Morcote, Tel. 0041/91/996 11 31, www.carina-morcote.ch).

Zum Weiterlesen

Hermann Hesse: der Wanderer und sein Schatten. In der Biografie von Gunnar Decker werden die Lebensstationen von Hermann Hesse aufgezeichnet. Dabei geht es ebenso um die inneren Widersprüche des Autors wie auch um die Rezeption seines Werkes zu Lebzeiten und nach seinem Tod (704 S., 26 Euro, Hanser Verlag 2012).

Hesses Frauen, von Bärbel Reetz. Viele bisher unveröffentlichte Dokumente ergeben nicht nur ein Bild der drei Ehefrauen von Hermann Hesse, sondern zeigen auch seine Schwierigkeiten, sich auf Familie und Beziehungen einzulassen (426 S., 16,99 Euro, Insel Verlag 2012).

Fotos: Tom Krausz BRIGITTE woman 09/12

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