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Mensch, du sollst nicht allein sein

Zur Kultur auf den Philippinen gehören immer Menschen. Niemals würde man sich allein mit einem Buch verkrümeln. BRIGITTE WOMAN-Mitarbeiterin Susanne Lenz lebt seit vier Jahren in Manila und wundert sich noch immer.

Ein Lächeln per Handy.

"ü" - manchmal ist es nicht mehr als dieser Buchstabe, den Grace mir simst. "ü" steht für ein Lächeln. Die beiden Punkte über dem "u" sehen aus wie die Augen über einem lachenden Mund. Dass die Nase fehlt, nimmt man gern in Kauf, denn ü lässt sich schneller tippen als die Tastenkombination :-).

"ü" soll mir sagen: Ich denke an dich. Oder: Das Leben ist schön. Und auch wenn es das mal nicht sein sollte: Lächeln! Meine Freundin Grace benutzt solche knappen SMS-Botschaften, um mit mir in Verbindung zu sein. Das ist wichtig hier. Die Philippiner fühlen sich nicht wohl allein. Wenn sie nicht mit der Familie zusammen sind, verbringen sie ihre Zeit mit der Barkada, der Clique.

Allein leben geht nicht

Meine andere Freundin Joy ist 43, Karrierefrau, unverheiratet und wohnt immer noch bei ihren Eltern. Nicht, weil es unschicklich wäre, allein zu leben, auch nicht aus finanziellen Gründen. Und warum sage ich überhaupt, dass sie "noch" zu Hause wohnt? Meine Sicht beruht auf einem kulturellen Missverständnis.

Eine Stadt als Familie

Gegenfrage von Joy: "Warum sollte ich allein leben?" Es gibt keine Erhebung über die Zahl der Single-Haushalte in der 15-Millionen- Metropole Manila, aber ich schätze, sie tendiert gegen null. Manchmal wirkt es, als ob sich die 80 Millionen Philippiner wie eine große Familie fühlen.

Wenn ich im Café sitze zum Beispiel und Grace den Kellner "kuya" ruft, "älterer Bruder". Oder im Büro, wo alle die Sekretärin "Schwester Eva" nennen. Eine ältere Kollegin stellte sich mir anfangs als Dr. Reyes vor, schlug aber bald vor, ich solle sie doch Tita nennen, Tante. Wenn ich mit einem der Jeepneys, dem Hauptverkehrsmittel des Landes, unterwegs bin, kommt es mir oft so vor, als sei auch der nur dazu da, das allgemeine Bedürfnis nach Nähe zu befriedigen.

Kultur der Zusammengehörigkeit auf den Philippinen

Natürlich hat es ökonomische Gründe, dass der Fahrer so viele Fahrgäste wie möglich auf die zwei langen Sitzbänke quetscht. Aber wenn wir dann eng aneinandergepresst durch die Straßen schaukeln und auf längeren Strecken der Kopf des Nebenmannes auf meiner Schulter niedersinkt, kann es passieren, dass ich ein ganz rätselhaftes Zusammengehörigkeitsgefühl verspüre. Eine Aufwallung von Vertrautheit mit den wildfremden Menschen, die zufällig dasselbe Fahrtziel haben wie ich.

Das Bedürfnis nach Rückzug ist ganz unbekannt.

Das Bedürfnis von Bewohnern der westlichen Welt nach Ruhe und Rückzug ist hierzulande völlig unbekannt. Grace berichtete neulich entnervt, dass ihre neue Haushaltshilfe nach nur zwei Wochen gekündigt habe. Es handelte sich um eine so genannte Live-in-Hilfe, die im Haus wohnt. Die junge Frau vom Land hatte es nicht ausgehalten, ein Zimmer für sich zu haben und den ganzen Tag nur mit Grace' Mutter zu verbringen. Sie war so wenige Menschen einfach nicht gewohnt.

Einmal verbrachte ich ein Wochenende im Strandhaus von Freunden. Wir waren dreizehn Personen, und es war wirklich lustig. Irgendwann aber überfiel mich der dringende Wunsch, mich kurz zurückzuziehen aus dem Kreis der Lieben. Ich sagte, ich würde ein paar Flachen Bier holen. Ich hätte es besser wissen müssen. Die Debatte, die sich dann entspann, endete damit, dass der Besitzer des Hauses mit dem Auto die Getränke einkaufte, damit ich keine Minute auf die nette Runde verzichten musste.

Ausländer werden bestaunt

Meine deutsche Freundin Anette hatte sich letztes Jahr zwei Wochen Urlaub von ihrer Familie genommen, das erste Mal seit zehn Jahren. Sie freute sich nach ihrem Zwischenstopp bei uns in Manila, ganz allein ein paar Tage am Strand zu verbringen. Doch der Wirtin ihres kleinen Resorts muss sie furchtbar leidgetan haben.

Alleinreisende rufen Mitleid hervor.

Wann immer sie allein vor ihrem Bungalow saß, um den Sonnenuntergang zu genießen, lud die Wirtsfamilie sie resolut zum Abendessen ein. Ihre Versuche, die Einladung abzulehnen, wurden ihr wohl als Höflichkeit ausgelegt.

Zur Not ist man sich virtuell nah

Niemand hier kann sich vorstellen, dass jemand lieber einen Abend allein mit einem Buch und einem Drink verbringt statt mit anderen Menschen. Weil man aber nicht immer zusammen sein kann, schickt man sich SMS-Nachrichten, um sich zumindest der virtuellen Nähe von Familie und Freunden zu ver- sichern.

Die meisten haben keinen Nachrichtenwert, sondern transportieren einen netten Gedanken, ein Gefühl oder eine religiöse Botschaft ("God is always with you" oder "Hug, hug, hug, have a great day"). "Abwesend anwesend sein", nennt das unser Freund Raoul, ein Soziologe.

Manila ist die SMS-Hauptstadt der Welt.

Grace verschickt und bekommt an die 100 SMS am Tag und ist damit hier kein SMS-Junkie, sondern der Normalfall. Manila gilt als SMS-Hauptstadt der Welt. In Studien wird geschätzt, dass hier täglich 150 Millionen SMS-Botschaften verschickt werden. Jeder Pieps, der das Eintreffen eines Textes signalisiert, wird zum Teil eines Beziehungsgespinstes, das sich wie ein schützender Kokon um einen schmiegt. Eine Art unsichtbare Nabelschnur, die einen mit seinen Lieben verbindet.

Rückversicherung nach Wärme

Im Flugzeug kann man Philippiner daran erkennen, dass sie sich bis zur letzten Minute an ihr Handy klammern, als hinge ihr Leben davon ab. Auch ich bin für diese ständige Rückversicherung in puncto Wärme und Zuneigung anfällig. Nach zwei Jahren in diesem Land stellte ich fest, dass mein erster Blick am Morgen nicht dem Wecker, sondern dem Handy auf meinem Nachttisch gilt. Ich sehe nach, ob dort ein kleiner Umschlag blinkt.

Sogar der Chef sucht Nähe

Es liegt übrigens dort, weil ich kurz vor dem Einschlafen noch ein paar SMS mit Grace austauschen musste. Manchmal merke ich aber auch, dass ich in der philippinischen Welt noch ein Neuling bin. Das machte mir meine verunsicherte Reaktion klar, als ich neulich um sechs Uhr früh eine Nachricht von meiner Chefin erhielt, mit der mich keinerlei private Beziehung verbindet. Sie lautete: "Am morgen aufwachen – lächeln." Kurz: ü.

Text: Susanne Lenz Foto: Getty Images

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