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Einen Fuß auf jedem Kontinent

Zsuzsa Bánk hat alle Erdteile bereist. Und doch kennt die Schriftstellerin sie heute noch das Fernweh, diese wunderbare, schmerzhafte Sehnsucht nach der weiten Welt.

Früher dachte ich, die Welt sei mein Zuhause. Ich wollte morgens neben dem Pantheon in Rom meinen Kaffee trinken, weil es dort den besten gibt, am Abend in New York in eines der vielen kleinen Theater off Broadway gehen, am Nachmittag darauf an einem der Traumstrände Yucatáns baden und am nächsten die Affen in einem Park in Singapur füttern. Ich komme aus einer Familie, die eine Laune der Geschichte in die Welt gestreut hat, die an allen Längen- und Breitengraden dieser Erde ihre Spuren hinterlassen hat und deren kurvenreiches Koordinatensystem ich immerzu bereit war abzulaufen.

Der Aufstand in Ungarn hatte meinen Eltern 1956 über Nacht die Heimat entrissen, und mit Verwandten und Freunden hatten sie ihrem Land den Rücken gekehrt, um über den Globus zu wandern und sich in sicherer Ferne niederzulassen. Uns erreichte immer schon Post aus Kanada und Australien, aus Italien und den Niederlanden, und es gab für mich als Kind keinen Unterschied zwischen Budapest und Sydney oder Amsterdam und Boston, all diese Namen klangen ähnlich spektakulär, und die Orte blieben gleich nah oder fern für mich, ob nun tausend oder zehntausend Kilometer zwischen uns lagen.

Fernweh - auf die Suche gehen und das Unauffindbare entdecken

Die Weltkarte über meinem Bett, die ich mit farbigen Stecknadeln einnahm, hatte kaum weiße Flecken. Zu jedem Kontinent kannte ich ein Haus, in dem man mich empfangen, einen Stuhl heranziehen und einen Teller für mich auf den Tisch stellen würde. In Gedanken sprang ich über die Erdteile, jedes Mal, wenn ich in meinem Bett lag und darauf schaute, wie sie sich auf den blauen Weltmeeren verteilten und rot und grün und gelb aus seinen Wassern ragten.

Was ist es, das uns antreibt und hochscheucht? Wir suchen das Weite und verachten für eine Weile das Winzige, das uns immer umgibt. Wir verlassen unser Gefängnis, wir lösen die Fesseln, wir verabschieden den Alltag, wir lassen uns fallen, ins Irgendwo, ins Nirgendwo. Wir wagen den Aufbruch. Wir ziehen und wandern. Einmal Taugenichts sein. Dem Alltagslärm entkommen, einer fernen Stille lauschen. Uns auflösen in der Fremde, unerkannt sein. Einfach mal weg. Auf die Suche gehen und das Unauffindbare entdecken. Riesen und Zwergen begegnen. Einmal Gulliver sein.

Mein Fernweh war vielleicht nichts als eine Sehnsucht nach einem Zuhause, sonderbar verdreht, als könnte ich dort draußen eine Heimat finden, so wie andere, die zu mir gehörten, sie gefunden hatten. Als machte es keinen Unterschied, wo ich mich aufhielt, als könnte ich die ganze Welt mit demselben Schritt durchwandern. In meinem Kopf gab es keine Grenzen, fremde Sprachen schreckten mich nicht, etwas ließ mich immer glauben, ich könnte sie lernen und beherrschen, und während meine Freunde ins Allgäu fuhren, saß ich schon allein in einem Flugzeug, das mich über den Atlantischen Ozean nach Toronto brachte, wo man einen Stuhl für mich heranzog, einen Teller für mich hinstellte und später in der Gischt der Niagarafälle Ungarisch und Englisch mit mir sprach.

Ist das Pendant zum Fernweh wirklich das Heimweh?

Fernweh war für mich das Auflösen von Distanz, die Verkürzung unendlich anmutender Strecken auf mein menschliches Maß. Die große Welt kleiner machen, die anderen, mit denen ich durch alle Himmelsrichtungen verbunden war, an mich heranrücken - das wollte ich. So tun, als lebten sie in meiner Nachbarschaft, als müsste ich kein Flugzeug besteigen, als müssten meine Eltern mich nicht in unserem Wagen über Grenzen fahren, als müsste ich, um bei ihnen zu sein, bloß meinen Mantel überziehen und die wenigen Schritte bis ans Ende der Straße laufen und nicht bis ans Ende der Welt.

Ob das Pendant zum Fernweh wirklich das Heimweh ist - ich weiß es nicht. Brauchen wir die Ferne, damit wir uns nach der Heimat sehnen, damit wir überhaupt erkennen, was sie für uns ist? Insgeheim bewundere ich die, die das Fernweh nicht kennen, nie gekannt haben, weil sie in ihrer Heimat so fest verankert sind. Meine Tante Jolán hat das Wort nie benutzt, es gehört nicht in ihr Vokabular, vielleicht kennt sie es gar nicht. Sie ist in einem kleinen ungarischen Dorf geboren, aufgewachsen, hat dort geheiratet und ihre Kinder zur Welt gebracht, ihren Mann begraben und wird irgendwann dort sterben. Nie hat es sie irgendwohin gezogen, wenn sie von ihrem Garten über die nahen Felder und Weinhänge schaute. Nicht einmal Budapest hat sie gesehen. Als ich erwachsen wurde, wollte ich einen Fuß auf jeden Kontinent setzen, auch auf die Erdteile, die ich noch nicht bereist hatte, vielleicht eine Manie des Beherrschens, meine persönliche verrückte Landnahme. Ich wurde Flugbegleiterin, um mein Studium zu finanzieren, und mein Leben wurde ungefähr so, wie ich es mir als Kind ausgemalt hatte.

Ich wachte auf und schaute über die Copacabana, ich ging schlafen mit einem letzten Blick auf den Lake Michigan. Ich kaufte Porzellan in der Wabash Avenue in Chicago und Parfüm an einem Marktstand in Kairo. Kollegen, die ihren Urlaub am Gardasee verbrachten, obwohl sie fast umsonst ganz Asien bereisen konnten, hielt ich für verrückt. Mich konnte beim Ticketkauf nichts schrecken, keine vierzehnstündigen Flüge, kein grassierendes Dengue-Fieber, keine wilden Wüstenhunde, keine Erblindung durch Malariatabletten, nicht das Schleppen meines Rucksacks durch eine Fünfundvierzig-Grad-Wüste und nicht das tagelange Warten auf den einen Kahn, der mich ins Südchinesische Meer zu einer kleinen Insel hinaustragen würde. Ich kannte mich gut aus in Manhattan, ich kannte mich sehr gut aus in Rom, wo ich fast ein Jahr gelebt hatte, aber ich wusste nichts von den Wanderstrecken durch den Taunus, die vor meiner Haustür begannen, und nichts von den Windungen des Mains, zu denen mich eines der Ausflugsschiffe jeden Sonntag hätte bringen können.

Ich kannte Manhattan, ich kannte Rom, aber nicht den Taunus.

Wir aus dem Norden können uns wohl nur nach dem Süden sehnen. Paul Theroux, der große Poet unter den Reiseschriftstellern, schrieb an Bruce Chatwin, der uns die irrwitzigsten Reiseberichte hinterlassen hat: "Wenn ich mir vorstelle, irgendwohin zu fahren, dann stelle ich mir vor, ich fahre in den Süden." Fernweh ist also ein Südweh. Vielleicht sollten wir es so machen: Ersetzen wir ruhig das Wort Fernweh durch das Wort Südweh, und übergehen wir ganz einfach die Frage, ob sich umgekehrt ein Mensch aus dem Süden jemals ähnlich schmerzlich nach dem Norden sehnt. Übergehen wir sie einfach.

Damals waren es Orte, die mein Fernweh wirklich stillten und mir eine Schönheit zeigten, von der ich nichts geahnt hatte. In Yucatán kletterte ich allein mit Freunden über bemooste Maya-Pyramiden, wir lagen allein unter Palmen im Puderzuckersand, den Fisch fingen wir am Nachmittag selbst und grillten ihn am Abend über einem Feuer. Wir liefen allein durch die Ruinen Tulúms und blickten von weit oben auf das türkisfarbene Karibische Meer, in dem niemand badete. Mein Vater und ich teilten uns den Kuta Beach auf Bali mit einem versprengten Haufen schräger Aussteiger und verfilzter Hunde, und wenn wir am Abend durch kniehohes Regenwasser zum einzigen Restaurant spazierten, um unter Ventilatoren auf unser Bier zu warten, sah mein Vater mit seinem Bart und sonnengefärbten Gesicht aus wie ein Bruder von Ernest Hemingway. Was, wenn sich beim Reisenden Ernüchterung einstellt und er sich bitter selbst befragt: Was mache ich hier?

Wohin müssen wir uns aufmachen, um allein zu sein?

Kuta ist mittlerweile eine Vorhölle geworden, das Schlimmste, was der Tourismus aus einem Ort machen kann. Will ich zwei Tage unterwegs sein, um an einem betonierten Strand auf ein zugemülltes Meer zu schauen? Oder mit zweitausend Ecstasy-Schluckern auf der Full Moon Party Ko Phangans tanzen, wo ich vor nicht zu langer Zeit allein in einer Hängematte lag und mit den Fußspitzen durch den warmen Sand strich? Selbst an Australiens Westküste, an die sich selten jemand verirrt, habe ich beim Baden zwischen Delfinen das Wasser mit einer Frau aus Frankfurt geteilt, die ihr breites Hessisch gut hörbar über die weichen Wellen goss. Wohin müssen wir uns aufmachen, um allein zu sein? Um den Menschen aus unserer Heimat und dem Schändlichen, das nicht nur der Massentourismus verbockt hat, zu entkommen? Wie weit müssen wir gehen, wohin müssen wir unser Gepäck tragen? Und sehen wir die Landschaften und Gesichter dort zum ersten Mal? Staunen wir über ihre Jungfernhaftigkeit, oder haben wir sie längst schon durch den Bildschirm im Wohnzimmer in unser visuelles Schlummerbewusstsein geholt? Als unsere nächsten Nachbarn im Global Village, in dem alle Pfade abgetreten, alle Fahnen schon gesteckt und alle Kameras schon gelaufen sind?

Die Orte meiner frühen Reisen sind versunken, abgetaucht in ein Meer des Unwiederbringlichen. Würde man mich heute am Strand Yucatáns absetzen, dort, wo das Wasser nur uns gehörte, müsste ich wohl weinen. Über die Liegen und Buden auf dem weißen Sand, die gefällten Palmen und das Betonelend aus zehn Stockwerken, dem die Hütte weichen musste, die wir uns damals mit fetten Vogelspinnen und einem gewissen Jock teilten, der die USA aus Gründen verlassen hatte, die auf kriminelles Glücksspiel verwiesen und nach denen wir mit der Nonchalance weit gereister Weltbürger natürlich nicht fragten. Was mir bleibt, ist die Sehnsucht nach diesen verlorenen Orten. Vielleicht ist das die Essenz wirklichen Fernwehs.

Überhaupt scheint es proportional zum steigenden Lebensalter zu schwinden. Ich jedenfalls entwickle eher neurotische Züge, was Reisen angeht. Früher hat es mir nichts ausgemacht, in einer Kaschemme in Nairobi auf einen Bus zu warten, der niemals kam, während nebenan die Mäuse über den Lehm huschten und ich die Cola aus einer Flasche trank, deren Kronkorken Rost angesetzt hatte. Für zwei Dollar habe ich auf einer Pritsche in einem Hinterhof in Bangkok übernachtet, unter einer Klimaanlage, die nicht aufhörte zu dröhnen, und am Morgen bin ich ausgeruht und fidel aufgewacht. Heute könnte man mich so foltern. Wenn mir jemand erzählt, er fliegt nach Burma, um das goldene Dreieck zu bereisen, überfallen mich alle möglichen Gefühle, nur kein Neid.

Ab welcher Kilometerzahl darf man das Weh Fernweh nennen?

Aber mit welcher Distanz, ab welcher Kilometerzahl dürfen wir eigentlich das Weh auch Fernweh nennen? Kann ich ein Weh haben nach der dänischen Küste, die von mir nicht weiter entfernt liegt als tausend Kilometer? Nach diesen kleinen pastellfarbenen Küstenorten, die sich im Sommer so unverschämt entrückt an ein bleifarbenes Meer schmiegen, wo es Eis in zehn kaum unterscheidbaren Rosatönen gibt und flachsblonde Kinder mit Schmetterlingsnetzen über die sanften Hügel turnen? Nach diesem Holzhaus zwischen Butterblumen, an dessen Fenster nachts die Zitronenfalter schlagen?

Klingt es abwegig, wenn ich sage, Dänemark ist mein neuer Sehnsuchtsort, dieses aus der Welt gefallene Land der Schneekönigin und des tapferen Zinnsoldaten, das Land mit den fliegenden Pferden, den hellblau getünchten Zäunen, den blitzweißen Schlössern und Stockrosen, unter diesem Himmel, der seine Farbe jeden Tag zweihundertmal, mindestens zweihundertmal ändert? Vielleicht ist mir das Ferne in all den Jahren zu nah gerückt, vielleicht hat sich während des Erdwanderns meine Welt verdreht. Der Zauber jedenfalls, der früher nur der Ferne innezuwohnen schien, zeigt sich jetzt auch anderswo.

Eine zarte Sehnsucht ist jedoch geblieben, sie schlummert in mir und will bald ausbrechen, ich kann es spüren. An einem Sonntagmorgen möchte ich noch einmal in Manhattan aufwachen und durch verwaiste Straßen zum Central Park hinabgehen, in einem kleinen sauber geleckten Café mit den Joggern den Latte aus einem Pappbecher trinken und die Schlagzeilen der "Sunday New York Times" überfliegen. Nach diesem Sonntagmorgenmanhattan mit seinen ausgestorbenen Straßen, das so tut, als seien die Häuser unbewohnt, danach habe ich ein Weh, nach dieser Art der Stille, die es nur hier gibt, nur auf diesen breiten einsamen Wegen, nur an diesem einen Tag der Woche.

Ein Sehnsuchtsort: Broome in Westaustralien

Und ich möchte nach Broome, Westaustralien, das ich nicht vergessen kann, das mich über Nacht infiziert hat, dieses Provinznest über dem Wendekreis des Steinbocks, mit seinem blutroten Abendhimmel und der nie nachlassenden Wärme, mit seinen Schaumkronen, die den Wellenreitern den Weg weisen, und den aufspringenden Bürgersteigen, die von den mächtigen Wurzeln der Affenbrotbäume zurückgedrängt werden.

Wenn meine Kinder groß genug sind, will ich mit ihnen an diesen leisen Ort, an dem das einzige Geräusch von den Meereswellen zu kommen scheint und der am Ende meiner Welt liegt. Ich will sehen, wie sie ins schreiend blaue Wasser springen und zu den giftgrünen Sonnenanbetern sprechen, die sich am Abend auf ihre Arme setzen. Wie sie Ausschau halten nach den Fluken der Delfine und den Kakadus nachblicken, die über ihren Köpfen kreischend aus Eukalyptusbäumen fliegen. Ich will sehen, wie sie ihre Augen aufreißen, wenn jemand vor Krokodilen warnt und von dem jüngsten Zyklon erzählt, der zwei winzige Küstenstädtchen weiter südlich weggefegt hat. Solange sie allerdings noch zu klein sind, sollten wir uns die Wanderstrecken vornehmen, die den Taunus zerschneiden. Schließlich beginnen sie vor unserer Haustür.

Zsuzsa Bánk wurde 1965 in Frankfurt geboren, ihre ungarischen Eltern waren nach dem Aufstand 1956 in den Westen geflüchtet. Sie machte eine Ausbildung als Buchhändlerin und studierte anschließend Publizistik, Politik und Literatur. 2002 erschien ihr Debütroman "Der Schwimmer", der in Ungarn spielt und für den sie mehrere Preise bekam. 2005 folgte ihr Erzählband "Heißester Sommer". Zsuzsa Bánk lebt in Frankfurt, sie hat zwei Kinder im Alter von fünf und vier Jahren.

Text: Zsuzusa Bánk Foto: iStockphoto

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