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"Tausendjährige Eier mit Tofu, bitte!"

In China dreht sich alles ums Essen. Drei warme Mahlzeiten sind die wichtigsten Rituale im Tagesablauf. BRIGITTE WOMAN-Mitarbeiter Janis Vougioukas, der seit sieben Jahren in Shanghai lebt, hat sich von der Esslust anstecken lassen.

Zuerst ein Geständnis: Ja, ich habe Hund gegessen! Beim ersten Mal hatte ich mich überrumpeln lassen. Ein chinesischer Freud hatte mich zum Essen eingeladen. "Ich will dir ein paar chinesische Spezialitäten zeigen", hatte er gesagt. Und ich hatte nicht schnell genug geschaltet. Das Restaurant war romantisch eingerichtet, Kerzenschein und kuschelnde Paare. Mitten beim Essen lachte mein Freund plötzlich laut los. "Weißt du eigentlich, was du gerade isst?" Ich höre diese Frage immer wieder, auch nach sieben China-Jahren kann man mich damit immer noch überraschen.

Essen ist das größte Missverständnis zwischen China und dem Westen.

Inzwischen ertappe ich mich manchmal dabei, selbst schon wie ein Chinese zu denken. Neulich im Einkaufszentrum: Ich bummelte ziellos durch die Geschäfte und stand auf einmal vor einem riesigen Aquarium mit Zierfischen. Ein großer Schwarm, ganz dicht an der Scheibe, schaute mich an. Und mein erster Gedanke war: "Hallo, du siehst aber lecker aus!" Und dann dachte ich: "Lecker?!" Ich habe mich ein wenig über mich selbst erschreckt. Ihrer Experimentierfreude verdanken die Chinesen, dass sie über die vielfältigste und abwechslungsreichste Küche der Welt verfügen. Was in China abends auf den Tisch kommt, hat wirklich gar nichts mit der wabbeligen süß-sauren Pampe zu tun, die in vielen deutschen Chinarestaurants serviert wird. Die meisten Chinesen kennen nicht einmal die Glückskekse, die kommen nämlich ursprünglich aus Japan. Das Essen ist vielleicht das größte Missverständnis zwischen China und dem Westen.

In China ist Essen viel mehr als Nahrungsaufnahme: Drei warme Mahlzeiten sind die wichtigsten Rituale im chinesischen Tagesablauf, jeder wird nervös, wenn er um kurz nach 12 Uhr nicht am Mittagstisch sitzt. Selbst Kleinkinder können die Lieblingsgerichte längst verstorbener Kaiser und Generäle aufzählen. Sie kennen auch die feinen Unterschiede der "zehn großen kulinarischen Traditionen", die der chinesischen Küche ihre viele tausend Gerichte vermacht haben. Manche Leute sagen, dass die Fresslust der Chinesen noch immer in den hungrigen Zeiten wurzelt. Während des "Großen Sprungs nach vorn" und der Kulturrevolution litt China unter Nahrungsmittelknappheit. Der große Führer Mao Zedong war damals wohl der einzige dicke Chinese. Doch nach 30 Jahren Wirtschaftsboom müssten die Chinesen sich eigentlich längst satt gegessen haben.

Wie wichtig den Chinesen ihr Essen ist, habe ich erst vor ein paar Jahren wirklich verstanden. Im Oktober 2003 saßen wir (1,3 Milliarden Chinesen und ich) vor dem Fernseher und verfolgten, wie Yang Liwei an Bord der "Shenzhou 5" in den Weltraum geschossen wurde, Chinas erster Astronaut. Das staatliche Fernsehen sendete stundenlang live. Als die Rakete den Orbit erreicht hatte, zeigten die Kameras die strahlende Astronautengattin Zhang Yumei, die sich im Kommandozentrum ans Funkgerät setzte. Ihr Mann war der erste Chinese im Weltall, und ihre erste Frage lautete: "Hast du schon gegessen?" Später erfuhren die Zuschauer auch, dass die Weltraumbehörde für ihre Astronauten die Menüs "geschmortes Schweinefleisch", "gedünstete Entenbrust" und "Mondkuchen mit Taro-Füllung" bereithält.

In China wird den ganzen Tag übers Essen geredet

Die Deutschen reden den ganzen Tag über die Arbeit. Die Chinesen reden den ganzen Tag übers Essen, auch bei der Arbeit. Das ist so ansteckend, dass man automatisch mitmacht. Und daher ist es kein Wunder, dass inzwischen die Unterhaltungen bei uns zu Hause so klingen: "Was essen wir am Wochenende?" - "Sollen wir ins Restaurant 'Di Shui Dong' ('Tropfwasserhöhle') gehen? Ich vermisse den fettengebratenen Schweinebauch mit süßer Sojasoße." - "Ich auch, aber wir dürfen nicht vergessen, die kalt gemischte Fischhaut und den Enten-Feuertopf zu bestellen und unbedingt die tausendjährigen Eier mit Tofu!"

Wenn wir Essen gehen, trommeln wir so viele Freunde wie möglich zusammen - denn umso mehr kann man ordern. Die Restaurants haben runde Tische, alles kommt in die Mitte auf eine drehbare Platte, und es wird geteilt.

Ganz Shanghai isst im Sommer die kleinen Monster.

Ganz Shanghai freut sich besonders auf den Sommer, dann beginnt die kulinarische Festsaison. In dieser Zeit fallen Millionen kleine Monster über die Stadt her. "Xiao long xia" heißen die Tiere mit dem hartem Panzer und den Scherenhänden auf Chinesisch, übersetzt "Kleine Drachen-Garnelen" - oder Flusskrebse. Dann bilden sich vor den Spezialitätenrestaurants lange Schlangen. Manche warten bis weit nach Mitternacht, um die kleinen Monster zu essen. Echte Kenner gehen in spezielle Flusskrebs-Restaurants, die nichts anderes anbieten als die "Xiao long xia" ohne Beilage, wahlweise feuerscharf, mittelscharf oder leicht scharf. Kein Kerzenschein, keine vornehmen Kellner, keine leichte Hintergrundmusik - es geht tatsächlich nur ums Essen. In meinem Lieblingsrestaurant werden die Tiere in großen Schalen serviert. Die Gäste binden sich Plastikschürzen um und essen direkt mit den Händen. Viele haben ausgefeilte Techniken entwickelt, um das zarte weiße Fleisch aus den winzigen Gliedmaßen der Krebse zu saugen. Vor jedem Gast steht eine Müllschale auf dem Tisch. Die Reste lässt man einfach aus dem Mund plumpsen.

Ganz Shanghai ist süchtig danach, die Flusskrebs-Saison ist eine Ausnahmezeit. Dann hängen Warnschilder an den Flughäfen: Flusskrebse im Handgepäck verboten. Experten behaupten, die Restaurants wüschen die Krebse in Waschmaschinen - abhängig mache eigentlich das Waschmittel. Den Shanghaiern ist das aber total egal. Kellner, noch einen Eimer Krebse! Feuerscharf!

Text: Janis Vougioukas Foto: iStockphoto.com

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