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Schlaftrunken in Istanbul

Die Menschen in Istanbul sind gastfreundlich, lebenslustig und kontaktfreudig. Vorausgesetzt, sie fahren nicht mit dem Bus zur Arbeit. Da mutieren sie zu Schlafmützen.

Frühstücken, schminken - der Tag fängt erst im Büro an.

Münder stehen offen, Wangen kleben an Scheiben, Köpfe fallen auf Brüste und kreisen umher, bis sie auf einer Schulter liegen bleiben. Hinter mir ein Schnaufen, dann ein Röcheln, das in sanftes Sägen übergeht - mein Hintermann schnarcht. Und das, wo er doch eigentlich gerade mal erst aufgestanden ist. Es ist ein strahlend sonniger Herbstmorgen in Istanbul, ich bin mit dem Bus auf dem Weg zur Arbeit, hellwach und voller Tatendrang. Doch die Menschen um mich herum schlafen. Oder dösen zumindest - und zwar so gut wie alle. Gegenüber schaut eine Frau verträumt aus dem Fenster, zwei Reihen vor mir blättert einer müde im Sportteil seiner Zeitung. Wenn er ein Fan des Fußballclubs Galatasaray Istanbul ist, müsste er genau jetzt in lautstarkes Geschimpfe ausbrechen, schließlich haben seine Helden am Wochenende das Lokalderby gegen Fenerbahçe verloren. Tut er aber nicht. Er seufzt nur und blättert weiter. Der Fußballfan und ich befinden uns nämlich nicht in einem normalen Linienbus, sondern im "Servis". Und in einem Servis wird nicht geschrieen, ja nicht mal gesprochen. Ein Servis ist ein privater Unternehmensbus und verhält sich zu einem profanen öffentlichen Gefährt der Istanbuler Stadtwerke ungefähr so wie Stehplätze in den hinteren Reihen des Stadions zu VIP-Karten für den Logenbereich. Der Linienbus ist klapprig, hält alle fünf Meter und ist grundsätzlich überfüllt. Der Servis nimmt den direkten Weg, niemand muss stehen, und es gibt weiche Velourssitze und Vorhänge gegen die Sonne - die könnte ja beim Schlafen stören.

Jeden Morgen starten von den zentralen Punkten der großen türkischen Städte hunderte dieser Busse zu Firmen und Behörden, schlucken Massen von müden Angestellten in ihre Bäuche, karren sie über heillos verstopfte Straßen und spucken sie vor den Bürotürmen aus Glas und Beton wieder aus. Jede Firma hat ihren eigenen Servis. "Hürriyet" steht dann zum Beispiel auf dem Schild hinter der Windschutzscheibe, "Akbank" oder "Pasabahçe". Die Unternehmen zahlen, betrieben werden die Busse meist von eigenständigen Firmen. Für die Angestellten ist die Fahrt kostenlos. Es ist ein Service der Unternehmen, kein Umsteigen ist nötig, es gibt wenige Haltepunkte und sogar verlässliche Abfahrtszeiten, um den müden Büromenschen die leidige Odyssee mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu ersparen. Und müde sind sie alle. Der Servis ist darum so etwas wie das zweite Bett der Istanbuler, die Stunde im Bus wird zur Nachtruhe einfach dazugerechnet: Der Wecker klingelt, raus aus den Federn, sich schlaftrunken anziehen und zur Bushaltestelle schleppen, weiterschlummern. Servis-Zeit ist Schlafenszeit. Der Tag fängt dann eben erst im Büro an: frühstücken, schminken, alles wird dort erledigt, um ja keine Zeit zu Hause zu verschwenden.

Der Servis-Bus ist die Türkei falschherum.

All das wusste ich nicht, als ich zum ersten Mal selbst mit dem Servis zur Arbeit fuhr. Es war mein zweiter türkischer Arbeitstag, eben hatte ich an der Haltestelle gestanden und war sehr froh gewesen, eine meiner neuen Kolleginnen zu sehen, eine sehr nette noch dazu - Sevda, Mitte 30, mit mütterlichem Lächeln. "Prima", hatte ich gedacht, "jetzt kann ich Sevda unterwegs ein wenig besser kennen lernen." Freudig hatte ich ihr also schon von Weitem gewunken. Und Sevda? Hatte höflich zurückgelächelt, war drei Meter neben mir stehen geblieben, hatte ein Buch ausgepackt und zu lesen begonnen. Ich habe mich dann nicht getraut, mich im Bus neben sie zu setzen. Gedämpft dringt jetzt der Straßenlärm durch die Fenster hinein, ansonsten herrscht hier, oh Wunder, Stille.

Bus fahren ist in Istanbul ein Moment der himmlischen Ruhe

Selten erlebt man in Istanbul solche Momente himmlischer Ruhe, die wirklich ein kostbares Gut ist in einer Stadt, deren Einwohnerzahl auf irgendetwas zwischen 15 und 20 Millionen geschätzt wird. Und in der auf der Istiklal Caddesi, der Flanier- und Amüsiermeile der Stadt, noch morgens um vier "kalabalik" herrscht, also Gedränge, im Klartext: "die Hölle los ist". Im Servis aber sind die Regeln des Istanbuler Alltagslebens außer Kraft gesetzt, der Bus ist die Türkei falschherum. Offene, freundliche Menschen, die normalerweise "yabanci", Ausländer, in ihrem Land herzlich willkommen heißen und sich für ihr Wohlergehen höchstpersönlich und unter bedingungslosem Einsatz aller Kräfte, Ressourcen und Familienangehörigen verantwortlich fühlen, lassen plötzlich nicht nur diese "yabanci" links liegen, sondern grüßen auch ihre Kollegen kaum noch. Aus gut gelaunten, geselligen Zeitgenossen, für die Alleinsein nichts als ein grauenvoller Zustand ist, der möglichst schnell beendet werden muss, werden im Servis schweigende Eigenbrötler. Und das, obwohl in der Türkei Geselligkeit allererste Bürgerpflicht ist. "Kaynasmak", was im Englischen so viel wie "to socialize" heißt und wofür es im Deutschen ja bemerkenswerterweise nicht mal ein richtiges Wort gibt, ist vielleicht die türkischste aller Tätigkeiten überhaupt, der reinste Ausdruck der türkischen Seele. Es bedeutet in der Praxis in etwa: sehr viel Zeit miteinander verbringen, und je mehr Leute dabei mitmachen, desto besser! Frühmorgens im Servis aber schläft die türkische Seele noch, vielleicht gerade, weil sie sich am Vorabend wieder mal mit Freunden oder der Familie festgequatscht hat.

"Katja, möchtest du Tee oder Kaffee?" Meinen zweiten türkischen Arbeitstag rettete meine Kollegin Sevda, in dem sie sich, kaum aus dem Servis gestiegen, wieder in eine überaus gastfreundliche Türkin verwandelte und Frühstück für uns beide machte - Kennenlernen inklusive.

Neulich war übrigens eine Praktikantin bei uns zu Gast, eine Engländerin. Ich habe sie an der Bushaltestelle nett gegrüßt, ihr einen schönen Tag gewünscht und dann demonstrativ meine Kopfhörer aufgesetzt und Musik gehört. Irgendwann brauche ich ja auch mal meine Ruhe. Servis-Zeit ist für mich Tagtraumzeit. Am Schlafen arbeite ich noch.

Text: Katja Michel Foto: Getty Images

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