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Kurische Nehrung: Eine Reise und eine Liebe

Als Autorin Beatrix Gerstberger auf die Kurische Nehrung in Litauen fuhr, war dies eine Reise in die Vergangenheit ihrer Großmutter.

Es waren einmal zwei Frauen, die wurden im Jahr 1919 geboren. Die eine in Magdeburg, die andere in Litauen. Die beiden Frauen haben sich nie kennen gelernt, aber sie sahen sich im Alter auf unheimliche Weise ähnlich. Als sie noch sehr jung waren, hatten beide ein paar Sommer in Litauen gehabt, die ihnen später wie eine Zeit voller Licht, Sonne und Tanz erschienen.

Die eine hieß Felicia: das Glück. Die andere Ursula: Sie war meine Großmutter. "Ich fahre auf die Kurische Nehrung", hatte ich zu ihr gesagt. "Damals", sagte meine Großmutter, "da waren die Sommer dort sehr heiß." Sie hatte im Sommerhaus der Eltern ihrer Freundin in Cranz gewohnt, sie war 18 oder 19, sie war jung, und auf den Fotos trägt sie enge Röcke und weiße Blusen, und das dicke schwarze Haar fliegt ihr aus der Stirn.

Felicia zog in dieser Zeit von der Nehrung nach Kaunas. "Ich war eine geborene Schröder", sagt sie. Schon die Urgroßeltern lebten in Hochlitauen, wie sie es nennt, und als sie zehn Jahre alt war, verschwand ihr Vater in einem Lager. Der Vater, der immer nach Hause kam mit Geschenken für die Mutter, mit Bonbons für seine Tochter. "Es war ein goldenes Leben", sagt Felicia. Später, als er wieder freigelassen wurde, zahlte man ihm 172 Rubel. 172 Rubel für zehn Jahre Gefangenschaft. Ein gebrochener labiler Mann, Felicia wollte nicht mehr zu Hause bleiben, sie zog nach Kaunas, sie wurde Krankenschwester.

Auch meine Großmutter machte eine Ausbildung zur Krankenschwester. Ich rufe sie an. "Oma", sage ich, "ich bin jetzt in Nida." - "Es heißt Nidden", sagt sie. "Jedenfalls früher." Meine Großmutter erinnert sich an das Kleid, das sie damals in Nida getragen hatte. Es war dunkelblau mit einem weißen Kragen. "In Nidden siehst du, wie das Meer in den Horizont schwimmt", sagt sie.

Die Kurische Nehrung - hier hat alles eine seltsame Langsamkeit

"Kannst du die Kiefern riechen?" Die Kiefern säumen den Weg zum Strand. Der Boden ist sandig und weich, am Rand wachsen Sanddorn und Ginster. Es riecht nach Sommer und Sonnencreme, nach Gebratenem. Es ist Hochsaison, doch am Strand laufen nur Einzelne. Die Wellen schlagen hoch, und der Sand rieselt fein und hell durch die Finger. Alles hier hat eine seltsame Langsamkeit, die Bewegungen der Menschen, die hierher kommen und längst verwehte Lebensgeschichten suchen, ihr altes Leben vor dem Krieg suchen. Hier im alten Memelland, sagen sie. Das ein halbes Jahrhundert unerreichbar war.

Sie kommen in Bussen, in großen Gruppen, sie tragen Wohlstand im Gesicht und Popelinejacken, und die Männer nennen oft noch ihre Namen und irgendeine Division, eine Regimentsnummer. Es ist ein rückwärts gewandtes Reisen in einem Land, das auch gerade deshalb eine touristische Zukunft hat. Es ist ein Land, in dem viele etwas suchen. Ein Land mit hellen Birken und hellen Mondnächten, mit Schilfbuchten und Schwertlilien, ein Land, von dem man sagt, dass es von Neringa, der schönen sandblonden Riesin, geschaffen wurde und dass hier noch die Hexen in den Baumwipfeln hausen und die Elche bei Vollmond aus dem Dickicht kommen und im Meer baden.

Am Hafen in Nida liegen ein paar kleine Fischerboote. Die Mole ragt in ein silbrig-flaches Meer, und hinter der Strandpromenade ducken sich kleine Häuser mit alten Bauerngärten. Rot, Grau, Weiß und "Ostpreußisch-Blau" sind die Farben, in denen sie gestrichen werden dürfen. Die alten Farben. In den eingezäunten Gärten stehen Räucherkästen für Aale und Flundern.

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Kazimieras Mizgiris sitzt im Garten seines Bernsteinmuseums und verteilt Bernsteinschnaps: klaren Schnaps aus einer Flasche, die zu einem Viertel mit Bernstein Haus in einem wild wuchernden Garten. Ich beschreibe es ihr. Sie schweigt am Telefon. Vielleicht ist sie in diesem Moment wieder 18. "Und Pillkoppen?", fragt sie plötzlich. In Pillkoppen, zwischen Cranz und Nida, sitzt eine Familie im Garten und isst zu Mittag, laute russische Musik dröhnt aus einem Kassettenrecorder.

"Soljanka", sagt die Frau und macht eine einladende Bewegung mit der Hand. Ihr Haus ist alt, dahinter ragen die Neubauten der "Neuen Reichen", der neuen Russen aus Moskau und St. Petersburg, in die Höhe. Die Bewohner kommen nur zwei Wochen im Jahr, das Wachpersonal ist immer anwesend. Felicia fährt nicht mehr nach Pillkoppen. "Früher ja", sagt sie, "aber heute? Die Grundstücke kosten inzwischen eine Million Dollar, alles muss neu sein, die alten Häuser werden weggerissen, niemand will sie, niemand sieht ihre Schönheit. Aber es gab da diese Düne, ich erinnere, wie die Schatten der Wolken darüber jagten." - "Es gibt doch dort diese Düne nah am Ufer, da habe ich manchmal gelegen und beobachtet, wie der Sand ins Meer flog", sagt meine Großmutter. Der Sand hat im Laufe der Jahrhunderte 14 Dörfer verschluckt. Das Leben musste hier stets immer weiterwandern.

Das eigentümliche Licht in Nida zog viele Künstler an

Als meine Großmutter auf die Kurische Nehrung fuhr, war die große Zeit der Künstler schon fast vorbei, 200 Maler lebten damals Anfang der dreißiger Jahre rund um Nida, angezogen von seinem eigentümlichen Licht, seinem Flimmern, dem Leuchten am Morgen und den weichen Schatten am Abend.

Frauen mit Kopftüchern, die Fische vor ihrer Haustür säubern, der Herr Pfarrer mit den netten Konfirmandinnen vor seiner Kirche, das war das eine Nida, Mädchen mit Intellektuellenbrillen und verkannte Genies, die am Badesteg entdeckt werden wollten, das war das andere Nida, schrieb damals die "Freie Presse".

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Nida, das war für ein paar Jahre der Treffpunkt der Künstler, der Berühmten. Bernhard Minetti, Heinz Rühmann, Carl Zuckmayer, Max Pechstein, Willy Fritsch, Sigmund Freud, sie alle kamen, und über allen thronte Thomas Mann ab 1929 drei Sommer lang in seinem Haus "mit dem Italienblick". Trinken, essen, diskutieren, in Hermann Bodes Künstlergasthof, den es noch heute gibt, trafen sie sich. Und wenn einer seiner Gäste nicht zahlen konnte, akzeptierte er ihre Bilder. Das hat meiner Großmutter gefallen.

Abends ist sie einmal in die "litauische Sahara", auf die "Hohe Düne" am Ortsrand, gegangen. Tal des Schweigens wird dort ein Plateau genannt. Die Sonne geht unter, der Sand färbt sich violett und dann blau. In der Ferne stapft ein Soldat die litauisch-russische Grenze ab. Ich sitze still. Plötzlich schleicht ein Wolf vorbei. Er hält inne, wendet den Kopf zu mir und geht weiter. "Umweltstimmung, Erstlingsfrische, Schöpfungszauber, der einen anweht", schrieb das "Berliner Tageblatt" 1932 über die Kurische Nehrung. "Ist das nicht etwas nordöstliches Rauhes, Schwermütiges?"

"Ich kann es nicht erklären, aber etwas hat mich dort berührt", sagt meine Großmutter. Felicia steht in ihrem Garten am Meer. "Ich war Russin, Litauerin, Polin, Deutsche, ich war vieles in meinem Leben. Im Leben muss man viel lachen, sonst macht es zu viele Runzeln." Sie schweigt. "Dies ist mein Eigentum", sagt sie dann. "Die Menschen kommen hierher, um einmal echte Luft zu atmen." Sie schweigt wieder. "Vielleicht kann man nur einmal in seinem Leben wirklich lieben", sagt sie. "Einen Menschen. Oder einen Ort. Er muss nicht schön sein. Muss einem nur ans Herz wachsen." Ursula ist vier Monate nach meiner Reise gestorben. Ob Felicia noch lebt, hat mir niemand sagen können.

Reise-Infos Kurische Nehrung

Flüge: nach Palanga mit SAS via Kopenhagen von vielen großen Flughäfen ab 290 Euro. Wöchentliche Direktflüge zwischen Mai und September mit FLY LAL ab Berlin, Hamburg, Hannover, Frankfurt, Köln und München ab 220 Euro. Eine Woche Flug, Hotel und Mietwagen ab/bis Hamburg ab 698 Euro pro Person im Doppelzimmer im Hotel "Nidos Smilte" Unterkunft in Nida: schöne und preiswerte Privatunterkunft "Das Fischerhaus" bei Albina Sturiene, pro DZ/F ab 70 Euro. - Modern und im Ortskern: Hotel "Nerija", DZ/F ab 98 Euro Alle Angebote vom Spezialveranstalter Schnieder Reisen/Cara Tours, Schillerstraße 43, 22767 Hamburg, Tel. 040/380 20 60, Fax 38 89 65, http://www.baltikum24.deAllgemeine Auskunft: Baltikum Tourismus Zentrale, Katharinenstraße 19-20, 10711 Berlin, Tel. 030/ 89 00 90 91, Fax 89 00 90 92, www.gobaltic.de

Buchtipps: - Christiane Bauermeister: "Richtig reisen Baltikum", Du Mont, 22,50 Euro - Günther Schäfer: "Litauen", Reise Know-How Verlag, 14,90 Euro

Text: Beatrix Gerstberger Fotos: Frank Siemers

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