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Unbekannte Freundin

Wer nach dem Prinzip der 5 W (Women Welcome Women World Wide) unterwegs ist, reist mitten hinein ins private Leben seiner Gastgeberin: ein Reisebericht

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Zwischen grauen Wolken, hoch über Tallinn, stelle ich sie mir noch einmal vor. Lustige Augen, schwarze Mähne, eine mollige Frau. Kleiner als ich. So sah sie auf dem Bild aus, das sie mailte. Was ich von ihr weiß? Lea heißt sie, Lea Phihelgas. Sie wohnt in einem Vorort im Süden der Stadt. Ich kenne ihre Telefon- und Handy-Nummer und ihr Alter: 52. Ihre Hobbys sind Menschen, Natur, Architektur. Sie geht gern ins Kino, tanzt in Clubs Walzer, Tango und Foxtrott mit Endel, ihrem Freund, und gehört seit fünf Jahren der Organisation mit den fünf W an: Women Welcome Women World Wide – Frauen heißen andere Frauen aus der ganzen Welt willkommen.

Aus dem Katalog dieser Organisation habe ich Lea ausgesucht. Eine von rund 2500 Frauen aus aller Welt. Auf Estland war ich besonders neugierig.

Lea leitet seit zwölf Jahren einen Kindergarten, hat Vorschulpädagogik studiert, Psychologie und Schulmanagement und moderne Führungsmethoden gelernt. Die Abkürzungen, mit denen sie im Katalog vorgestellt wurde – Ch, Hw, NS – bedeuteten: Lea hat children, würde auch meinen husband willkommen heißen und ist non-smoker.

Auf dem Flughafen steht keine wie sie – aber Bilder können täuschen. Ich bin ja auch nicht mehr blond gesträhnt. Ich spreche Frauen an, die sich wie ich ratlos umsehen. Lea? No, sorry, I’m Barbara. Der Flughafen leert sich. Draußen ist es grau und nass. Während ich überlege, ob ich mit dem Taxi zu ihr fahre, nähert sich eilig eine Frau mit schwarzem Haarschopf und einem orange leuchtenden Mantel. Das ist sie. "'tschuldigung", sagt sie, "keine Parkplätze da draußen, Peter wartet im Auto." Peter ist Leas ältester Sohn, 31 Jahre alt, Ökonom und Projektmanager einer kleinen Firma. Lea ist wichtig, dass sein Name deutsch geschrieben wird, nicht russisch, Petr. Das kleine "e" stand bei seiner Geburt für ihren Wunsch, das okkupierte Estland möge sich dorthin öffnen, wo die Leute Peter heißen. Um keine der Sprachen, die sie spricht, zu verlernen, spricht sie mit mir Deutsch, mit Engländern Englisch und mit Franzosen Französisch. Lea, lerne ich in dieser Woche, hat zwei Ritter an ihrer Seite. Endel, den Freund, und Peter, ihren Sohn. Soll ich einkaufen gehen, frage ich Lea. Nein, das kann Endel machen. Soll ich ein Taxi rufen? Nein, Peter kann uns fahren. Ein bisschen, findet Lea, sind Männer auch dafür da, Frauen das Leben leichter zu machen.

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Wir kaufen zum Abendessen Fleisch, Kartoffeln, Obst und Bier in einem Supermarkt von gigantischer Größe. Zwei Fußballfelder unter Neonlicht. Estland gehört seit Mai 2004 zu Europa. Das ist gut so - aber müssen deshalb der Kaffee, die Seife, die Zahnpasta und das Shampoo die gleichen sein wie bei uns? Globalisierung ist eine ziemlich langweilige Angelegenheit.

Peter fährt uns in Leas Wohnviertel. Bevor wir aussteigen, legt er eine eiserne Wegfahrsperre um das Lenkrad. Angst vor Dieben? Peter erteilt dem Besuch aus Deutschland die erste Lektion zum Thema Alltag in Tallinn. "Du kommst aus deiner Wohnung, dem Büro, dem Supermarkt, und dein Auto ist weg. Was machst du dann?" Die Polizei anrufen, was sonst?

"Falsch. Du gehst nach Hause und wartest am Telefon auf den Anruf eines Mannes, der dir dein Auto für den halben Preis anbietet. Der Mann, der dich anruft, ist nicht der Dieb, nur der Handlanger des Diebes. Für die Geldübergabe brauchst du selbst einen kriminellen Handlanger - so bleibt der eigentliche Täter im Dunkeln. Wir kaufen auf diese Weise unsere geklauten Handtaschen, Autos und Hunde zurück."

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Mustamäe heißt das Viertel, in dem Lea wohnt. Dreistöckiger Plattenbau, ein Erbe der russischen Besatzer. Ein Block sieht aus wie der andere. Im Treppenhaus bröckelt die Farbe, Leas Haustür ist elektronisch verriegelt. Zwei Zimmer, kleine Küche, kleines Bad. Das Wohnzimmer ist abends Leas Ess- und nachts ihr Schlafzimmer. Seit Peter nicht mehr zu Hause wohnt, gehört das zweite Zimmer Kaur, ihrem 17-jährigen Sohn. Kaur ist ein urestnischer Name, der kein zusätzliches "e" braucht.

Kaur ist ein schweigsamer Junge. "Kümmere dich nicht um ihn", sagt Lea. "Kaur steht nur auf, wenn er Hunger hat, aufs Klo oder in die Schule muss. Ansonsten ist er im Internet." Solange seine Noten in Ordnung sind - die überprüft sie regelmäßig im Netz der Schule -, lässt sie ihn surfen, solange und wohin er will. Das kostet in Estland fast nichts.

Leas Wohnung ist klein, aber ihr Eigentum. Unter den Sowjets standen jedem Esten fünf Quadratmeter Wohnraum zu. 15 Quadratmeter für drei Menschen - wer, wie Lea, mehr Platz hatte, brauchte sich um eine größere Wohnung gar nicht erst zu bewerben. Als Estland 1991 unabhängig wurde, haben alle, die im okkupierten Land gearbeitet haben, diese Zeit von der neuen estnischen Regierung vergütet bekommen. Das waren bei Lea 20 Jahre, und das entsprach in etwa dem Wert ihrer Wohnung. Mit dem Geld, das übrig war, hat sie ihrer Mutter ein Stück Land gekauft. Politik kann auch kreativ sein.

Lea verabschiedet sich für die Nacht, schläft in der Woche, in der ich bei ihr bin, bei Endel, überlässt mir die Schlafcouch. Peter fährt zu seiner Freundin. "Schau dich um bei mir", sagt sie, "viel zu sehen gibt es nicht, und alles, was im Kühlschrank steht, ist für dich." In Kaurs Zimmer ist es still. Keine Schritte, kein Rascheln, Kaur ist im Netz. In Leas Schrank, hinter den Glasfenstern, stehen Kristallgläser, dicke Fotoalben, Romane des großen estnischen Dichters Jaan Kross, Romane in Russisch, Französisch, Englisch. Gottfried Keller auf Deutsch. Lea spricht auch Finnisch, eine Sprache, die sie nicht lernen musste, weil sie ihrer Muttersprache sehr ähnlich ist. Für die Esten war Finnland während der 50-jährigen russischen Besatzung das Fenster zur Welt. Im finnischen Fernsehen sahen sie Nachrichten, die das Staatsfernsehen im eigenen Land nicht zuließ, und es liefen amerikanische Spielfilme.

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Für Lea ist Geschichte mehr als Bücherwissen. Geschichte ist das Leben ihrer Mutter als Busfahrerin. Das Leben ihrer Großmutter, die neun Kinder zur Welt brachte, und ihr eigenes Leben. Mangel, Verbote und Zensur, solange sie zurückdenken kann. Und das Wissen um die Folgen des Hitler-Stalin-Paktes, mit dem 1939 der sowjetische Terror in Estland begann. 60000 Menschen flohen nach Schweden und Deutschland. In der Nacht zum 14. Juni 1940 wurden 11000 Esten nach Sibirien verschleppt, kaum jemand kam zurück. Als deutsche Wehrmachtsverbände im Spätsommer 1941 in Estland einmarschierten, wurden sie als Befreier gefeiert. Aber die Russen eroberten Estland zurück, und es begann, vor allem in den Städten, das, was man Russifizierung nennt, eine massenhafte Umsiedlung russischer Arbeitskräfte nach Estland. Der Anteil der Esten in ihrem eigenen Land sank in den Jahren der Besatzung von 88 auf 61 Prozent. Russisch wurde Schul- und Amtssprache. Vor manchen Sätzen muss Lea tief Luft holen. "Estnische Buchstaben wurden faschistisch genannt, weil sie wie deutsche Buchstaben aussahen!"

Beim Spaziergang durch die alte Hansestadt, auf dem mittelalterlichen Rathausplatz von Tallinn, schildert sie bewegt den Anfang der "singenden Re-volution". Es war im August 1988. Die Menschenkette, die von Estland nach Litauen reichte, war 600 Kilometer lang. Eine Million Menschen hielten sich an den Händen. Sie sangen ihre eigenen Lieder in ihrer eigenen Sprache. Die Esten haben die Besatzer aus dem Land gesungen. Drei Jahre später war Leas Land eine unabhängige Republik.

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Als Fremdenführerin ist Lea perfekt. In der Altstadt kennt sie jedes gotische Handelshaus, jede Renaissancefassade, jede barocke Kirche, jedes Denkmal, alte Sagen und Legenden. Sie kennt alle Okkupanten zwischen dem 11. und 21. Jahrhundert. Lea hat sich zur Reiseleiterin ausbilden lassen, damit sie in den Ferien fremde Länder sehen und, statt Geld auszugeben, ein bisschen Geld dazuverdienen kann. Als Chefin eines Kindergartens mit 56 Angestellten verdient sie keine 500 Euro netto im Monat. Ich klinke mich in Leas Alltag ein. Ich stehe um sechs Uhr auf, koche Kaffee, Lea kommt von Endel zum Frühstück um sieben. Am ersten Morgen legte sie vier fette Würste in die Pfanne. Muss der Gast essen, was auf den Tisch kommt? Es gibt Grenzen. Ich sagte vorsichtig: "Iss du sie, bei uns frühstückt man anders." Lea lachte: "Ich krieg die Dinger morgens auch nicht runter. Braten wir sie für Kaur, der mag das." An unserem ersten Morgen begriffen wir, dass es Unsinn ist, über die Deutschen und die Esten zu reden. Also: Nicht wir essen morgens keine Würste, sondern ich nicht. Andere Deutsche schon. Lea auch nicht. Aber Kaur.

Ihr Kindergarten heißt Rõõmupesa, "Freudennest". Das Freudennest ist ein Weiberladen. Auch in Estland werden Männer keine Kindergärtner.

Lea stellt ihre Tasche ins Büro, verschließt die Tür elektronisch und beginnt den Tag, wie immer, mit einem Gang durchs Haus. Schauen, ob alles in Ordnung ist. Das tut sie ruhig und freundlich. Für die meisten Erzieherinnen ist sie mehr Freundin als Vorgesetzte.

Obwohl hier 200 Kinder in elf Gruppen über zwei Etagen verteilt sind, herrscht in Leas Freudennest die meiste Zeit konzentrierte Ruhe. Getobt wird draußen, auf dem Spielplatz, drinnen wird gelernt. Lernen wird alles genannt, was Kinder können müssen. "Wenn sie dann in die Schule kommen", sagt Lea, "können sie schon lesen, schreiben, rechnen. Sie können musizieren, Spiele spielen, mit Messer und Gabel essen und ohne Angst mit anderen Kindern und Erwachsenen kommunizieren." Der Lehrplan, erklärt sie, sei nicht künstlich, er komme direkt aus dem Leben.

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In Leas Arbeitszimmer steht ein Aquarium mit mageren Goldfischen - Lea füttert sie eher unregelmäßig. Ein Schreibtisch, ein PC, ein Sofa für Besuch. Dort lerne ich, während Lea Büroarbeit erledigt, die ersten Worte in Estnisch: Tere - guten Morgen. Palun - bitte sehr. Tänan - danke sehr. Ma ei saa aru - ich verstehe nicht. Hinter Lea hängen große Bilder ihrer Söhne an der Wand. Peter und Kaur in Öl. Ähnlich sehen sie sich nicht. Lea grinst. Die beiden haben zwei Väter, mit keinem war sie verheiratet. Wozu auch. Der eine passte nicht zu ihr, und der andere verstand einfach nicht, warum die Mutter seines Sohnes immer so viel lernen will.

Nach Feierabend fahren uns Peter oder Endel, einer ihrer ritterlichen Männer, der gerade Zeit hat, mit dem Auto ans Meer. Wir stemmen uns gegen den Wind, laufen durch Regen und Nebel. Meine Woche in Estland hat nicht viele Sonnentage. Egal. Die Küste hinter Tallinn ist sanft und wild, die Landschaft weit und einsam. Laufen und reden passen gut zusammen. Über manches wunderte sich Lea. "Nie sagst du, dass du stolz auf Deutschland bist." Das klang fast vorwurfsvoll. Ich verstottere mich bei dem Versuch, zu erklären, warum ich die Wörter "stolz" und "ich" und "Deutschland" nicht auf die Reihe kriege. Versteht Lea nicht. So ein schönes Land! Reich und sauber. Die Menschen freundlich und höflich. Wie bitte? Ja, Lea findet uns höflich. Sie hat gehört, dass in Deutschland die Bauarbeiter bei jedem Stein, den sie weiterreichen, bitte sagen und danke bei jedem, den sie erhalten.

Eine Freundin hatte von der Idee der "5W" in der Zeitung gelesen und Lea davon erzählt. Die war sofort begeistert, suchte die Organisation im Internet und meldete sich an. Seither hatte sie Besuch aus England, Belgien, Frankreich und Australien. Mit zwei Frauen aus Stockholm hat sie in der Stadt Kaffee getrunken, zwei Amerikanerinnen Tipps für den Urlaub gegeben. Lea ist Weltmeisterin im Schließen von Freundschaften. Mit zwölf Jahren fing sie an, die enge Welt der Zensur in ihrem Land zu durchbrechen. Die erste Freundin war Gaby aus der DDR - den Wunsch, sie zu besuchen, musste sie vor einer Kommission begründen. Über Gaby kamen Thomas und Reinhard in ihr Leben, Sabine und Klaus. Über Kontaktanzeigen in Jugendmagazinen fand sie Albert aus Aserbaidschan und Ivan aus Bulgarien und die ganze Galerie glutäugiger junger Männer, die in ihrem Album kleben. War sie nie in einen dieser Jungs verliebt? Sie fragt irritiert, ob ich einen fremden Mann lieben könnte? - Warum nicht. Für die Estin Lea geht Liebe nur mit einem Mann aus Estland. Am letzten Abend zeigt sie mir die dicken Ordner, in denen sie alles über ihre Freunde festhält: wann sie wem einen Brief geschickt hat, wer ein Foto von ihr bekommen hat und mit wem sie früher Schauspieler-Postkarten tauschte. Romy Schneider gegen John Wayne. Jean Gabin gegen Grace Kelly.

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Zum Wegweiser durch ihre Freundschaften gehört auch die Liste der Themen, über die sie geschrieben hat. Filme, Lehrer, Schule. Die ersten Freunde, das Studium, der Beruf. Später kamen die Männer und die Kinder dazu. Für Lea war jeder Kontakt ein Gewinn und der zu Luzia ein Segen. Damals war Kaur zwei Jahre alt. "Er schreit jede Nacht zehn Stunden", schrieb sie der Brieffreundin nach Münster, "als sei er im vorigen Leben durchs Feuer gegangen." Luzia schickte einen Fragebogen, Lea füllte ihn aus. Luzia schickte homöopathische Kügelchen nach Tallinn. Kaur konnte schlafen, es war wie ein Wunder. Das größte Wunder aber war für Lea der selbstlose Freundschaftsdienst einer Frau, die sie noch nie gesehen hatte.

Das Frauennetzwerk mit den fünf W hätte auch eine Idee von Lea Phihelgas sein können.

Die Organisation 5W

Die Organisation 5W wurde 1984 als weltweites Frauennetzwerk von der Engländerin Francis Alexander gegründet. Die fünf W stehen für Women Welcome Women World Wide – Frauen heißen Frauen aus aller Welt willkommen. Der Grundgedanke ist nicht die billige Urlaubsreise, sondern dass sich Frauen auf Reisen besuchen, kennen und verstehen lernen, Freundschaft schließen und sich weiterhelfen. Die Organisation hat rund 2500 Mitglieder in über 70 Ländern. Das jüngste Mitglied ist 16, das älteste 90. Die meisten Frauen sprechen neben ihrer Muttersprache Englisch und/oder Französisch. Mitgliedsbeitrag pro Jahr: 60 Euro.

Infos

www.womenwelcomewomen.org.uk

Kontakt über Telefon und Fax in England: 00 40 (0) 14 94 46 54 41

Kontakte in Deutschland u. a: Christa Sendner Stuttgart Tel. 07 11/85 12 60 E-Mail: 5w.sendner@gmx.de

Almuth Tharan Berlin Tel. 01 77/811 77 96 E-Mail: almuth_tharan@yahoo.de

Fotos: Anika Büssemeier Text: Monika Held

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