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Leidenschaft fürs Drunter

Coco Chanel trug bevorzugt Dessous von Cadolle, ebenso Mata Hari oder Marlene Dietrich. Und immer noch ist das Pariser Maßatelier eine Institution für feine Wäsche.

Sie hatte eine Stimme wie ein Kasernenaufseher. Ihre Dessous bestellte sie ausschließlich telefonisch, damals, in den Siebzigern, als sie schon völlig zurückgezogen in Paris lebte. "Eines Tages ging ich ans Telefon und erschreckte mich wahnsinnig", erzählt Poupie Cadolle. "C'est Marlène", schnarrte es aus dem Hörer. Und dann, als die Reaktion am anderen Ende erst mal ausblieb, "Madame Dietrich!"

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Eigentlich redet Poupie Cadolle nicht über Kundinnen des Hauses. Diskretion und Dessous gehören eben zusammen. "Erst wenn sie im Paradies sind", verrät sie ihre Namen. Dort ist Marlene Dietrich ziemlich sicher. Und dass sie eher hässliche Brüste gehabt habe, sei ja wohl bekannt, sagt Poupie. Eine schreckliche Perfektionistin sei sie außerdem gewesen. Als "Madame Dietrich" im "Theâtre des Champs Élysées" auftrat, ließ sie sich Abend für Abend ihr Spitzenleibchen auf den Körper nähen, Hakenverschlüsse an ihrer Unterwäsche akzeptierte sie nicht, die hätten ja Falten geworfen. "Meine Mutter wurde von ihr ganz schön getriezt", sagt Poupie. "Aber Maman ist selbst ein ziemlich harter Brocken. Wenn ich sie hier nicht irgendwann rausgeworfen hätte, würde sie mir heute noch, mit ihren 95 Jahren, ins Handwerk pfuschen."

Poupie ist "erst" 60 und empfängt in ihrem kleinen, von Oberlicht durchfluteten Atelier, das in einem Hinterhof der schicken Pariser Rue St. Honoré liegt. Für 14 Uhr hat sich eine neue Kundin aus Mailand angesagt. Hinter roten schweren Samtvorhängen und vor einer großen Spiegelwand wird Poupie ihre Maße nehmen und ihr die neuesten Wäsche-Kreationen von Cadolle vorstellen.

Kundinnen aus der ganzen Welt lassen bei Cadolle fertigen

Mattgoldene Büsten auf ihrem Schreibtisch tragen die Korsetts, Schnür-Bustiers, Strapshalter und Spitzen-BHs aus der neuen Kollektion schon mal Probe. Und während sie das Maßband anlegt, nach Farben und Stoffen, Wünschen und Abneigungen fragt, wird Poupie plötzlich mittendrin stehen im Intimleben einer ihr bis dahin völlig Fremden.

"Als Korsettmacherin begleitet man die Frauen gedanklich bis ins Schlafzimmer", sagt sie, "ich komme ihnen sehr nah, denn ich will ja herausfinden, wonach sie wirklich suchen." Viele von ihnen reisen extra aus Dubai, Moskau, New York oder Tokio an. Dünne Japanerinnen, die sich mit raffinierten Schnürungen in üppig gerunde- te antike Skulpturen verwandeln wollen. Ostküsten-Amerikanerinnen, die nach möglichst funktionellen, unsichtbaren Lösungen suchen. Schleifchen, Blüten, Spitze? Bloß nicht: "It shows!"

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Zum Glück hat man bei Cadolle mit weiblichen Spezialwünschen viel Erfahrung. Schon seit sechs Generationen ist der Couturebetrieb in Frauenhand. Angefangen hat alles Ende des 19. Jahrhunderts mit Ururgroßmutter Herminie. Die wollte irgendwann nicht mehr mit ansehen, dass die Frauen ihrer Zeit immer ein Fläschchen Ammoniak in der Tasche trugen, um sie aus der Ohnmacht zu erwecken, in die sie regelmäßig fielen. Ihre engen Korsetts schnürten ihnen Luft und Nerven ab. "Das war die reinste Folter. Ein Busen muss gestützt und gehoben, nicht zerdrückt werden!", sagt Poupie.

Das fand auch Herminie, entfernte einfach den Stoff zwischen Brust und Bauch, ersetzte ihn durch eine raffinierte Trägerkonstruktion im Rücken und meldete alles zum Patent an – der erste BH war geboren. Auf der Pariser Weltausstellung von 1889 bekam er einen Ehrenplatz und sollte den Frauen fortan helfen, sich selbst weiter zu befreien. "Herminie war eine große Feministin und kämpfte an der Seite der Anarchistin Louise Michel für die Pariser Commune", erzählt Poupie, während sie alte Schwarzweißfotografien aus einer Nussbaumkommode hervorkramt. "Sie war links, sie war revolutionär, aber vor allem war sie geschäftstüchtig." Mit ihrer Erfindung reiste sie rund um die Welt und exportierte sie selbst nach Argentinien.

Das Revoluzzerhafte ihrer Urahnin hat Poupie eindeutig nicht geerbt: In ihrem hochgeschlossenen schwarzen Blazer mit den großen Goldknöpfen wirkt sie charmant-bürgerlich, kein bisschen aufmüpfig. Unvorstellbar, dass sie sich die langen, weißblond gelockten Haare einmal kurz schneiden würde, sagt sie. "Mein Mann mag das einfach nicht." Klingt nicht besonders feministisch. "Ich brauche dieses Wort, dieses politische Konzept nicht. Mein ganzes Leben lang war ich sehr unabhängig. Ich lebe meine Freiheit einfach."

Korsetts von Cadolle - ein Symbol der Verführung

Ob ihre Ururgroßmutter verstehen würde, dass Cadolle heute wieder besonders viele Korsetts verkauft, weil die in letzter Zeit einen regelrechten Boom erleben? "Mag sein, dass sie es merkwürdig fände. Aber für mich ist ein Korsett heute kein Symbol der Unterdrückung mehr, sondern eines der Verführung. Eine Frau, die Schnürmieder und Strapse trägt, prostituiert sich doch nicht zwangsläufig. Und wenn ihr Mann sie nur in voller Montur lieben will, muss sie das ja nicht akzeptieren. Sie kann sich doch einen anderen suchen, der lieber ins Nudistencamp geht. Aber ob es da immer so paradiesisch ist?" Die Frauen von Cadolle haben viel dazu beigetragen, Dessous aus der Schmuddelecke zu holen. Wenn sie heute viel selbstbewusster getragen und gezeigt werden, ist das auch ihr Verdienst.

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Poupie selbst entdeckte die Begeisterung fürs "Drunter" erst spät. Sie studierte Jura, als ihre Mutter sie bat, ihr bei Cadolle zu helfen. "Ich war völlig unbegabt. Noch heute versteht niemand außer mir meine Zeichnungen. Es hat mich zehn Jahre und viele Tränen gekostet, bis ich alle handwerklichen Kniffe draufhatte. Aber als ich den Beruf mit meinen Händen beherrschte, sprudelten plötzlich die Ideen."

Weil die Technik eine so große Rolle spielt, arbeiten in der Korsettproduktion oft Männer. In der Cadolle-Familie aber hat bislang keiner von ihnen ernsthaft Interesse angemeldet. Poupies Ehemann baute zwar einen eigenen kleinen Vertrieb für Cadolle-Produkte auf, ins Maßatelier aber traut er sich nur sehr selten.

Hier, wo Poupie nun schon einmal überprüft, ob in der Ankleidekabine alles am rechten Ort ist, verkündete vor kurzem die gemeinsame Tochter Patricia, Cadolle sei wie für sie gemacht, gleich nach ihrem Wirtschaftsstudium wolle sie hier einsteigen. "Ich muss sie angeschaut haben wie eine Außerirdische", sagt Poupie, "und fragte sie dann: Bist du dir sicher? Siehst du, was ich seit 30 Jahren mache? Arbeiten, arbeiten, arbeiten? Sie hat nur gesagt: Sehe ich. Tja, nun schuftet auch sie wie eine Kranke. Und liebt alles so sehr, wie ich es ganz lange nicht lieben konnte."

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Wenn Patricia einmal nicht weiterkomme, frage sie ihre Großmutter um Rat. Und dann beginne die 95-jährige Alice zu erzählen. Wie ihre Schwiegermutter Marguerite in den Zwanzigern, diesen verrückten Jahren, Cadolle in alle großen Kaufhäuser brachte und in ein Luxusunternehmen mit damals 600 Angestellten verwandelte. Wie sie amerikanische Milliardäre, indische Maharadschas, türkische Sultane und ägyptische Prinzen, die für ihre Frauen Mieder bestellten, ins Casino und zu Abendgesellschaften begleitete. Wie sie an einem dieser Abende Einstein traf. Wie sie für Coco Chanel ein ganz spezielles Trikot entwarf, mit elastischen Röhrchen statt Fischbeinstäbchen, das die Brüste extra flach drückte. Denn Mademoiselle Chanel wollte keine fraulichen Rundungen, sie wollte eine androgyne "Garçonne" sein. Das Telefon reißt Poupie aus der Vergangenheit ihrer Vorfahrin. Carla Sozzani, umtriebige Galeristin und Schwester der "Vogue Italia"-Chefin Franca Sozzani, will ihren Termin um eine Stunde verschieben. Auch so ein Frauenhaufen, diese Sozzanis, sagt Poupie Cadolle. Mehr wird sie nicht verraten über ihre Stammkundin. Sie wissen doch, erst im Paradies . . . Aber zu Marlene Dietrich ist ihr noch etwas eingefallen: "An deren Todestag rief mich eine befreundete Journalistin an: Und? Jetzt kannst du's ja endlich erzählen: War sie nun deine Kundin oder nicht?, wollte sie von mir wissen." Klar war sie das. Am nächsten Tag stand in der "Washington Post": Heute starb die Dietrich auf ihrem Balkon, gekleidet in Cadolle.

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