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Alltagsdoping mit Tabletten

Der Einstieg in eine Medikamentensucht ist oft ärztlich verordnet. Aber auch frei verkäufliche Mittel werden immer häufiger geschluckt. Frauen sind besonders betroffen.

BRIGITTE-woman.de: In Deutschland sind mindestens 1,9 Millionen Menschen süchtig nach Medikamenten. 70 Prozent davon sind Frauen. Warum vor allem sie?

Renate Walter-Hamann: Frauen wollen funktionieren. Bei ihnen geht es nicht darum, sich zu berauschen, sie wollen ihre Probleme bewältigen. Probleme, die durch Doppel- und Dreifachbelastung, Verantwortung für Kinder, Anforderungen im Job entstehen. Deshalb haben sie andere Konsummuster als Männer. Statt zum Beispiel exzessiv zu trinken, schlucken sie unauffällig, still und leise Tabletten - und arbeiten weiter.

BRIGITTE-woman.de: Statistiken zeigen, dass die Zahl der medikamentenabhängigen Frauen mit dem Alter zunimmt. Wie kommt das?

Renate Walter-Hamann: Zwischen 40 und 50 erleben Frauen ein Jahrzehnt, das sie stark herausfordert. Ihre Lebensumstände verändern sich, die Kinder verlassen das Haus, neue berufliche Herausforderungen stellen sich, die Wechseljahre künden sich an, der Körper beginnt sich zu verändern. Hinzu kommt, dass unsere Gesellschaft noch immer Jugendlichkeit, Energie, Perfektion bejubelt. Älter werden wird bisher kaum positiv gesehen, sondern nur mit dem Wort "weniger" verknüpft: weniger Attraktivität, weniger Kraft, weniger Fähigkeiten. Gegen dieses "Weniger" nehmen viele Frauen Medikamente. Dopen sich damit für den Alltag. Besser wäre es, sich mit den Veränderungen positiv auseinander zu setzen, gutes Älterwerden zu lernen. Schließlich können wir die Zeit nicht anhalten - auch nicht mit Pillen.

BRIGITTE-woman.de: Verstärkt die gegenwärtige Krisensituation dieses Alltagsdoping noch?

Renate Walter-Hamann: Die Ängste vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und des sozialen Abstiegs nehmen zu. Aber der Trend, die eigene Leistungsfähigkeit durch Medikamente zu steigern, ist schon länger zu beobachten. Präparate, die für bestimmte Indikationen zugelassen sind, wie Ritalin gegen ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom), werden zum Beispiel zum Aufputschen genommen. Und die Pharmaindustrie bringt immer neue Mittel auf den Markt, die die geistigen Fähigkeiten und die körperliche Kraft verbessern, die Ängste abbauen und depressive Verstimmungen lindern sollen. Für jedes Problem die passende Pille.

BRIGITTE-woman.de: Wird die Einnahme von Medikamenten also verharmlost?

Renate Walter-Hamann: Absolut. Die Grenzen zwischen Medikamenten zur Behandlung von Krankheiten und Lifestyle-Mitteln verwischen. Und die intensive Werbung für rezeptfreie Medikamente und "functional food" signalisiert uns, wie selbstverständlich und harmlos es ist, uns mit etwas Chemie zu "optimieren", stets topfit zu sein. Kein Wunder, dass bei persönlichen Problemen, bei wachsender Arbeitsbelastung, zunehmendem Termindruck und Angst, den Job zu verlieren, immer mehr Menschen zu Medikamenten greifen! Laut einer aktuellen Umfrage der DAK greifen in Deutschland schon mehr als zwei Millionen Menschen im Beruf zu Medikamenten, um ihre Leistung zu erhalten oder zu steigern. Alltagsdoping wird das große Problem der Zukunft werden.

BRIGITTE-woman.de: Welche Rolle spielen die Ärzte dabei?

Renate Walter-Hamann: Eine wichtige, vor allem bei Frauen. Sie nehmen Störungen ihrer Befindlichkeit stärker und schneller wahr als Männer und gehen eher zum Arzt. Und Studien zeigen leider, dass es immer noch zu viele Ärzte gibt, die sehr unkritisch Medikamente verschreiben. Eine kurzfristige Verordnung kann zwar manchmal sinnvoll sein, aber nicht jede Verstimmung oder Schlafstörung muss mit einem Medikament behandelt werden. Besser wäre es, der Arzt würde zusammen mit der Patientin nach anderen Lösungen suchen. Bei leichten Depressionen können zum Beispiel Bewegung und Sport oft ebenso gut helfen wie Medikamente.

BRIGITTE-woman.de: Aber eine Frau, die gesundheitliche und vielleicht auch seelische Probleme hat, die schlecht schläft und sich ausgelaugt fühlt, greift doch nach jedem Strohhalm...

Renate Walter-Hamann: Sicher. Und Ärzte bekommen immer einen Vertrauensvorschuss. Trotzdem ist schnelles Verschreiben problematisch. Ein Arzt ist auch verantwortlich für die Rezepte, die er ausstellt. Er sollte deshalb nie zu schnell und über einen zu langen Zeitraum Medikamente verordnen, schon gar nicht solche, die bekanntermaßen ein Suchtpotenzial besitzen. Dazu gehören Schlaf- und Beruhigungsmittel, die Benzodiazepine und Barbiturate enthalten, Medikamente mit Codein, bestimmte Schmerzmittel, Psychostimulanzien, aber auch Z-Drugs wie Zopiclon, Zolpidem und Zaleplon. Auf jeden Fall sollte er umfassend über mögliche Nebenwirkungen aufklären.

BRIGITTE-woman.de: Und wenn der Arzt das nicht tut?

Renate Walter-Hamann: Dann ist es sinnvoll, sich einen anderen zu suchen, dem man vertrauen kann. Ein Arzt, der zu pharmabezogen ist und zu schnell den Rezeptblock zückt, ist nicht gut. Besser wäre es, Alternativen aufzuzeigen. Frauen sollten lernen, für sich selbst zu sorgen. Sie sollten zur Anwältin ihrer eigenen Gesundheit werden - und nicht nur passiv Pillen schlucken.

BRIGITTE-woman.de: Und wenn der Arzt trotz allem Beruhigungsmittel verschreibt?

Renate Walter-Hamann: Dann sollten Frauen im eigenen Interesse darauf achten, dass er nicht sofort Benzodiazepine verordnet und dass sie sie nicht zu lange einzunehmen. Bei Benzodiazepinen können selbst bei niedriger Dosis von einer oder zwei Tabletten pro Tag schon nach wenigen Wochen erste Symptome von Abhängigkeit auftreten. Wird das Mittel abgesetzt, sind Probleme wie Schlafstörungen, Ängste oder Unruhe, wegen der das Medikament verordnet wurde, oft stärker als vorher. Die Frauen glauben dann, das Mittel zu brauchen. Deshalb ist die Suchtgefahr so groß. Und die Gefahr von Rückfällen. Der Entzug bei Tablettenabhängigkeit ist schwieriger und langwieriger als bei Heroinabhängigkeit.

BRIGITTE-woman.de: Was können Frauen tun, wenn sie das Gefühl haben, in die Abhängigkeit zu rutschen?

Renate Walter-Hamann: Sie sollten sich nicht scheuen, eine psychosoziale Beratungsstelle aufzusuchen. Die Berater und Beraterinnen können abklären, wie ernst die Gefahr bereits ist und je nach Situation Hilfen anbieten oder vermitteln. Und natürlich hilft es immer, mit der Familie, mit Freunden oder Selbsthilfegruppen zu reden. Wer nicht allein ist, kann auch schwierige und belastende Situationen im Leben besser überstehen. Ein stabiles persönliches Netzwerk ist deshalb eine gute Investition für die Zukunft.

Renate Walter-Hamann ist Referatsleiterin Suchthilfe beim Deutschen Caritas-Verband in Freiburg.

Interview: Monika Murphy-WittFoto: iStockphoto

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