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Medikamentenabhängigkeit Schlucken, Schweigen, Selbstzerstörung

Mit einer Pille gegen Schlaflosigkeit fängt es an. Schnell rutscht Petra S. in die Medikamentenabhängigkeit. Zum Schluss fälscht sie Rezepte. Ihr Leben ist eine einzige Lüge - und niemand merkt etwas.

Ich habe mich wie eine Junkiebraut gefühlt.

Ganz am Ende, als die Tabletten ihr einziger Lebensinhalt sind, schaltet der Körper sogar ihren Verstand aus: Zitternd, mit Schweiß getränkter Bluse, steht Petra Siegert* damals in der Apotheke, die Beine so wackelig wie das Lügengerüst, das all die Jahre ihren Alltag gestützt hat. Auf dem Rezept, das sie über den Tresen schiebt, hat ihr ein Arzt eine entzündungshemmende Salbe gegen geschwollene Knöchel verordnet, in unleserlicher Schrift, und Petra Siegert hat, ebenso unleserlich wie möglich, darunter geschrieben "Zopiclon N2": ein Schlafmittel, verschreibungspflichtig.

N2, die Packung mit 20 Tabletten, das würde für die nächsten zwei Tage reichen, denkt Petra Siegert, während die Apothekerin nach hinten geht. Heute Abend würde sie auf der Bettkante sitzen mit zehn Pillen in der hohlen Hand, und sie würde alle auf einmal schlucken. Dann würde sie schlafen. Schnell, tief, traumlos.

Die Apothekerin kommt wieder, legt die Salbe auf den Tresen und sagt: "Das Zopiclon kann ich Ihnen nicht geben." Stille. Jetzt ist es aus, schießt es Petra Siegert durch den Kopf, jetzt wirst du angezeigt. Sie reißt der Apothekerin das gefälschte Rezept aus der Hand, rennt aus der Tür und fährt direkt zur Polizei. Sie will sich selbst stellen. Die Beamten schauen sie ungläubig an, wollen sie wegschicken. Doch die 42-Jährige weigert sich hartnäckig zu gehen: "Ich brauche den Stoff."

Wie eine Junkiebraut habe sie sich in diesem Augenblick gefühlt, sagt Petra Siegert heute, vier Jahre später. Doch die Polizisten grinsen. Denn die Frau, die vor ihnen steht, sieht nicht aus wie eine Junkiebraut, sondern wie Petra Siegert, die jeder in dem 6500-Einwohner-Ort kennt. Die stets gut gelaunte Frau, inzwischen in dritter Ehe verheiratet, die immer alles für ihre drei Kinder getan hat. Die morgens um sieben Uhr den Frühstückstisch deckt, ihre Hausarbeit erledigt, die Wohnung tipptopp in Schuss hält, Mittagessen kocht, jahrelang als Elternvertreterin aktiv gewesen ist, ihre Kinder zur Musikschule und in den Fußballverein gefahren hat und immer pünktlich das Abendessen auf dem Tisch hat, wenn ihr Mann von der Arbeit kommt.

* Name von der Redaktion geändert

Ich habe mich immer auf die Tabletten gefreut.

"Ich habe immer bestens funktioniert", sagt Petra Siegert. "Nach draußen." Sie ist ausgeschlafen, kraftvoll, stark. Für die anderen. Zwischendurch besorgt sie sich ihre Tabletten, heimlich. Am Montag geht sie zu Dr. A., am Dienstag zu Dr. H., am Mittwoch zu Dr. K., am Donnerstag zu Dr. B., am Freitag zu Dr. N. und so weiter. 15 Ärzte hat sie insgesamt, das reicht für drei Wochen. Dann sitzt sie wieder bei Dr. A. im Sprechzimmer. Kaum klagt sie, dass sie nicht schlafen könne, Angst habe zu ersticken, kratzen die Kugelschreiber über Rezeptblöcke. Alle Ärzte verschreiben das Mittel. Später, wenn sie die Tabletten in einer der Apotheken am Ort geholt hat, drückt sie sie aus den Blistern, steckt sie in die Hosentasche und wirft die Verpackung weg. Daheim lässt sie die Pillen im Keller in ihre Stiefel fallen, stopft sie zwischen gebügelte Bettwäsche, öffnet Reißverschlüsse von Sofakissen und hebt Trockenblumen in Dekovasen hoch, um die Tabletten darin verschwinden zu lassen. Und ständig sehnt sie sich nach den Abendstunden, in denen sie zu einem ihrer Verstecke gehen, die Pillen herausnehmen und damit endlich ihre Gedanken löschen kann, so einfach wie die Nachtischlampe.

Immer für andere stark sein, nie Schwäche zeigen

"Ich habe mich immer auf die Tabletten gefreut", sagt Petra Siegert. Jugendlich gekleidet ist sie, eine Frau mit blauen Augen und blonden Haaren. Sie sitzt auf einer cremefarbenen Couch in einer Wohnung in der Nähe von Dortmund, im Schallplattenregal stehen die "Zwanzig schönsten Weihnachtslieder", auf der Kommode Fotos ihrer Kinder, alle sind schon von zu Hause ausgezogen. Die Mittagssonne scheint durch die Balkonfenster. "Eigentlich habe ich mich nicht nur auf sie gefreut", sagt Petra Siegert, "sondern ich habe mich auf sie verlassen." Die Tabletten haben sie glücklich gemacht, so glücklich, wie sie sonst selten gewesen ist in ihrem Leben, in dem sie immer für andere stark sein musste, aber nie selbst schwach sein wollte.

Schon als Kind ist Petra Schwäche verboten.

Schon als Kind ist Petra Schwäche verboten. Der Vater züchtet Küken, die Mutter ist Schneiderin, beide sind streng. "Gammeln gab es nicht, krank sein auch nicht", erinnert Petra sich. Klagt sie über Kopfschmerzen, schickt die Mutter sie an die frische Luft. Nur einmal gibt es Lob, als ein junger Mann an Petras 19. Geburtstag 19 rote Rosen durch die Tür reicht. "Endlich ein Mann mit Stil!", sagt die Mutter. Ein paar Tage zuvor hat Petra ihn auf dem Hof des Gymnasiums kennen gelernt. Er hat ihr Gummibärchen angeboten, sie hat den Chemieunterricht geschwänzt, zwei Jahre später sitzen sie vor dem Standesbeamten - ein Baby ist unterwegs. Petra bricht ihr Medizinstudium ab und bekommt drei Kinder in zweieinhalb Jahren. Während sie das erste im Krankenhaus unter Schmerzen gebärt, sitzt der Mann mit Stil in der Kneipe. Nachts, wenn die Kinder weinen, steht er nicht auf. Sie hat einen Alkoholiker geheiratet. Nach sieben Jahren trennen sie sich, doch sie lassen einander nicht los.

Ich habe mich gefühlt wie eine junge Göttin.

Als Petra längst mit einem anderen Mann verheiratet ist, eher unglücklich als zufrieden, und ihr jüngster Sohn Kommunion feiert, steht sein Vater, ihr früherer Mann, hinten in der Kirche. Der Sohn geht vorbei, mit Kerze, schön herausgeputzt. Der Vater schaut voll Stolz auf ihn - und Petra spürt plötzlich ein Brennen im Hals. "Als hätte jemand ein Streichholz hineingeworfen", sagt sie. Zu Hause nimmt sie eine Schmerztablette. Ausnahmsweise. Du musst durchhalten, denkt Petra, du hast ein volles Haus, du kannst deinem Kind nicht den Tag verderben. Am Abend sind die Gäste weg, doch das Brennen ist nach wie vor da. Zwei Tage später ist es unerträglich. Mehrere Ärzte schauen ihr in den Rachen, nehmen Blut ab, spiegeln den Magen - nichts. Petra bekommt Panik, denkt, sie habe Krebs. "Ich konnte nicht mehr trinken, nicht mehr essen, es passte nichts mehr rein. Ich war zu", sagt sie. Eine Neurologin stellt schließlich die richtige Diagnose: schwere Depression mit Angstzuständen.

Schließlich die Diagnose: schwere Depression mit Angstzuständen

Petra geht in eine Klinik. Geschlossene Station. Sie hasst die Tabletten, die die Ärzte ihr geben. Schon als Kind hat sie Hustensaft verweigert, ihre eigenen Kinder schickt sie zum Homöopathen. Aber mit dem Antidepressivum geht es ihr besser, das Brennen im Hals verschwindet. "Früher war ich ein Feind von Tabletten, im Krankenhaus bin ich zu ihrem Freund geworden", sagt Petra. Als sie nach der Entlassung nachts nicht schlafen kann, zögert sie nicht lange. Schnell geht sie zu einem befreundeten Arzt. Er verschreibt ihr Zopiclon. Sie nimmt die erste Tablette. "Ich erlebte das tollste Gefühl, das ich jemals hatte", sagt sie. Nach zehn Minuten schläft sie problemlos ein.

Drei Jahre kommt Petra mit einer Tablette pro Tag aus. Jeden Abend geht sie um neun Uhr ins Bett. Ein Ritual mit Pille. Ihr zweiter Mann sagt nichts. "Er hat gemerkt, dass ich was nehme. Aber er hat auch gemerkt, dass es so besser war." Sie funktioniert ja bestens.

Doch eines Tages wird das Ritual durchbrochen. Das Paar ist bei einer Geburtstagsfeier eingeladen. Alle drängen Petra, noch länger zu bleiben. Sie ist unruhig. Als sie endlich zu Hause ist, nimmt sie zwei Tabletten. "Ich habe mich gefühlt wie eine junge Göttin", sagt sie. Von da ab steigert sie ihre Dosis, ganz allmählich, Tablette um Tablette. Um das schöne Gefühl zu halten, wie sie sagt. Und wohl auch, um die Scheidung von ihrem zweiten Mann, der sich wegen einer anderen von ihr trennt, zu verkraften. Irgendwann nimmt sie zehn Tabletten auf einmal. Der befreundete Mediziner gibt ihr längst keine Rezepte mehr, bald geht sie in mehrere Praxen. Ein Arzt sagt nach ein paar Monaten zu ihr: "Sie bringen mich in Teufels Küche." Doch er verschreibt das Zopiclon weiter, auf Privatrezept, das bekommt die Krankenkasse nicht mit.

Ich betrog alle. Meine Kinder, meinen Mann, die Ärzte, aber vor allem mich.

Auch ihr dritter Mann, den sie bei Bekannten kennen lernt, merkt nichts. Sie funktioniert immer noch. Manchmal, wenn sie abends vor einem ihrer Verstecke steht, die Pillen in der hohlen Hand, schämt sie sich für ihr Verlangen. "Ich wusste: Ich betrog alle. Meine Kinder, meinen Mann, die Ärzte, aber vor allem mich selbst." Doch sie merkt auch, dass sie nicht aufhören kann. Und mehr als einmal hofft sie, am nächsten Morgen nicht wieder aufzuwachen. Wie sehr sie am Ende ist, wird ihr erst nach der missglückten Rezeptfälschung bewusst, auf dem Polizeirevier. Sie entschließt sich zu einem Entzug. Sie spricht mit ihrem Mann, er bestärkt sie darin. In einer Klinik reduziert sie die Tabletten ohne Probleme auf null. Sie wird abstinent entlassen, aber ohne Psychotherapie.

Endlich kommt Petra in eine Klinik für Medikamentenabhängige

Endlich scheint das Leben es einmal gut mit ihr zu meinen. Dann der Schock: Sie hat Krebs. Gebärmutter und Eierstöcke werden entfernt. Als sie mit dem Infusionsständer über die Krankenhausflure geht, kommen die Angstzustände wieder. Ein Neurologe verschreibt ihr Bromazepam, Angstlöser und Schlafmittel zugleich, ein Benzodiazepin mit hohem Abhängigkeitspotenzial. "Er wollte mir helfen", sagt Petra, "aber er hat mich damit ins Aus gesetzt." Die Sucht kommt zurück. Irgendwann zieht ihr Mann die Notbremse. Als sie zusammen eine Wohnzimmerlampe kaufen wollen und Petra schweißüberströmt aus dem Geschäft läuft, entscheidet er: "Jetzt kommst du in eine Klinik."

Dieses Mal empfiehlt der Hausarzt eine Klinik, die eine eigenständige Behandlung für Medikamentenabhängige anbietet. Neben dem Entzug bekommt Petra eine Psychotherapie. Endlich kann sie reden, endlich hört ihr jemand zu. Sie wandert durch ihre Vergangenheit, setzt sich mit der Lieblosigkeit ihrer Mutter auseinander. Irgendwann weiß sie, dass sie immer nur für ihre Kinder da war, dass sie selbst dabei auf der Strecke geblieben ist. Dass stark sein auch heißt, einmal Schwäche zu zeigen, um Hilfe zu bitten. Und dass ein Haushalt nicht perfekt sein muss.

"Ich mache es nie wieder", sagt Petra Siegert heute. Dabei wirkt die 45-Jährige so sicher und entschlossen wie der Indianerhäuptling auf dem Bild über ihrer Couch. Er hat eine Horde Stammesbrüder hinter sich. Auch Petra Siegert wird der Rücken gestärkt: von ihrem Mann. Und von ihrer Krankenkasse. Die zuständige Sachbearbeiterin hat alle Ärzte in der Region in einem Brief gebeten, Petra Siegert keinerlei Schlafmittel mehr zu verschreiben. Der Körper wird ihren Verstand nicht mehr so einfach überrumpeln können.

Skandal: Oft fördern Ärzte die Medikamentenabhängigkeit

In Deutschland sind laut dem aktuellen Drogen- und Suchtbericht des Bundesministeriums für Gesundheit bis zu 1,9 Millionen Menschen von Medikamenten abhängig, davon 70 Prozent Frauen. Am häufigsten ist die Abhängigkeit von Benzodiazepinen: Entspannungs-, Schlaf- oder Beruhigungsmittel mit diesen Wirkstoffen werden, obwohl ihr Suchtpotenzial bekannt ist, immer noch von Ärzten verschrieben, oft zu unkritisch, zu schnell, zu häufig. Rund eine Million Menschen sollen nach Schätzungen von Experten süchtig nach diesen Medikamenten sein.

Die meisten davon haben eine "Niedrig-Dosis-Abhängigkeit". Das heißt, sie nehmen jahrelang ein bis zwei Pillen am Tag und steigern die Dosis nicht exzessiv. Sucht auf Rezept, heimlich, still, die im Alltag in der Regel nicht auffällt. Doch auch hier kann es, wenn das Medikament abgesetzt wird, zu starken Entzugserscheinungen kommen. Für einen Ausstieg aus der Sucht sind professionelle Unterstützung und meist ein stationärer Entzug notwendig. Empfehlenswert ist eine spezielle Suchttherapie für Frauen.

Mittlerweile verschreiben immer mehr Ärzte ersatzweise Z-Drugs, die Benzodiazepin ähnlichen Wirkstoffe Zopiclon und Zolpidem, zunehmend auf Privatrezepten. Ihr Abhängigkeitsrisiko galt lange als geringer. Inzwischen stuft es die Weltgesundheitsorganisation WHO aber genauso hoch ein wie das von Benzodiazepinen.

Auch nach rezeptfreien Schmerzmitteln wie Kopfschmerztabletten kann man süchtig werden. Abhängig machen die in den Tabletten enthaltenen schmerzstillenden Wirkstoffe wie Ibuprofen, Paracetamol oder Acetylsalicylsäure vor allem, wenn sie mit psychisch wirksamen Substanzen wie Codein oder Koffein kombiniert werden (Kombinationsanalgetika). Koffein steigert zwar den schmerzlindernden Effekt, es regt aber auch an. So ist der Reiz groß, die Tabletten öfter als notwendig zu schlucken. Die ständige Einnahme von Kopfschmerztabletten - egal ob mit einem Wirkstoff oder mit mehreren - kann zudem Dauerkopfschmerzen hervorrufen. Grundsätzlich sollten Schmerzmittel ohne ärztliche Verordnung deshalb nicht länger als drei Tage hintereinander und nicht häufiger als an zehn Tagen pro Monat genommen werden.

Text: Christine Böhringer Foto: iStockphoto

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