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Wenn ein geliebter Mensch stirbt: "Die Trauer schlägt auf mich ein, obwohl ich am Boden liege"

Wenn ein geliebter Mensch stirbt: "Die Trauer schlägt auf mich ein, obwohl ich am Boden liege"
© Antonio Guillem/Shutterstock
Ihr Mann stirbt, sie versinkt in Verzweiflung, viele Menschen um sie herum reagieren hilflos. BRIGITTE WOMAN-Autorin Sylvia Heinlein über den Umgang mit einem unzeitgemäßen Gefühl.

Ich kenne mich ein wenig.

Auf die handelsübliche Weise. So weit, wie man sich eben kennt, ab einem gewissen Alter. Irgendwann weiß man ja, was man von sich selbst und der Welt zu halten hat. Man hat seinen Platz gefunden, zumindest in etwa, man hat sich eingerichtet in seinem Leben.
Ich gebe mein Bestes. Ich versuche freundlich zu sein, jeden Tag etwas Gutes zu tun, grundsätzlich niemandem größere Probleme zu verursachen. ich glaube daran, dass man dem Leben etwas Positives abringen und schenken kann, immer, und ich weiß, was zu tun ist, wenn etwas falsch gelaufen ist: ruhig bleiben, weitermachen. Hinfallen, Krönchen aufsetzen, weitergehen. Dann stirbt mein Mann, an Krebs, mit 53 Jahren. Und alle Gewissheiten.

Wir waren Gefährten, siebzehn Jahre lang. 

Wir haben uns geliebt, leidenschaftlich miteinander gelebt, einander getragen, uns gegenseitig aufgeregt und besänftigt.
Ich verliere den Menschen, bei dem ich mich geborgen fühle, und die Welt wird eine andere. Die Maßlosigkeit der Trauer, die Absurdität des Todes und seine Endgültigkeit führen mich fort von allem, was ich bis dahin kannte. Die Trauer frisst mich auf. Sie ist ein wildes Tier mit spitzen Zähnen, eine scharfkantige Axt, eine Glaskuppel, die sich über mich stülpt und vom Rest der Welt trennt. Sie ist ein außer Kontrolle geratener Boxer, der weiterschlägt, obgleich ich bereits am Boden liege. Sie übertrifft jeden Schmerz, den ich bis dahin erlebt habe. Ich bin traurig, verzweifelt und hoffnungslos. Ich habe Schuldgefühle. Ich bin ohnmächtig, verunsichert und ängstlich.
Manchmal ist die Trauer ein Ozean. ich mache mich klein, lasse die Wellen über mich hinwegbrausen. ich wehre mich nicht mehr. Ich kann jetzt auch unter Wasser atmen. Die Tage und Wochen fließen ineinander über. Monate vergehen. Ich arbeite, eine Ablenkung, mehr ist es nicht. Ich folge Einladungen, lächle, plaudere und fühle: nichts.

Es gibt nichts, was richtig ist an diesem Tod ...

... und so scheint auch alles andere falsch. Der Tod meines Mannes ist sinnlos, denke ich. Und wenn der Tod keinen Sinn hat, hat auch das Leben keinen Sinn. ich erschrecke über mich und spreche es dennoch ein paarmal aus, probehalber: "Das Leben ist sinnlos." Es fühlt sich richtig an.

Ein Arbeitstreffen. Einer der Kollegen sieht unglücklich aus, seine Frau hat ihn verlassen. "Endgültig", sagt er. Ich bin die Einzige am Tisch, die dazu schweigt. Selbst der heftigste Liebeskummer, denke ich, bietet noch die Chance, sich Fantasien hinzugeben. Der, der mich verlassen hat, könnte zurückkommen, sich entschuldigen. Ich könnte ihn anbetteln, anrufen, schreiben, kämpfen um seine Rückkehr. Oder stolz schweigen. Potenziell ist alles möglich, wenn man verlassen wird. Nur der Tod macht alle Möglichkeiten zunichte. "Glaube an ein Wiedersehen im Jenseits, wenn du es kannst", sagt er. "In diesem Leben wird es nicht mehr sein."

Ich lebe in einem fremden Reich ...

... ich irre durch ein Labyrinth, ohne den Ausgang zu finden. Meine Familie, meine Freunde stehen an der Grenze zu meiner neuen Welt. Sie können sie nicht überschreiten, aber sie winken mir zu, werfen warme Decken aus Fürsorge über mir aus. Ihre Zuneigung, ihre Kraft sind mein Überlebensproviant. Ich horte tröstende Sätze, Zitate, die Zettel klebe ich an Spiegel, Türen und Wänden. Sie sind wertvolle Krücken auf meinem Weg, sie stützen mich. Ich mache kleine Schritte, atme ruhig. Ein Schritt, ein Atemzug, noch ein Schritt. Stehen bleiben. Atmen, weitergehen. Auf einem der Zettel, die in meiner Wohnung kleben, steht: 

"Trauer ist keine vorübergehende seelische Ausnahmesituation. Trauer ist Wandlung und begleitet ein Leben lang."
Beratungsstelle Charon, Hamburg

Aus dem Leben vor dem Tod erinnere ich dunkel, dass Vernunft hilfreich ist. Ich stürze mich in Bücher, lese Studien, suche Hilfe und Wahrheiten. Immer wieder stoße ich auf das Vier-Phasen-Modell der Psychologin Verena Kast. Der Weg, den sie beschreibt, klingt logisch: Vom Leugnen des Todes zu Schmerz, Angst, Zorn und Schuldgefühlen. Über das Suchen, Finden und Loslassen schließlich zu Akzeptanz und Neuanfang. Es hat nichts mit mir zu tun.
Ich spüre die Trauer in Wellen und den Schmerz unter meiner Haut pochen. Die Sehnsucht nach meinem Mann bleibt unvermindert stark. George Bonanno, einer der aktuell bekanntesten Trauerforscher, hat herausgefunden, dass der überwiegende Teil aller Hinterbliebenen über "Resilienz" verfügt - eine natürliche Überwindungskraft. Sie wird durch dramatische Ereignisse geweckt. Eine gesunde Reaktion, so Bonanno, die hilft, den Verlust so schnell wie möglich produktiv zu verarbeiten und konstruktiv weiterzuleben. So schnell wie möglich? Produktiv? Ich bin unproduktiv geworden, in einer produktiven Gesellschaft.

Trauer ist vielgestaltig

Pädagogin Anja Dose von der Hamburger Beratungsstelle Charon begleitet Hinterbliebene in ihrer Trauer. "Phasen- und andere Trauermodelle", meint sie vorsichtig, "liefern ein Stück Orientierung. Aber individuelle Trauer fassen sie nicht. Trauer ist vielgestaltig. Es gibt kein: Bis dahin sind Sie gesund, von dort an krank."
Dose und ihre Kolleginnen definieren Trauer als eine normale Reaktion auf einen bedeutsamen Verlust. Als das Bemühen der Seele, zu begreifen, was geschehen ist.

Einmal im Monat gehe ich zur Trauerberatung. Beratung ist ein unzureichendes Wort für das, was ich dort finde. Es gibt keine eindeutigen Antworten und kein Ziel. Aber Zeit und Raum für alle Emotionen und Fragen, die meine Trauer ausmachen: "Hört dieser Schmerz jemals auf? Wie soll ich weiterleben? Hat mein Leben noch ein Sinn?"
"Trauer braucht Erlaubnis", sagt Anja Dose, "einen geschützten Raum, um sich auszudrücken. Ein wertschätzendes Gegenüber, das bezeugt: Deine Gefühle sind angemessen. Egal, wie sie sich ausdrücken."

Ich bin dünnhäutig geworden und ungerecht.

Jeder kann mich kränken, jederzeit, unmittelbar nachdem mein Mann gestorben ist und auch ein Jahr danach. Die beste Freundin, die nicht zur Beerdigung anreisen kann, die Umstände eben. "Mein Mitgefühl und mein Respekt hängen doch nicht von meinem Kommen ab", sagt sie. Zum ersten Mal in meinem Leben breche ich eine Freundschaft ab. Ich bin mir fremd, aber es scheint mir die einzig mögliche Reaktion.
Eine Bekannte, sie erzählt von der schweren Krankheit ihres Mannes, er steht leidend neben ihr. Lebendig. "Seid dankbar", sage ich zu ihnen. Eine Nachbarin, die stehen bleibt, im Vorübergehen, sie will mich spüren lassen, dass ich ihr nicht gleichgültig bin. Ein starke Frau, seit langem verwitwet, sie hat manches durchleiden müssen in ihrem Leben. "Und, wie geht es dir?", fragt sie. "Nicht so gut", sage ich. "Ja", meint sie aufmunternd. "Aber irgendwann muss man sich ja wieder zusammenreißen und auf die Beine kommen. Bin ich ja auch." Ich schweige und habe das Gefühl, dass Minuten vergehen.
"Hör gut zu, dummes Ding", sage ich schließlich zornig. "Wie auch immer du um deinen Mann getrauert hast und warum auch immer du beschlossen hast, dich irgendwann zusammenzureißen - es hat nichts, nichts mit mir zu tun. Du beleidigst mich und meinen Liebsten, du kränkst meine Trauer um ihn." Ich sage nichts von alldem. "Ich habe die Liebe meines Leben verloren", sage ich. "Ich reiße mich nicht zusammen." "Oh", sagt die Nachbarin erschrocken. "Ja. Na, dann einen schönen Tag noch."

"Es ist für beide Seiten schwer" ...

... sagt Trauerberaterin Anja Dose. "Wer trauert, muss den Impuls der anderen aushalten, dass es ihm gut gehen soll. Und die anderen müssen aushalten, dass es ihm nicht besser geht."
Eine Freundin ruft an. Ich weine und bitte um Entschuldigung dafür, dass ich mich immer nur wiederhole: Es geht mit nicht gut, ich bin traurig, er fehlt mir so. "Hör gut zu", sagt die Freundin. "Du hast ab jetzt fünf Jahre. Fünf Jahre, in denen du mir immer wieder das Gleiche erzählen und jedes mal weinen darfst. Verstehst du? Ich höre dir von heute an fünf Jahre lang zu und weine mit dir." Lange hat mich nichts mehr so sehr getröstet.

Ich kaufe Bio-Gnocchi, weil Bio meinem Liebsten wichtig ist. Ich esse eine Wassermelone, weil er sie so gern mag. Ich lese einen Artikel über Luther, für meinen Mann, den Luther-Fan. Ich überlege, evangelisch zu werden, damit sein Platz in der Kirchengemeinde besetzt bleibt. Ich lasse seinen Mantel an der Garderobe hängen und seine Schuhe auf der Treppe stehen, weil er weiter in unserem Haus wohnt und für immer das sein wird. Ich räume seine Seite des Badezimmerschranks auf und bereue es sogleich. Ich verbiete einem Freund, den Hut meines Geliebten zu berühren.
Ich sage: "Herrrrrrlich!", immer wieder, und versuche, das "r" so zu rollen wie er. Ich schaue mit unserem Sohn in den Sonnenuntergang. "Das hätte ihm gefallen", sage ich. "Nein", sagt mein Sohn. "Nicht 'hätte'. Es gefällt ihm." Ich spreche bei jeder Gelegenheit über meinen Mann, wann immer sich die kleinste Chance bietet. Damit jeder weiß. dass er noch lebendig ist. Er ist ja nur gestorben. Alles ist gut.

"Ich vermisse dich unendlich!"

Auf dem Friedhof entdecke ich auf einem Grab einen Zettel in einer Klarsichthülle. Ein Brief, sein Empfänger weiß, dass er ihn hier finden wird. Ich lese die Zeilen, die nicht für mich gedacht sind: "Mein Liebster, ich vermisse Dich unendlich. Ich halte es nicht aus ohne Dich. Bitte, hole mich zu Dir." Ich erschrecke, weil ich die Worte zu gut verstehe. Nein. Es ist nicht alles gut.

Ich spüre meinen Mann, ich spreche laut mit ihm und bin mir sicher, dass er mich hört. "Komm zu mir", bitte ich ihn, wenn der Schmerz zu groß ist. Und er kommt, legt sich zu mir ins Bett und wärmt mich. Er ist anwesend, immer wieder, und seine Gegenwart tröstet mich.
"Fortdauernde Bindung" nennt die aktuelle Trauerforschung das. Es ist okay, es geht vielen so. Ein psychologisches Phänomen. Ich wünsche mir dennoch, dass es nicht nur Einbildung ist, wenn ich meinen Liebsten spüre. Ich google das Wort "Jenseits", umschiffe all jene Seiten, die Kontakt zu Verstorbenen anbieten, und lande schließlich bei der Quantenphysik. Wellen, Teilchen, Aufbau der Materie - die Quantenphysik erforscht, was jenseits unserer fassbaren Realität liegt. Eines ihrer Ergebnisse: Werden zwei zusammengehörige Elementarteilchen getrennt, bleiben sie dennoch über alle Zeit und alle Entfernung hinweg miteinander verbunden und tauschen Informationen aus. "Unbegrenzte Verschränkung" nennen die Physiker das. Ein Phänomen, das auch für Körper und Seele gelten kann, glauben manche renommierten Forscher. Jedes Gefühl, alles Wissen, das wir in unserem Leben abspeichern, bleibt auch nach unserem Tod in einer unsichtbaren, größeren, allumfassenden Wirklichkeit erhalten. Nichts geht verloren.

Manchmal leuchten die Tage.

Ich kann Wunder und Schätze im Schweren sehen, die kleinen Sonnenflecken, die durchs Blätterdach der bäume fallen. "Guck!", rufe ich meinen Liebsten, damit er sich mit mir freut. Ich freue mich daran, wie unser Sohn sich aufmacht ins Leben. Ich durchkraule einen See und spüre meinen Körper. Bis sie wiederkommt, die Trauer, heftig, unvermittelt.

Ein Sonntag, nach fast einem Jahr.

Ich werde nicht aufstehen, ich kann es nicht. Es klingelt an der Tür, und ich vergrabe mich unter meiner Decke. Ich bin nicht da, ich bin nicht zumutbar. Aber mein Fenster steht auf Kipp, und ich höre meine Freunde rufen. "Erdbeerkuchen" Erdbeerkuchen!" Sie hören nicht auf damit, sie rufen, bis ich endlich öffne. Da stehen sie, mit ihrem Kuchen, und an den Apfelbaum, den mein Mann und ich so lieben, haben sie ein Holzschild genagelt: "Hoffnung". Mein Verlust hat mir Gewissheit genommen, auch über mich selbst. Aber der Tod hat nicht das letzte Wort, beginne ich zu spüren. Das Leben meines Mannes hatte einen Sinn. Und ich werde nach einem neuen für mein Leben suchen. Behutsam und gestärkt. Denn Liebe bleibt, über den Tod hinaus, real und gegenwärtig.
Lebendig.

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