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Geschenkte Zeit, verlorene Zeit?

Verlorene Zeit? Wir warten ein Leben lang: in Staus, beim Zahnarzt, auf den Urlaub, auf die große Liebe, auf das Leben.

Am späten Nachmittag sitze ich meistens hier mit einem Glas Rotwein - der zweite Tisch rechts nach dem Eingang. . . . nach und nach kommen auch andere und setzen sich zu mir, der Platz mir gegenüber aber bleibt leer. Es ist der Platz, auf dem sonst Johnson sitzt. Heute ist er nicht gekommen, mittwochs kommt er selten. Nein, es gibt keine Regel hier, den Platz von Johnson freizuhalten, und er bleibt heute durch Zufall frei. . . . aber der leere Platz mir gegenüber versetzt mich ohne mein Zutun in die Situation des Wartens." "Johnson kommt heute nicht" heißt die Geschichte von Peter Bichsel, und sie trifft den Wesenskern: Warten bedeutet die rätselhafte Herrschaft des Abwesenden. Ein Zustand, den wir von klein auf kennen. Wir warten darauf, gestillt zu werden oder aus dem Bettchen gehoben. Wir warten auf die Ferien, auf den Geburtstag, auf das Christkind. Jedes Türchen am Adventskalender ein Etappensieg, und wer vorzeitig plündert, macht die sensationelle Erfahrung, keineswegs eine Abkürzung, sondern vielmehr sich selbst die Freude genommen zu haben. Dem Warten lässt sich kein Schnippchen schlagen.

Verlorene Zeit ruft Angst hervor

Nicht einmal beim Zahnarzt, in dessen Wartezimmer wir auf einen Moment zustreben, von dem wir hoffen, dass er niemals eintritt. Und so lernen wir früh: Zum Warten gehört die Angst. Kehren die Eltern nicht zügig vom Abendspaziergang heim, sitzen wir im Nachthemd an der Tür, gelähmt vor Sorge, dass sie niemals zurückkommen. Es ist die Ahnung vom endgültigen Abschied, die jedes Warten birgt. Deswegen ist es auch die Stunde des Gebets. "Lieber Gott, bitte mach . . . "

Wer wartet, fühlt sich machtlos. Und niemand empfindet diese Ohnmacht größer als Kinder, denen Raum und Zeit unendlich scheinen. Wie lange noch?, rufen sie von der Rückbank, kaum dass die Reise angetreten wurde. Eine Schulstunde wird zum Martyrium: Lebensversäumnis bei vollem Bewusstsein. Und diese Kindersonntage in totaler Ereignislosigkeit, die Großen wollen ausruhen, die Welt steht still. Da ist sie zu spüren, "die Hohlheit des Herzens vor der Leere der Zeit", wie der Essayist Emil Cioran die Langeweile beschreibt.

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Später dann, mit 14, 15, wird das Warten grundsätzlicher. Wie die Landstreicher Estragon und Wladimir auf Godot, so warten Jugendliche seit jeher auf den Bahnhofsvorplätzen ihrer Provinznester darauf, dass das Leben endlich anfängt. Meist hat ein solch potenzieller Lebensanfang einen Namen, fährt Moped, spielt Volleyball und lässt sich bestenfalls zu einem Nicken herab, wenn er auf dem Bahnhofsvorplatz vorbeischaut. So wird aus Warten Sehnsucht.

Wer liebt, wartet. "Der Andere ist im Zustand immerwährenden Aufbruchs; im Zustand der Reise; er ist, seiner Bestimmung nach, Wanderer, Flüchtiger; ich, der ich liebe, bin meiner umgekehrten Bestimmung nach sesshaft, unbeweglich, verfügbar, in Erwartung, an Ort und Stelle gebannt", schreibt Roland Barthes in den "Fragmenten einer Sprache der Liebe". Wer nur einmal vergeblich in einem Café auf einen geliebten Menschen gewartet hat, kennt jeden Akt des Dramas. Zunächst suchen wir nach guten Gründen, Stau, verpasste Züge, nicht endende Sitzungen. Langsam mischt sich eine Spur Ärger drunter: Wenn ich ihm etwas bedeutete, hätte er sich mehr bemüht. Aber vielleicht liegt ein Missverständnis vor. Bin ich zur rechten Zeit am rechten Ort? Nach weiteren zähen Minuten flackert Angst auf: Hoffentlich ist nichts passiert! Oder, nicht weniger schlimm: Vielleicht hat er die Verabredung vergessen. Vielleicht kommt er überhaupt nicht. Niemals.

Einen typischen Versuch, sich diesem elenden Ausgeliefertsein zu entziehen, beschreibt Andrea Köhler in ihrem Buch "Lange Weile - Über das Warten". Wir beenden das Warten, indem wir den endgültigen Abschied vorwegnehmen und vermeintlich akzeptieren. Allemal besser als diese quälende Unrast im Herzen, sagen wir uns, und ermächtigen uns selbst zum Schlussstrich. Dabei verschafft auch die Vorstellung vom eigenen Verschwinden kurzfristig Linderung. Wir malen uns aus, wie sich die Rollen umkehren, wie es fortan der andere ist, der unsere Abwesenheit aushalten muss. Wartenlassen ist eine Machtdemonstration. Wir kennen es von Behörden, Geschäftspartnern, Ärzten. Aber Pünktlichkeit - das ist die Höflichkeit der Könige. Intuitiv weiß das jeder.

Verlorene Zeit verursacht Hetze

Je höher das Tempo einer Gesellschaft, desto schmerzlicher das Wartenmüssen. Im 20. Jahrhundert haben wir unsere Reisegeschwindigkeit mit einem Faktor von 102 gesteigert, die Geschwindigkeit der Datenverarbeitung um 106, die der Kommunikation um 107, so der Zeitforscher Karlheinz Geißler. Wer sich morgens zur Rushhour in eine Bahnhofshalle begibt, kann es in den Gesichtern lesen, verzerrt wie bei Sprintern im Endspurt. Wer da ausgebremst wird, weil jemand den Weg blockiert, der Zug Verspätung hat oder die Ampel auf Rot springt, kollabiert fast. 43 Prozent aller Befragten einer Allensbach-Umfrage gaben an, dass Warten für sie Stress bedeute. Wir Menschen des frühen 21. Jahrhunderts leiden am "Hai-Syndrom", wie der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer unsere Unruhe bezeichnet. Der Haifisch ist der einzige Fisch, der mangels Schwimmblase im Wasser nicht stillstehen kann. Und wie gern würden wir doch! In Situationen kollektiven Stillstands sind manchmal überraschende Szenen zu beobachten. So kommt es im Sommerferienstau vorm Gotthardtunnel regelmäßig zu spontanen Verbrüderungen unter den Autofahrern, die sich kurz zuvor noch voller Ungeduld gegenseitig fast in die Leitplanken schubsten.

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Wenn nichts mehr geht, weil für niemanden mehr etwas geht, kehrt manchmal jene Gelassenheit zurück, die wir uns alle wünschen. Man könnte auch sagen: ein gewisser wohltuender Fatalismus. - Lässt sich ja doch nicht ändern. Machen wir also das Beste daraus: Tagträumen. Schlafen. Aus dem Fenster schauen. Je älter man wird, desto lässiger wandelt man geraubte Zeit in geschenkte um. Schließlich obliegt es allein der eigenen Wahrnehmung. Ein solch langer Atem bringt Gelassenheit, "ein Wartenkönnen, bis etwas herangereift ist, die Fähigkeit, sich selbst, Anderen und den Dingen Zeit zu lassen, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist und eine günstige Konstellation sich von selbst ergibt", wie der Philosoph Wilhelm Schmid es beschreibt. Eine alte Dame in der Nachbarschaft, die konnte das. Ihr Mann war im Krieg geblieben. Erst ein Jahr, dann zwei, bald ein halbes Leben. Als die letzten Kriegsgefangenen aus Russland heimgekehrt waren und er nicht darunter, war keine Hoffnung mehr. Nur ein Funken Ungewissheit. Der reichte, um die Hoffnung neu anzufachen. Aber es fand sich nicht eine Spur Bitterkeit in ihrem Gesicht, ganz im Gegenteil. Sie schien sich im Warten eingerichtet zu haben, ihr schien ein Warten im besten Sinne zu gelingen: nach Heidegger ein "zugleich sein lassendes und denkendes Warten". Sie war wohl überzeugt, ihren Mann im Tod wiederzufinden. Und den erwartete sie mit derselben Geduld und Gelassenheit wie zuvor die Erdbeeren im Frühsommer.

Verlorene Zeit

Zur Autorin Anja Jardine wurde 1967 in Hamburg geboren. Nach einem Wirtschaftsstudium und dem Besuch der Henri-Nannen-Journalistenschule arbeitete sie als Redakteurin u. a. bei der "Zeit", beim "Spiegel Reporter", bei "Brand Eins" und der "Neuen Zürcher Zeitung". 2008 erschien ihr erster Erzählband "Als der Mond vom Himmel fiel" (301 S., 18,90 Euro, Kein & Aber Verlag), der für den renommierten Schweizer Buchpreis nominiert war. Anja Jardine lebt in Zürich und hat einen Sohn im Alter von elf Jahren.

Text: Anja JardineIllustrationen: Martina SennFoto: iStockphoto

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