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Auch die Seele hat Narben

Frau auf Bank schaut auf das Meer
© Farknot Architect / Shutterstock
Emotionale Verletzungen sind unsichtbar. Aber wenn seelische Schmerzen nachlassen, schließen sich die Wunden. Auch die Psyche bildet dann so etwas wie eine Narbe.

"Hast du Geschwister?"

Das ist eine harmlose Allerweltsfrage, die Menschen stellen, wenn sie sich näherkommen. Aber Katrin Klausner* brachte sie jahrelang zum Weinen. Sie hasste diese Frage, und sie hasste das Wort. Bruder. Dann zog sich ihr Hals zusammen, und sie wollte nur weg. Weg vom Frager, weg von der inneren Qual, sie wollte nur allein sein mit dem Schmerz, der viel zu groß war. Ja, sie hatte einen Bruder.

Einen großen Bruder, einen, den man bewundert, in den sich die Freundinnen verliebten. Aber der Bruder lebt nicht mehr. Er ist auf einer Bergtour tödlich verunglückt. Katrin war damals 17 Jahre alt und allein. Die Familie konnte nicht trauern. Niemand hatte gelernt, über Gefühle zu sprechen, und dann war es zu spät, es zu lernen. Aus dem Augenwinkel sah sie die rot geweinten Augen. Wusste stumm, dass die Mutter schon wieder auf dem Friedhof war, dass der Vater jede Überstunde in Kauf nahm, um zu vergessen. Der Schmerz lag wie ein zu schweres Tuch auf allen, und niemand wagte, es anzuheben.

Seelische Narben spüren wir, wenn wir weniger spüren

Die ersten Jahre blieb Katrin wortlos, wenn die Sprache auf Georg kam. Nur ihre Tränen sprachen. Später konnte sie "ja" sagen, das war mehr ein Flüstern, den Blick auf den Boden gerichtet, wie eine Verurteilte, so fühlte sie sich.

Schließlich begann sie zu sprechen. Mit ihrem neuen Freund, zu ihrer besten Freundin. Der Schmerz wurde langsam schwächer. Sie begann eine Psychotherapie, nahm dort noch einmal Abschied von ihrem geliebten Bruder. Seit dem kann sie frei über Georg sprechen, sich ohne Angst an die Minuten erinnern, als der Vater von Georgs Freund an der Tür erschien und die schreckliche Nachricht überbrachte. Der Verlust wird sie auf ewig begleiten, aber die Wunde ist inzwischen verheilt. Es gibt jetzt eine Narbe auf ihrer Seele. Wenn sie darüberstreichelt, dann flüstert sie für immer zärtlich den Namen ihres Bruders. Der Schmerz aber ist verklungen.

In der unsichtbaren Welt der Psyche können wir unsere Narben nicht betrachten. Wir können nur fühlen, wie Katrin, wie sich die Narbe bildet. Wenn sich die Wunde schließt, lässt der Schmerz langsam nach. Wenn das Trauma verheilt, wird das Geschehene zur Vergangenheit. Unsere seelische Narbe spüren wir, wenn wir weniger spüren. Wir fühlen sie, wenn wir kaum noch fühlen, wenn wir im Angesicht der Bilder, die uns unerträglich waren, die uns zerrissen haben, jetzt Ruhe, Klarheit, Gefasstheit spüren. Das Wesen der Narbe ist die Abwesenheit des Schmerzes. Bei einer Wunde auf der Hand können wir die Narbe berühren, und sie ist ein wenig taub. In unserer Psyche ist es die befreiende Distanz zu einst bedrängenden Gefühlen, die uns die seelischen Narben spüren lässt.

*Name von der Redaktion geändert

Es gibt auch Narben, von denen wir nichts wissen.

Es macht aber einen Unterschied, ob wir uns an den Schmerz erinnern oder er uns gar nicht bewusst ist. Möglicherweise waren wir sehr jung, und die Erinnerung ist unerreichbar abgespeichert.

Oder wir haben unsere Gefühle damals unterdrückt und nicht zugelassen. Oder aber der Schmerz, den wir erfuhren, war so überwältigend, dass er von unserem Bewusstsein ferngehalten wurde. Als Dissoziation bezeichnet die Psychologie diesen Prozess in unserem Gehirn. Wir erleben etwas, aber es dringt nicht in unser Bewusstsein vor. Im Grunde dissoziieren wir ständig. Wenn wir uns in einem lauten Restaurant unterhalten, lässt unser Gehirn alle Geräusche, an denen wir kein Interesse haben, verschwinden. In Situationen, die zu überwältigend sind, um sie psychisch verarbeiten zu können, geschieht das Gleiche. Unser Bewusstsein wird vom Erleben getrennt. Das ist ein Schutzmechanismus unserer Psyche. Aber dabei entsteht keine wirklich ausgeheilte Narbe. Die Wunde ist nur verborgen.

Bei schweren Traumata verändern sich sogar die Gehirnstrukturen. Menschen, die in ihrer Kindheit schwer misshandelt wurden, tragen die Spuren davon ewig in sich und werden anfälliger für Stress und die dunklen Schatten der Depression. Es gibt also Narben in uns, von denen wir nichts wissen, die uns ein Leben lang prägen werden. Und Wunden, die wir erst entdecken müssen, damit sie vernarben können.

Seelische Schmerzen verankern sich

Alles muss vernarben, wenn es uns nicht weiter bestimmen soll. Im limbischen System, dem Gefühlszentrum unseres Gehirns, speichern wir Erinnerungen, ohne es zu wissen. Und diese Erinnerungen bestimmen unser Leben, indem sie unser Erleben formen. Wer beschämt wurde, fürchtet Scham und begegnet ihr überall. Und nur wenn die alten Erfahrungen durch neue ersetzt werden, wenn neue Bahnen in unserem Gehirn entstehen, lösen wir uns von unserer Vergangenheit.

Diese neuen Verbindungen im Gehirn, die uns davon befreien, immer wieder durch die gleichen Ängste gehen zu müssen und den gleichen Schmerz zu erleben, sind die biologische Manifestation unsere seelischen Narben. Wenn wir innehalten und unser Leben daraufhin betrachten, was uns einst gefangen hielt und was heute nur noch ein leiser Nachklang, eine Erinnerung an schlechtere Gefühle und Zeiten war. Die Narben unserer Seele - in der Summe sind sie unsere bewältigte und hinter uns gelassene Vergangenheit.

Text: Oskar Holzberg

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