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Halten Sie das Chaos aus

Liebe, Freundschaft, Beruf - alles ist unsicher, alles ist im Fluss. Keine Perfektion möglich. So schwer es uns fällt: Wir müssen akzeptieren, dass wir nicht alles unter Kontrolle haben können.

Es gibt einen wunderschönen Satz von Elke Heidenreich, der heißt: "Man lebt nicht, um eine aufgeräumte Wohnung zu hinterlassen."

An diesen Satz muss Cornelia Borchers*, 51, oft denken, wenn sie wieder diese innere Unruhe spürt, die sie selbst so irritiert, aber einfach nicht in den Griff bekommt. Und die sie in das Zimmer ihrer 15-jährigen Tochter Leonie treibt, kaum dass diese die Wohnung verlassen hat, um dort, so nennt es Cornelia Borchers, "aus einer Müllhalde wieder ein bewohnbares Zimmer zu machen". Sie weiß genau, wie sinnlos und vor allem undankbar es ist, jeden einzelnen Tag aufs Neue verkrumpelte Textilien in den Wäschepuff zu werfen, angewidert halb verweste Essensreste zu entsorgen - zumal es gefühlte zwei Sekunden dauert, bis ihre Tochter beim Nachhausekommen alles wieder zumüllt. "Ich weiß, dass es sinnlos ist", gibt sie zu, "aber Unordnung ist für mich das Eingeständnis von Schwäche und Verwahrlosung, sie ist wie ein Kontrollverlust, ein Gefühl, das ich einfach nicht ertragen kann." Also räumt sie weiter auf. Weil ihr Bedürfnis nach Ordnung größer ist als ihre Frustration darüber, dieses Bedürfnis nicht souveräner kontrollieren zu können.

Die 39-jährige Filialleiterin Birgit Förster dagegen findet die SMS-Lawine, die sie ihrem Ehemann bei jeder Geschäftsreise hinterhersimst, völlig normal. "Kontrollwut? Quatsch! Ich will doch nur wissen, was los ist. Wo ist das Problem?", sagt Birgit Förster und ignoriert, dass ihr Mann nur noch sehr sporadisch antwortet. Schickt stattdessen eine weitere SMS.

Kontrolle mag besser als Vertrauen sein, aber das Wort hat keinen schönen Klang. "Fahrkartenkontrolle", ruft der Schaffner, und wehe, man hat keinen gültigen Fahrschein dabei. Dann gibt es einen saftigen Strafzettel. Wer kontrolliert, bremst den Spaß, macht sich und anderen das Leben eng.

"Kontrollettis" nannte man in den Wohngemeinschaften der siebziger Jahre verächtlich die spießigen Bewohner, die pingelig darauf achteten, dass jeder auch wirklich das Klo putzte, wenn er an der Reihe war.

*alle Namen von der Redaktion geändert

Aber Kontrolle ist zunächst einmal das Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung, wir kontrollieren, wenn wir Angst haben, dass uns etwas Wichtiges im Leben entgleitet. Der Partner fremdgeht, die Kinder auf Abwege geraten, die Gesundheit oder der Arbeitsplatz uns abhandenkommen. Und obwohl diese Ängste in einer immer globalisierteren und unsichereren Welt nicht immer unberechtigt sind, lässt zu viel Kontrolle unser Leben langsam, aber sicher verkrusten. Und hat manchmal auch mit zu viel Zeit zu tun, denn berufstätige Mütter oder Ehefrauen haben Wichtigeres zu tun, als hinter ihrer Familie hinterherzusaugen oder -zuspionieren. "Ich habe einen 80-Stunden-Job und kann es mir gar nicht leisten, meine Familie ständig zu kontrollieren", lacht die 48-jährige Annette Thielemann, "wenn also meine schwerstens pubertierende Tochter abends nicht erreichbar ist, dann vertraue ich sie einfach ihrem Schutzengel an. Das hat bis jetzt sehr gut geklappt."

Unsere Erfahrung hat uns gelehrt, wie unberechenbar das Leben sein kann.

Kontrolle ist Rigidität und kann das Leben immer kleiner und langweiliger machen. Aus Angst vor Krankheiten reisen wir nicht mehr, aus Angst vor Enttäuschungen lieben wir nicht mehr, aus Angst vor dem Risiko leben wir mit Mundschutz und angezogener Handbremse. "In der Kontrolle steckt häufig eine Vermeidung", sagt der Hamburger Psychologe Oskar Holzberg, "ich vermeide, mich mit meiner Verlustangst zu konfrontieren. Risikovermeidung wird zur Lebensvermeidung."

Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere heißt gesunde Vorsicht, das, was Psychologen "Selbstfürsorge" nennen. Wir wissen, was schiefgehen kann, also sorgen wir vor. Schließlich haben wir Erfahrung. Sind in der Vergangenheit etlichen Irrtümern aufgesessen, haben viele Warnsignale übersehen, uns in Fallen verstrickt, wir wollen uns einfach nicht noch einmal verrechnen oder täuschen lassen oder auf etwas hoffen, was nicht eintrifft.

Perfektion entsteht, weil wir unsicher werden

Denn je älter wir werden, desto mehr wissen wir ja auch, was gut für uns ist und wie die Situationen sein sollen, in denen wir uns wohl fühlen. Ist es nicht unser gutes Recht, wenigstens zu versuchen, dass sich die Umstände uns anpassen und nicht umgekehrt?

Natürlich lerne ich aus vergangenen Missgeschicken und packe lieber einen Pullover zu viel statt einen zu wenig ein, weil ich im letzten Sommer auf Mallorca gefroren habe, da es die ganze Zeit geregnet hat. Und wer einmal in den Tropen mit hohem Fieber im Bett lag, der lässt sich vorher impfen und fährt nicht ohne sein Medikamentenköfferchen los.

Unser Horizont ist nicht mehr grenzenlos, wir fühlen uns nicht mehr unsterblich. Das macht vorsichtiger als früher und oft ängstlicher. Denn unsere Lebenserfahrung hat uns gelehrt, wie chaotisch und völlig unberechenbar das Leben sein kann.

Es gibt keine ultimative Sicherheit, schon gar nicht in der Liebe.

Deshalb zahlen wir in diverse Altersvorsorgen, damit wir später nicht verarmen, denn ist es nicht eine der wenigen Vorzüge des Älterwerdens, aus Erfahrung klug geworden zu sein, jedenfalls ein bisschen? Eben nicht mehr mit nassen Haaren nach draußen zu gehen, weil wir uns sonst erkälten? Lieber eine Stunde zu früh am Flughafen zu sein, weil wir einmal den Flieger nicht mehr schafften? Das Geld für ein neues Auto doch lieber in einen Rentenfonds zu stecken, damit wir später unseren Kindern nicht auf der Tasche liegen? Lieber bei dem Mann bleiben, der uns nicht glücklich macht, damit wir im Alter nicht allein sind?

Natürlich besteht dann das Risiko, dass wir irgendwann gar nicht mehr das Haus verlassen, damit wir auf der Straße nicht unter die Räder kommen.

Die 44-jährige Bettina Schütte bezeichnet sich selbst als "durchgeknallten Kontrollfreak", was ihre Gesundheit angeht. Vorsorge war ihre Lieblingsbeschäftigung. "Hinter jedem Zipperlein fürchtete ich einen Ganzkörperkrebs." Im März dieses Jahres lobte ihr Internist, sie habe Werte wie ein junges Mädchen. Drei Monate später diagnostizierte ihr Gynäkologe Gebärmutterhalskrebs bei ihr. "Zum Glück im ganz frühen Stadium", sagt Bettina Schütte, "vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass ich nicht immer nur an mich denken soll."

Gute Erfahrungen, schlechte Erfahrungen - so ist das Leben, aber wie wir uns dazu verhalten, das ist ganz allein unsere Entscheidung. Ich kann die Angst vor Krebs mein Leben bestimmen lassen, oder ich kann "Inschallah, so Gott will" denken und einfach weiterleben. "Gesund ist, wer sich nicht ausreichend hat untersuchen lassen", spöttelt der Arzt und Bestsellerautor Manfred Lütz, "manchmal hat man Angst, weil hinter dieser Angst eine ganz andere steckt. Davor, dass das Leben unsicher und unberechenbar ist. Der Irrtum jedoch ist, dass wir glauben, durch mehr Kontrolle mehr Sicherheit zu schaffen."

Kontrolle ist eigentlich Angst

Aber es gibt keine ultimative Sicherheit, nur eine trügerische. Ganz besonders in der Liebe nicht, denn Kontrolle schafft die Gefahr des Betruges nicht aus der Welt. Der Mann, dessen Handy ich auf verdächtige SMS abklopfe, wird deswegen nicht treuer, lediglich raffinierter, ausgebuffter. Und seine Liebe zu mir wird meine Kontrolle ganz bestimmt auch nicht vergrößern.

In jedem Kontrollversuch in einer Partnerschaft liegt die Angst, meint Holzberg, "und die muss ich kontrollieren. Ich muss mich entscheiden, will ich die Wahrheit? Ertrage ich die Wahrheit? Und vergrößert oder verkleinert diese meine Angst?" Also kein diffuses Kontrollnetz aufbauen, sondern im Zweifel einen Detektiv beauftragen, meint er.

Wir haben keine Lust mehr auf unangenehme Überraschungen. Sicherheit und Verlässlichkeit sind uns oft wichtiger als Aufregung und Unberechenbarkeit. "Wir müssen uns bewusst machen, dass Kontrolle eben immer nur in einem gewissen Maß und in einem überschaubaren Bereich möglich ist", sagt Bernd Sprenger in seinem Buch "Die Illusion der perfekten Kontrolle", eine wahre Erkenntnis, aber eine, nach der sich nicht immer leben lässt.

Das Leben als Party sehen.

Denn je mehr uns die Kontrolle über vieles entgleitet, je verletzlicher wir uns fühlen, desto radikaler ist unser Wunsch, wenigstens den kleinen Rest zu beherrschen. Wir wollen am liebsten schon heute wissen, was morgen sein wird. Denn die Gegenkraft zur Kontrolle, die Kontrolllosigkeit, das Wagen von Experimenten, dieses "bewusst in die Unsicherheit gehen", wie es Holzberg nennt, erscheint uns oft zu gefährlich.

Es gibt trotzdem noch vieles, was sich unserem Einfluss entzieht. Marion Müller-Mey, 52, fährt nicht mehr Auto, seit sie einen Unfall verursacht hatte, "obwohl er glimpflich ausging". Vor Kurzem wurde sie auf dem Heimweg von einem betrunkenen Radfahrer angefahren. "Irgendwie hat mich das befreit", sagt sie, "jetzt fahr ich wieder Auto. Ich kann eben nicht mein ganzes Leben steuern."

"Die Bereitschaft zu vertrauen bedeutet nicht, noch mehr Sicherheit einzuholen, sondern liegt umgekehrt darin, Unsicherheit auszuhalten", sagte der Soziologe Nikolas Luhmann, "statt sämtliche Informationen rational abzuwägen, sollten wir mehr der Intuition folgen."

Wir möchten dennoch alles festhalten. Kinder, Freundschaften, Gesundheit, den Arbeitsplatz. Wir beginnen zu sammeln, zu sparen, zu sortieren. Es ist die Angst vor der Vergänglichkeit, denn was wir wegwerfen, weggeben oder verschenken, kommt nicht wieder, lässt sich nicht zurückholen - die Welt verändert sich vor unseren Augen -, das ist wunderbar, aber auch schmerzlich. Nichts soll geschehen, was nicht geschehen darf. Doch Kinder ziehen ans andere Ende der Welt, Männer rufen nicht an, oder sie verlassen uns, Arbeitsplätze werden wegrationalisiert, alles ist im Fluss, nichts ist für die Ewigkeit.

"Es geht um die schwierige Kunst", sagt Bernd Sprenger, "die Dinge miteinander zu verbinden, statt sie als Gegensätze aufzufassen. Kontrolle und Vertrauen, logisches Denken und Intuition, Planung und Geschehenlassen, wir brauchen beide Pole, um gut leben zu können."

Also - Kontrolle ist gut, aber ein bisschen Chaos im Leben schadet auch nicht. Versuchen wir doch einfach mal, das Leben als Party zu sehen, bei der wir Menü, Beleuchtung und die Gästeliste kontrollieren können, aber nicht die Stimmung. Wenn wir das nämlich tun, dann ist sie weg.

Cornelia Borchers hat den ersten Schritt getan. Als ihre Tochter verreiste, hat sie deren Zimmer nicht betreten. "Zuerst war es schwer", sagt sie, "aber dann die totale Befreiung."

Zum Weiterlesen:

Bernd Sprenger: "Die Illusion der perfekten Kontrolle" (224 S., 17,95 Euro, Kösel)

Text: Birgit Weidt Foto: Getty Images

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