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Die Freiheit nehm' ich mir

Manchmal gibt es im Leben einen Punkt, an dem man etwas loslassen muss: den Job, die Partnerschaft, die Sicherheit. Ein Neuanfang ist dann meist erst möglich.

"Was ist bloß mit uns los?" Sarah schaut in die Runde. "Haben wir etwa die Midlife-Krise?" "Hätten wir uns dann nicht einfacher einen roten Porsche kaufen...", seufzt Marianne, und Beni unterbricht: "... oder vielleicht mit einer knalljungen Blondine durchbrennen können!?"

"Also bitte! Niveau, meine Damen, Niveau!", mahne ich in der Stimme unserer ehemaligen Deutschlehrerin. So lange kennen wir uns schon, seit unserer Schulzeit. Zwischendurch haben wir uns immer mal wieder aus den Augen verloren, aber nun sitzen wir hier, in dieser Hotellobby, und stellen fest, dass wir uns alle vier am selben Punkt befinden. Am "point of no return" sozusagen. Alle vier haben wir, auf die eine oder andere Art, "den Bettel hingeworfen", wie es so schön heißt, wenn man etwas aufgibt, aber mit einem gewissen Schwung. Bettel heißt Beutel oder Bündel, ein Stück Gepäck also, das man schon lange mit sich herumträgt und das einem schon lange zu schwer ist.

Und bevor man darunter zusammenbricht, wirft man es hin, das Bündel, und geht erleichtert weiter. Geradezu voller Elan. Oft handelt es sich bei einem Befreiungsschlag um das Beenden einer Beziehung. Oft, aber nicht immer.

Eine zweite Wohnung mieten - auch das ein Neuanfang

Und nicht bei uns. Sarah hat sich zwar eine Wohnung gemietet, eine einfache Einzimmerklause in einem anonymen Hochhaus, ganz für sich allein. Aber nicht, um sich dort mit einem kubanischen Tanzlehrer zu treffen, wie ihr Mann vermutet, nein. Sondern einfach, um allein zu sein. Ihr Mann glaubt ihr nicht, und auch wir haben erst einmal unsere Zweifel. "Na, komm schon, gib’s zu, du triffst dich mit jemandem!" "Ja", sagt Sarah. "Mit mir."

Sarah lebt in einem gemütlichen, chaotischen Haus, wo die Türen immer offen stehen, wo verlassene Freundinnen ebenso gern unterkriechen wie durchreisende Künstler, Studenten aus aller Welt, dazu ihre vier mehr oder weniger erwachsenen Kinder mit ihren Freundinnen und Freunden, alle sitzen um den großen Tisch, reden, lachen, diskutieren, essen. Essen, was Sarah gekocht hat. Ein offenes Haus, ein lautes Haus. "Ich liebe es. Das bin ich. Aber irgendwann hab ich gemerkt, dass ich mich nicht mehr denken höre! Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich hab mich in dem Chaos verloren." Im Prinzip hat sich Sarah also eine Tür gemietet, eine Tür, die sie hinter sich zuziehen, mehr noch: die sie sogar abschließen kann.

Eigentlich wollte sie nur zwei Tage die Woche in ihrer modernen Einsiedelei verbringen. Doch die Bewohner ihrer Villa Kunterbunt revoltierten. Sie stellten ihr ein Ultimatum: "Entweder – oder!" Und Sarah sagte: "Oder."

Diese Art von Radikalität muss erst einmal wachsen, das Bewusstsein, dass die eigenen Bedürfnisse nicht weniger wichtig sind als die der anderen, irgendwann sogar wichtiger.

Nicht, dass ihr das leichtgefallen wäre. Aber: "Ich kann nicht mein ganzes Leben lang gegen meine Natur leben." Das fällt auch heute noch keiner Frau leicht. Selbst wenn man glaubwürdig argumentieren könnte, dass es Kindern ab - sagen wir - 25 zumutbar ist, zwei Tage die Woche für sich selbst zu sorgen. Ganz zu schweigen von Männern über 50.

Auch Beni hat ihre besten Freundinnen nachhaltig gegen sich aufgebracht. Vor 20 Jahren haben sie zu dritt eine kleine, aber bald wirklich erfolgreiche Werbeagentur gegründet. Und jetzt, wo alles so gut läuft, steigt Beni aus. Beni will ein Buch schreiben. Seit Jahren redet sie davon. Die Werbetexte, die am Erfolg der kleinen Agentur maßgeblich beteiligt sind, waren ursprünglich nur für den Übergang gedacht. Nur, um das nötige Kleingeld für ein Schreibjahr zu beschaffen. Doch je mehr Beni verdiente, desto mehr gab sie aus. "Ich habe mir mein eigenes goldenes Hamsterrad gebaut. Je mehr ich verdiente, desto mehr Kosten kreierte ich. Wohnung, Wagen, Ferienhaus, alles wurde Jahr für Jahr teurer, sogar meine Haarfarbe! So konnte ich mir immer vormachen, ich könne es mir auf keinen Fall leisten, aufzuhören. Und meinen Traum zu leben."

Warum steht man sich so im Weg? Weil man Angst hat. Angst, zu versagen. Was, wenn der Roman nie fertig wird? Wenn ihn niemand lesen will? Da ist es doch einfacher zu sagen, man könne es sich nicht leisten, ein Buch zu schreiben. Doch irgendwann wird das Leben kürzer als die Angst.

Darf oder muss ein Traum sogar gelebt werden?

"Sei bloß nicht so dumm wie ich!", sagt Mariannes Mutter. "Immer hab ich gedacht, meine Zeit kommt noch. Und dann wurde ich krank." Die knapp 70-Jährige leidet an Parkinson. Seit zehn Jahren lebt sie bei ihrer Tochter. Die beiden Frauen haben eine unkomplizierte, liebevolle Beziehung. Aber nicht so eng, dass Marianne ihr gestanden hätte, dass sie eigentlich seit ihrer Jugend davon träumt, einmal in Indien zu leben, intensiv Yoga zu lernen, zu meditieren. Zu sich selbst zu finden. "Halt so ein typischer Traum meiner Generation", sagt sie. Wer ihn als Blumenkind nicht durchziehen konnte, hat eben Pech gehabt. Dachte Marianne, die früh geheiratet hat. Erst waren die Kinder zu klein, dann war ihre Ehe in der Krise, der Versuch, sie zu retten, scheiterte, und schließlich wurde ihre Mutter krank. All die Jahre hat Marianne nicht vergessen, von Indien zu träumen. Und dann plötzlich im denkbar ungünstigsten Moment: das unwiderstehliche Angebot einer jungen und unerwartet schwanger gewordenen Bekannten, an ihrer Stelle die bereits gebuchte Ausbildung an einer renommierten indischen Yogaschule anzutreten. Doch dann die Frage: Was wird aus Mariannes Mutter?

"Bleib bloß nicht meinetwegen hier", sagt die. Und erwähnt ganz beiläufig, dass sie sich vor Jahren schon auf die Warteliste eines Pflegeheims setzen ließ. Sie macht es ihrer Tochter leicht. Trotzdem ringt Marianne mit sich. Neun Monate wird sie weg sein. Neun Monate, in denen alles passieren könnte. Ihre Mutter könnte sterben. Sie könnte Großmutter werden. Ihr Teilzeitliebhaber könnte eine andere, verfügbarere finden. Ebenso die Klienten ihrer Bodywork- Praxis. Die Untermieter könnten ihr gutes Geschirr zerschlagen. Die Topfpflanzen könnten ...

Es gibt immer tausend Gründe, es nicht zu tun. Wichtige und weniger wichtige. Denn Befreiungsschläge schlagen Wellen. Haben Konsequenzen. Das wissen wir. Wir leben schließlich schon lange genug.

Haben wir deshalb so lange gewartet? Bis die Angst vor den Konsequenzen kleiner wurde als die, dass es irgendwann - vielleicht schon sehr bald - zu spät sein könnte?

Die Zahmste von uns vieren bin ich. Vergleichsweise unspektakulär habe ich mich aus verschiedenen seit Jahren unbefriedigenden beruflichen Zusammenhängen gelöst. Habe finanzielle Sicherheit gegen künstlerische Freiheit getauscht, was in meiner Situation - Alleinernährerin einer vierköpfigen Familie - nicht ganz risikolos ist. Aber das ist nicht der wahre Grund, warum ich jahrelang mit mir gerungen habe. Ich litt zwar unter manchen Kompromissen, fand gewisse Vereinbarungen unzumutbar, doch ich hatte nicht den Mut, mich dagegen aufzulehnen. Denn mehr als alles andere wollte ich gemocht werden. Ich fasste es als Kompliment auf, wenn man zu mir sagte: "Ach du, du bist gar keine richtige Schriftstellerin, dazu bist du viel zu pflegeleicht!" Ich wollte die nette Autorin sein, nicht die respektierte. Doch irgendwann wurde auch bei mir diese Angst immer kleiner, bis sie schließlich keine Chance mehr hatte gegen die Lust, endlich wieder einmal einfach schreiben zu können. Ohne Vorschuss, ohne Abgabetermin und ohne an die Auflagenerwartungen einer Marketingabteilung zu denken. So wie am Anfang, so wie vor 20 Jahren.

Ein Neuanfang. Alles ist möglich, das Abenteuer kann beginnen

Und so fühle ich mich jetzt auch: 20 Jahre jünger. Und ganz am Anfang. Am Anfang von was? Einer neuen Epoche vielleicht: dem Ende der Nettigkeit. Auch dazu muss man eine Weile gelebt haben: um zu merken, dass gemocht zu werden nicht das Ziel aller Dinge sein kann.

Beni hat noch eine andere Erklärung: Sie nennt es das "Schmale-Lippen-Syndrom - gegen das keine Spritze der Welt hilft!".

"Jedes Mal, wenn du ein neues Buch rausgebracht hast", sagt sie zu mir, „machte ich schmale Lippen. Ich konnte mich nicht freuen. Ich konnte nichts anderes denken als 'Ich will auch!'. Und presste so die Lippen zusammen" – sie macht es vor und wirkt sofort verbittert, miesepetrig. "Irgendwann stand ich in einer Buchhandlung und hielt eine Neuerscheinung in der Hand und fragte mich zum x-ten Mal, warum nicht ich die Entdeckung der Saison war. Die Antwort war ganz einfach: weil ich nichts geschrieben hatte. Ich schaute auf, sah mich im Spiegel, mit diesem Gesicht, diese schrecklich schmalen Lippen, und erschrak: Das bin doch nicht ich! In diesem Moment wusste ich, dass etwas passieren musste. Sonst würde mir dieser Gesichtsausdruck eines Tages noch bleiben!"

Das ist keine Midlife-Krise, das ist eher so etwas wie eine zweite Pubertät. Das Gefühl, man habe alle Zeit der Welt, ist eigentlich ganz ähnlich wie das, man habe nicht mehr alle Zeit der Welt. Es erzeugt die ähnliche Dringlichkeit, eine gewisse Radikalität.

Wir haben den Mut, zu unseren Entscheidungen zu stehen, auch wenn sie von außen schwer nachvollziehbar scheinen. Wir sind auch bereit, die Konsequenzen zu tragen. Weil wir keine schmalen Lippen haben wollen.

Benis Agentur läuft ohne sie weiter. Und zwar ziemlich gut. Das ist ihr nicht ganz egal. Aber sie schreibt. Ich schreibe, Marianne packt ihre Koffer. Sarah hat ihren Mann eingeladen, sie in ihrer Klause zu besuchen. Der Abend war überraschend schön, so ungestört. Doch am nächsten Morgen hat sie ihn erst mal wieder nach Hause geschickt. "Keine Ahnung, wie es weitergeht!"

"Wer weiß das schon?" Ein Flirren liegt in der Luft, über unseren Loungesesseln, unseren Drinks, ein erwartungsfrohes Knistern, alles ist möglich, und das Abenteuer beginnt am Ende der Straße.

Milena Moser

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