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Meckern Deutschland, einig Jammertal

Der Bus kommt zu spät, der Nachbar ist unverschämt, das Wetter mal wieder grauenhaft - Gründe zum Meckern gibt es massenhaft. Aber es macht auch richtig Spaß. Oder wollen wir's einfach mal lassen?

Oh nein, jetzt ist der Sommer schon fast vorüber. Bald geht das mit dem Nieselregen wieder los, na super. Nasses Laub, das an den Schuhsohlen klebt. Im Dunkeln nach Hause kommen. Nebel auf der Autobahn. Und dann diese blöde Zeitumstellung, die alles durcheinanderbringt. Nicht zum Aushalten, das alles! Merken Sie was? Merken Sie, wie es Sie langsam runterzieht? Wie Sie am liebsten in das Geheul einstimmen möchten? Ganz normal, sagt die Psychologie: Wer jammert, steckt andere an. Schon diese wenigen Zeilen versetzen Sie in eine richtig miese Stimmung, oder etwa nicht?

Mit dem Jammern ist es nämlich so: Wir alle tun es, aber bei anderen finden wir es meistens blöd. Mokieren uns über das deutsche "Jammern auf hohem Niveau". Lesen unzählige Artikel und Bücher zum "positiven Denken". Und doch passiert es uns immer wieder: Besonders wir Frauen scheinen geradezu eine Freude daran zu haben, uns über andere zu beschweren, die vorbeirasende Zeit zu beseufzen, über die Busverspätung zu meckern. Woher kommt das nur?

Denn natürlich geht es den meisten von uns objektiv gesehen ziemlich gut. Eine heute 40- Jährige hat in Deutschland eine Lebenserwartung von etwa 83 Jahren - zehn Jahre mehr als unsere Mütter. Wir müssen uns nicht ständig fragen, woher die nächste Mahlzeit kommen soll. Und auch der Sommer ist eben nur fast vorüber. Warum wir uns trotzdem so sehr auf das Negative stürzen? "Es sticht einfach mehr heraus", sagt Robin Kowalski, Psychologin an der Western Carolina University. "Für uns ist das Positive und Erwartbare die Norm. Weicht etwas davon ab, so fällt es uns mehr auf und provoziert stärkere Auswirkungen."

Jammern ist sozialer Klebstoff.

Jeder Mensch, sagt Kowalski, vergleiche ständig seine Vorstellungen mit der Realität. Stimmen Vorstellung und Realität nicht überein, sind Sich-Ärgern und - Beschweren die häufige Folge. Sind die größten Jammerer also die mit den unrealistischsten Vorstellungen? Robin Kowalski: "Das könnte sein. Aber das Beschweren resultiert ja nicht nur aus diesen Vergleichen. Leute jammern auch, weil sie dann Aufmerksamkeit oder Mitleid bekommen." Die Schlussfolgerung daraus: Mitunter wirken wir als Umstehende an einer Nörgelei genauso mit wie die Jammernden selbst. Schließlich bieten wir ihnen eine Bühne, spenden Applaus oder nicken zumindest anteilnehmend. Kein Wunder, dass das Gehirn sich merkt: Auf ein ausgeprägtes Seufzen und Lamentieren folgt eine positive Reaktion. Wir haben das Jammern sozusagen salonfähig gemacht. Ja, manchmal gibt es außer der Beschwerde gar keine Möglichkeit, mit anderen in Kontakt zu treten! Man stelle sich das Wartezimmer eines Arztes vor. Wäre es nicht merkwürdig, wenn der eine Patient jetzt den anderen ansprechen würde? Etwa nach dem Blutdruck fragen oder den neuen Schuhen? Das einzig sozial Akzeptierte in dieser Situation: auf geteiltes Leid hinweisen.

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"Ach, ich warte auch schon 40 Minuten!" Oder: "Ist mal wieder viel zu warm hier, was?" Robin Kowalski sagt dazu: "In solchen Momenten ist das Sich-Beschweren wie ein Drehbuch für zwei Menschen, die sich nicht kennen." Jammern geht immer. Der Anti-Jammerer dagegen wird misstrauisch beäugt. Sagen wir mal, ich würde mich zu Kollegen an den Tisch setzen und nicht sagen: "Herrje, heute kriege ich mal wieder gar nichts gebacken, weil ständig das Telefon klingelt!" Sagen wir mal, ich stellte stattdessen fest: "Heute hatte ich nur nette und gut gelaunte Menschen am Telefon!" Den anderen würde darauf wahrscheinlich gar nichts einfallen. Beim Jammer-Thema aber hätte sicher jeder etwas beizutragen. Denn Jammern ist ein Eisbrecher. Sozialer Klebstoff, der Gemeinsamkeit und Intimität schaffen kann. Es bietet Halt auf unbekanntem Terrain, gibt ein Schema vor, anhand dessen wir Alltagssituationen meistern.

Anscheinend legen wir uns in unseren Köpfen richtige Ärger-Pfade an.

Das Jammern macht es uns aber auch einfach. Ständig scharwenzelt es durch unseren Kopf, sieht ein Ärgernis hier, eine Enttäuschung da. Und verführt uns auch daheim zu Sätzen, die mit "Muss ich eigentlich immer. . . " oder "Kannst du denn nie. . . " beginnen. Wie aber widersteht man dieser Sirene? Ganz einfach, sagt Will Bowen, Autor des Buches "Einwandfrei. A Complaint Free World": Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf das Jammern, die "akustische Verschmutzung", wie er es nennt. Sie werden bestürzt darüber sein, wie oft Sie es tun. Und in Ihrer Bestürzung werden Sie es ändern wollen. Wenn Sie das schaffen, sagt Bowen, wird es Ihnen besser gehen.

Training gegen das Meckern

Die Methode des amerikanischen Pastors lässt sich auf ein lila Silikon- Armband reduzieren, das jedem seiner Bücher beiliegt. Bowen sagt, man solle es auf einen Arm streifen. Jedes Mal, wenn man sich bei einer Beschwerde, beim Lästern oder beim lautstarken Sich-Ärgern ertappe, solle man es auf den anderen Arm wechseln. Seine Voraussage: Fortan werde man nur noch mit dem Auf-den-anderen-Arm-Streifen beschäftigt sein. Das Ziel ist nun, dies zu reduzieren. Und zwar so lange, bis man 21 Tage lang das Armband am selben Arm getragen hat. Dafür wird man Monate brauchen. Aber dann, meint Will Bowen, sei das Gehirn darauf trainiert, dem Negativen nicht mehr so viel Raum zu geben. Man werde automatisch positiver.

Das lila Armband liegt auf meiner Kommode im Flur. Ab und zu schleiche ich vorbei und sehe es misstrauisch an. Aber ich streife es nicht über. Denn ich finde, Pastor Bowen hat eines nicht bedacht: dass Jammern nun mal guttut. Ich will nicht unterdrücken, dass eine Bemerkung mich gekränkt hat oder mich das Verhalten eines Verkäufers nervt. Wenn ich Dampf ablasse, fühle ich mich hinterher besser. Die Frage ist nur: Warum?

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Ein Anruf bei Sylvia Richter, Neurobiologin an der Universität Magdeburg. "Frau Richter, ich mag es nun mal, zu jammern." "Das ist doch in Ordnung. Das ist eine körperliche Reaktion." "Sie verstehen nicht: Ich scheine richtig Freude daran zu haben!" "Das liegt unter anderem an Ihrem Gehirn. Einer der Bereiche, die auch für Ärger zuständig sind, befindet sich mitten im Belohnungssystem. Sich-Ärgern und positives Empfinden hängen mitunter durchaus zusammen."

Sylvia Richter erklärt mir außerdem, dass die Hormone schuld sind, wenn ich mich ärgere. Dann sinkt nämlich die Produktion vom Wohlfühlhormon Serotonin. Je weniger Serotonin, desto unwohler fühle ich mich. "Stimmt es denn, dass man sein Gehirn trainieren kann, weniger Negatives wahrzunehmen?", frage ich. - "Mit dem Wort 'Training' wäre ich vorsichtig", antwortet die Wissenschaftlerin. "Aber eines stimmt: Wenn Sie sich ständig in Ärger-Situationen bringen, werden die zuständigen Regionen im Hirn stärker beansprucht. Sie reagieren dann in Zukunft schneller, und die Schwelle fürs Sich-Ärgern sinkt. Umgekehrt kann man durch positive Stimulation erreichen, dass die dafür zuständigen Regionen schneller reagieren."

Welcher Pfad führt zur Zufriendenheit?

Will Bowen hat also recht: Anscheinend legen wir in unseren Köpfen richtige Ärger-Pfade an, die wir nach und nach immer mehr austreten. Die irgendwann zu Highways des Negativen werden. Anscheinend liegt es tatsächlich an uns, positive Pfade breit zu trampeln. Einfach nur, indem wir öfter darüber sprechen, was uns gefällt, anstatt jede Nichtigkeit zu beklagen.

Mir fallen sofort unzählige Menschen ein, denen ich davon gern erzählen würde. Diese Kollegin etwa, eine Jammer-Königin. Ich habe ihr schuldbewusstes Gesicht von neulich noch vor Augen. "Ach. Hallo", sagte sie, als sie mich in der Tür stehen sah. "Du, ich weiß, du hast mir dieses Manuskript hingelegt. Aber ehrlich, ich komme gerade gaaar nicht dazu, draufzuschauen. Ich habe einfach sooo viel zu tun! Bei mir geht gar nichts mehr."

Nun ist es so, dass das Büro dieser Kollegin meist gegen 18 Uhr leer ist. Andere Kollegen dagegen kommen vor neun Uhr und gehen nach neun am Abend - bei denen geht wirklich nichts mehr. Ich möchte nicht, dass meine Jammer- Kollegin ebenfalls ihre Freizeit opfert, um Himmels willen, nein. Aber sie soll ehrlich sein: Sie legt einfach Wert auf einen pünktlichen Feierabend.

Meckern ist ein guter Nachbar der Lüge

Psychologin Robin Kowalski sagt dazu: "Manche wollen mit Jammern präventiv darauf einwirken, dass man nicht allzu hart über sie urteilt." Diese Menschen sehen eine Situation kommen, wissen, dass sie darin nicht brillieren werden - und finden schon mal vorweg Gründe dafür. So erlangen sie die Kontrolle darüber, wie die Situation gedeutet wird. Die Jammerei befindet sich in diesem Moment in bester Nachbarschaft zur Lüge. Und all das nur, weil die Kollegin sich sozialkonform verhalten will. Weil Früh-gehen-Wollen sozial weniger akzeptiert ist als das In- Arbeit-Versinken, jammert sie sich die Umstände etwas furchtbarer, als sie tatsächlich sind.

Das Problem am Hochspielen und Überbetonen des Negativen: Es kann zu einer Jammer-Dauerschleife ausarten. Psychologen haben nämlich beobachtet, dass wir uns gern anschließen, wenn andere etwa über einen Film meckern - selbst wenn wir vorher gar keine allzu schlechte Meinung davon hatten. Hinterher aber, Achtung!, beurteilen wir den Film tatsächlich negativer. Und wer einige Zeit einem schlecht gelaunten oder gar depressiven Menschen zuhört, fühlt sich laut einer Studie anschließend häufig selbst schlechter. So entsteht ein regelrechtes Jammer-Domino: Der eine zieht ganz automatisch den nächsten runter.

Die Älteren hängen dem Ärger weniger nach.

Fragt man Ramona Wonneberger, so hilft da nur eines: es öfter mal sein zu lassen. Die 46-Jährige schult in ihrem Anti-Ärger-Institut Menschen darin, sich weniger aufzuregen. "Sagen wir mal, jemand verbringt drei Stunden täglich mit negativen Gedanken", sagt Wonneberger. "Das sind auf die Lebenszeit berechnet 75 000 Stunden, das ist doch verrückt!" Dann erzählt sie von einem sehr schwierigen, häufig mies gelaunten Mitarbeiter einer großen Firma. Wenn sein Anti-Ärger-Training scheiterte, würde der Mann entlassen werden, erfuhr Ramona Wonneberger. Also machte sie dem Miesepeter klar: Wenn die Ursache des Ärgers zu ändern sei, so solle man sich daran versuchen. Wenn nicht, könne man kurz schimpfen - dann aber müsse man die Situation akzeptieren. Möglichkeiten zum Sich-Ärgern gebe es genug, sagt Wonneberger, "aber macht es Sinn, sie alle wahrzunehmen oder wochenlang einem Ärgernis nachzuhängen?".

Der Kursteilnehmer ging nach Hause und beschloss, von nun an abends nicht mehr wie bisher negativ über die Arbeit zu sprechen. Nach einem Jahr erhielt Ramona Wonneberger einen Brief von seiner Frau. "Danke", stand darin, "ich habe jetzt einen ganz neuen Mann." - "Und mittlerweile kommt er auch mit den Kollegen besser klar", sagt Wonneberger.

Wenn man es nur will, lässt sich Jammern tatsächlich kontrollieren und einschränken - und das kann uns zu fröhlicheren, ausgeglicheneren Menschen machen. Und noch mehr gute Nachrichten gibt es: Was das Sich-Ärgern, - Aufregen und Nörgeln angeht, können wir uns auf das Alter freuen. Britische Wissenschaftler fanden nämlich heraus, dass Ältere weniger häufig Ärger äußern und sich besser selbst beruhigen können. "Ältere Menschen machen seltener gemeine Kommentare, schlagen weniger mit Türen oder streiten", fasst eine der Forscherinnen zusammen.

Der milde Kopf im Alter

"Sie hängen dem Ärger weniger nach, halten sich weniger mit Rachegedanken auf und verbringen weniger Zeit damit, über den Grund ihres Ärgers nachzudenken." Woran das liegt? Wissenschaftler vermuten, es hänge mit Veränderungen im Gehirn zusammen. Es wird angenommen, dass mit dem Alter emotionale Situationen kognitiv anders bewertet werden. Bestimmte Neurotransmitter, Botenstoffe im Gehirn, nehmen in ihrer Anzahl im Laufe der Jahre ab. So beruhigt sich der Verkehr in unserem Kopf langsam - eine gewisse Altersmilde tritt ein.

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Doch manchmal sind es auch unsere Erfahrungen, die uns sanftmütiger werden lassen. So kann sich jederzeit die Bewertungsgrundlage dafür ändern, was wir als bejammernswert empfinden. Im Vergleich mit wirklichen Schicksalsschlägen - und die nehmen mit dem Alter zu - mag so manch andere Begebenheit profan erscheinen. "Ein Gesunder hat viele Probleme zu lösen, ein Kranker nur eins", bringt es Ramona Wonneberger vom AntiÄrger- Institut auf den Punkt.

Dann gibt es da noch eine weitere Unterscheidung auf der Jammer- Skala: nicht nur die in Alt und Jung - auch die in Männer und Frauen. Ramona Wonneberger jedenfalls hat über 1700 Männer und Frauen in einer Online-Umfrage zu ihrem Sich-ärgern-Verhalten befragt, und herausgefunden: Frauen haben einen höheren Ärger-Level. Und während Männer sich häufiger über den Straßenverkehr, über Kollegen, Kunden oder den Chef ärgern, regen sich Frauen mehr über zwischenmenschliche Beziehungen auf: über den Partner, die Familie, die Schwiegermutter, Freunde, Nachbarn.

Laut Psychologin Robin Kowalski sind Frauen in ihren Beschwerden expressiver und weniger zielgerichtet. Und sie sehen das Jammern häufig als ein "Sich-Anvertrauen". So schließt sich der Kreis: Das Jammern ist und bleibt ein sozialer Akt. Es schafft Gemeinsamkeiten. Bietet Gesprächsstoff. Verspricht Zuwendung. Und ist doch oft verdammt nervtötend. Vor allem aber: total sinnlos.

Wagen Sie doch mal folgendes Experiment: Denken Sie bei der nächsten Busverspätung darüber nach, was hinter Ihrem Jammern über eine solche Verspätung steckt. Laut Robin Kowalski drücken wir so unser Bedauern darüber aus, dass wir nicht die Kontrolle über die Lage haben. Wir drücken aus, dass wir sie gern wiedererlangen würden. Im Fall des Busses ist es ja aber unmöglich, die Kontrolle zu erlangen - wir wollen uns also Unmögliches herbeijammern! Wie blöd sind wir eigentlich?

Es lohnt sich, solche Gedanken zu Ende zu denken. Sie führen schnell zu dem Schluss, dass Jammern tatsächlich oft nicht mehr ist als akustische Verschmutzung. Und nun stelle man sich vor, alle Deutschen würden dieses Verschmutzen einfach mal sein lassen, nur für einen Tag. Was wäre es da still im Lande.

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Marco Rauland: Feuerwerk der Hormone (160 S., 19,80 Euro, Hirzel). Der Autor erklärt in einem Frage- Antwort-Spiel, warum wir überhaupt Emotionen wie Ärger empfinden

Stephan und Andreas Lebert: Der Ernst des Lebens und was man dagegen tun muss (176 S., 17,95 Euro, S. Fischer). Ein Buch über die Kunst, sich vom Leben nicht unterkriegen zu lassen

Will Bowen: Einwandfrei. A Complaint Free World (219 S., 16,95 Euro, Goldmann). Eine Bedienungsanleitung für ein jammerfreies Leben

Text: Marike Frick Illustrationen: Magda Karczewska Foto: Getty Images

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