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Wenn sich das Herz erinnert

Demut und Dankbarkeit - Begriffe, die mehr und mehr aus unserem aktiven Wortschatz verschwinden. Sie verändern ein Lebensgefühl. Aber warum sind sie weg?

Eigentlich hatte sie damit abgeschlossen: Kinder bekommen, mit über 40. Anja Hansen* hatte ihre Neffen. Das reicht, dachte sie. Für alles andere bin ich zu alt. Eigentlich auch für ihre ungeklärte Beziehung, ein ständiges, an ihren Nerven zerrendes Auf und Ab. Seit zwei Jahren kam er nachts vorbei. Tagsüber hatte er keine Zeit. Er war ein gut aussehender Mann, geschieden. Kinder wollte er nicht, mit ihr nicht und auch sonst nicht. Seinen Spaß schon.

Demut - klingt verstaubt

Eigentlich war das die Nacht, in der sie alles endlich beenden wollte. Und dann wurde sie schwanger. Ein Glück, ein spätes, das heute zehn Jahre alt ist, ein sanfter, aufgeweckter, kluger Junge, ihr Leben. Auch wenn es das Ende der Beziehung war, alles schwieriger wurde, das Gerede der anderen, der Familie, allein erziehen, um Geld kämpfen, auf den Ämtern, vor Gericht, sagt sie: "Ich glaube nicht an Zufälle. Das war das Wunder des Lebens. Es hat mich dankbarer gemacht und auch demütiger."

, ein altes Wort. Verstaubt klingt das, unmodern. Von "diomuoti" kommt es, aus dem Althochdeutschen: dienstwillig. Und wer will das schon sein? Heute, da doch ganz andere Eigenschaften zählen: sich durchsetzen, frei, flexibel, unabhängig bleiben, im Beruf und oft auch privat. Demut und Dankbarkeit, zwei Begriffe, die keinen guten Ruf haben. Viele verbinden damit Schwäche und Unterlegenheit.

Niemand belegt freiwillig einen Kurs in Not und Elend.

Ganz anders in Japan. Da würde niemand den Kopf schütteln, wenn sich eine junge Frau, weltoffen, erfolgreich, die gutes Geld verdient, vor ein paar alten Turnschuhen verbeugt, bevor sie sie in den Mülleimer wirft. Die Hände aneinanderlegt, ihnen dankt, weil sie treue Dienste geleistet haben. "Solche Achtsamkeit für einen alltäglichen Gegenstand gehört dort wesentlich zur überlieferten Kultur", schreibt Wilhelm Schmid-Bode. In seinem Buch "Maß und Zeit" fordert der Münchener Stressforscher und Arzt für psychosomatische Medizin, die Kraft der alten klösterlichen Werte neu zu entdecken, vergessene Tugenden wie Stille, Askese, Wachsamkeit, Demut.

Wer schon einmal verloren hat, ist demütig

Oft spüren wir nur in Ausnahmesituationen ein Gefühl von Demut und Dankbarkeit. Ahnen plötzlich wieder, wie fragil das Leben ist, das wir meist als so selbstverständlich hinnehmen. Das müssen wir auch tun, sonst könnten wir kaum weiterleben, Pläne schmieden, uns auf den nächsten Tag freuen, die nächste Reise, eine neue Aufgabe. "Niemand belegt freiwillig einen Kurs in Not und Elend", schreibt Robert A. Emmons in seinem Buch "Vom Glück, dankbar zu sein. Eine Anleitung für den Alltag". Doch je intensiver sich der amerikanische Psychologieprofessor mit der Dankbarkeit befasste, umso mehr wuchs seine Überzeugung: "Eine authentische, zutiefst empfundene Dankbarkeit dem Leben gegenüber erfordert ein gewisses Maß an Kontrast oder Entbehrung." Demütig und dankbar sein heißt also offensichtlich: einmal Angst um etwas Wichtiges gehabt haben zu müssen, etwas zu verlieren, einen Arbeitsplatz, eine Liebe, einen Menschen.



* Name von der Redaktion geändert

Oder plötzlich ganz für ein anderes Leben verantwortlich sein. Anja Hansen*, heute Anfang 50, hielt Freiheit immer für ihr wichtigstes Gut. Mit dem Kind wurde alles anders. Als es manchmal nicht auszuhalten war, die Sorge, wie es weitergehen soll, half nur ein Gebet. Allein, in der Kirche, einer der schönsten Psalmen der Bibel, leise in den großen Raum gesprochen: "Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt." Einige wenige Worte nur, aber machtvolle, tröstende.

Das Alltägliche nicht für selbstverständlich halten.

Blättert man in der modernen Literatur, taucht das Wort Demut kaum noch auf. Es scheint aus unserem aktiven Wortschatz verschwunden. Dabei würde es uns so viel besser gehen, wenn wir gelernt hätten, uns häufiger zurückzunehmen, auf andere mehr zu achten, das Alltägliche nicht für selbstverständlich zu halten. "Demut", schrieb Missionsarzt Albert Schweitzer, "ist die Fähigkeit, zu den kleinsten Dingen des Lebens empor zu sehen."

Je älter wir werden, desto leichter fällt uns das offenbar wieder. Vielleicht, weil uns die eigene Endlichkeit einholt, uns klarmacht, dass wir langsam Bilanz ziehen müssen: Wo stehen wir? Was wollen wir noch? Worauf können wir stolz sein und worauf getrost verzichten? Vielleicht wird uns bewusst, wie viel gelassener wir geworden sind.

Wir haben Trennungen überlebt, Krankheiten, Abschiede. Wir wissen, dass Gesundheit kostbar ist, nicht selbstverständlich, ein Geschenk. Dass uns Menschen begleiten, die unser Leben reicher machen. Oder haben eine ungeahnte Chance bekommen, ein Kind zu erziehen, ein Hobby zum Beruf zu machen, Erfahrungen weiterzugeben. Das kann demütig machen. Ab und an. Vielleicht liegt es auch daran, dass das Alter tatsächlich milder macht: Denn dass wir uns stärker an das Gute als an das Schlechte erinnern, nimmt glücklicherweise im Laufe des Lebens zu. Die Bereiche des Gehirns, die das Negative speichern, arbeiten dann weniger aktiv als die, die Gutes und Schönes festhalten. So gesehen, hatte der schottische Autor James Matthew Barrie, der Erfinder von "Peter Pan", recht: "Das Leben ist eine lange Lehre in Demut."

Das Lebensgefühl steigert die Lebenserwartung

Natürlich, wenn wir wählen könnten, wären wir schon gern viel früher demütig und dankbar: allein, weil diese Einstellungen unser Leben offenbar verlängern. In seiner berühmten Langlebigkeitsstudie an 678 Nonnen des Ordens Notre Dame fand der amerikanische Neurologe David Snowdon heraus: Je positiver die Gefühle waren, die in den frühen Lebensgeschichten der Schwestern zum Ausdruck kamen (Dankbarkeit, Hoffnung, Liebe), umso wahrscheinlicher war es, dass sie 60 Jahre später immer noch am Leben waren.

Auch auf dem noch jungen Gebiet der Neurokardiologie, die das Zusammenspiel von Herz und Gehirn untersucht, haben Stressforscher des kalifornischen Institute of HeartMath in Boulder Creek herausgefunden: Selbst wenn wir uns in einem wünschenswerten Zustand der Entspannung wie bei einer Meditation befinden, schlägt unser Herz nicht so ruhig und gleichmäßig wie bei einem Gefühl der Wertschätzung. Wenn wir also Fürsorge, Liebe, Mitleid oder Dankbarkeit empfinden, arbeitet unser Herz am effizientesten, und unsere Immunglobulin-A-Werte steigen an, unsere erste Abwehr gegen Viren. "Dankbarkeit", wusste schon der französische Mönch und Schriftsteller Jean Baptiste Massieu, "ist das Gedächtnis des Herzens."

Dankbarkeit zu spüren fällt aber nicht immer leicht. Mächtige Kräfte wirken ihr entgegen: entweder das Gefühl, minderwertig zu sein oder überlegen. Wir haben oft überzogene Erwartungen, an uns selbst und an andere. Doch Dankbarkeit wie auch Demut empfinden heißt, sich einzugestehen, dass wir abhängig sind von anderen, unser Leben lang. Es fängt mit Abhängigkeit an - und es hört damit auch wieder auf.

Das Herz für andere öffnen

Damit ist nun nicht gemeint, dass wir uns vollkommen aufgeben müssen. Im Gegenteil: Nur wenn wir wissen, was wir wollen und fühlen, können wir für andere offen sein. Demut bedeutet deshalb immer auch Hingabe, an eine Aufgabe, an andere Menschen.

Gemeint ist damit: Ich kann mein Herz für andere öffnen. Das ist nichts Intellektuelles, sondern ein Gefühl, das wir meist verlernt haben. Oft aus Angst, die Kontrolle zu verlieren. Wahre Demut macht aber nicht klein, sie hat nichts mit Unterwerfung oder Selbstdemütigung zu tun, sondern sie befreit: Ich darf sein, wie ich bin.

"Demut bedeutet vor allem Aufrichtigkeit, gegenüber mir selbst und anderen, mich nicht für unfehlbar, den Größten halten, sondern Irrtümer eingestehen, Vorschläge anderer akzeptieren, wenn sie mir richtig erscheinen", sagt Anna Hoffmann. Die 41-Jährige leitet in Potsdam das Coaching-Zentrum "Ausblick", berät Singles, Paare und Existenzgründer. "In Demut steckt nämlich auch das Wort Mut, Mut zur Veränderung, zur Offenheit, sich auf andere zu verlassen, neue Chancen zu ergreifen, neue Beziehungen zu knüpfen."

Demut hat nichts mit Selbstdemütigung zu tun. Sie macht nicht klein - sie befrei

Religiöse Menschen haben es oft einfacher, dankbar und demütig zu sein. Sie können Dinge delegieren, nach oben, nehmen sich selbst nicht so wichtig. Sie fühlen sich als Teil eines größeren Ganzen und beten, ein Ritual des täglichen Danks.

Und die anderen? Der vietnamesische Mönch Thích Nhât Hanh, nach dem Dalai Lama einer der am meisten verehrten Lehrer des Buddhismus in der westlichen Welt, hat für sie ein wunderschönes Gebet formuliert, das auch Nichtgläubige mitsprechen können: "Wenn ich an diesem Morgen aufwache, sehe ich den blauen Himmel. Ich falte meine Hände zum Dank für die vielen Wunder des Lebens; dafür, dass 24 funkelnagelneue Stunden vor mir liegen."

Jetzt könnte man meinen, Dankbarkeit sei eine der unfairen Gaben, die Menschen mit besonders sonnigem Gemüt, spiritueller Neigung oder großer Gelassenheit zuteil wird. Ein Gefühl, das bei manchen schon in den Genen liegt. Doch Professor Robert A. Emmons ist überzeugt, Dankbarkeit sei ein Prozess, etwas, das jeder trainieren könne.

Und weil er selbst kein besonders dankbarer Mensch ist, liegen überall in seinem Haus Dinge verstreut, die ihn und seine Frau daran erinnern sollen. Am Kühlschrank haftet ein Magnet mit einem Zitat der einstigen First Lady und Präsidentengattin Eleanor Roosevelt: "Gestern ist Geschichte, morgen ist ein Geheimnis . . . heute ist ein Geschenk." Eine der besten Metoden des Einübens sei ein Dankbarkeits-Tagebuch, sagt Emmons. Selbst wenn darin anfangs nur ein einziger Satz steht: "Heute ist nichts Schlimmes passiert."

Dankbare Menschen sind keine naiven Optimisten oder gleichgültige Zeitgenossen, die vergessen haben, dass es Schmerz und Leid gibt. Dankbarkeit ist häufig eher ein Trotzdem. Kein Gefühl jedenfalls, das uns nur überkommt, wenn uns jemand etwas Gutes tut, sondern eine dauerhafte Lebenseinstellung, die helfen kann, selbst widrigste Umstände zu ertragen.

"Denken ist Danken", hat der Philosoph Martin Heidegger gesagt. Dankbarkeit ist also mehr als eine reine Höflichkeit oder ein kurzes Glückseligkeitstraining. Es setzt ein Innehalten voraus, die Überprüfung des eigenen Lebens. Im Grunde ist es die reife Erkenntnis, dass wir schon alles haben, was wir brauchen - und in manchen Momenten sind das eben ein paar alte, gern getragene Schuhe. Wir müssen sie nur wahrnehmen, diese Momente.

Zum Weiterlesen: Wilhelm Schmid-Bode: "Maß und Zeit. Entdecken Sie die neue Kraft der klösterlichen Werte und Rituale" (251 S., 19,90 Euro, Campus Verlag, 2008) Robert A. Emmons: "Vom Glück, dankbar zu sein. Eine Anleitung für den Alltag" (235 S., 19,90 Euro, Campus Verlag, 2008)

Bilderstrecke: Verschwundene Worte

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Welche Worte und Begriffe sind aus unserer Sprache verschwunden? Online unter www.brigitte-woman.de/sprache

Text: Volka Keeve Credit: iStockphoto

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