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Der hohe Anspruch

Zwei junge Frauen auf Wiese Rücken an Rücken
© PhotoByToR / Shutterstock
Der besten Freundin können wir alles sagen. Nur nicht, was uns an ihr stört. Wie viel Kritik verträgt eine gute Frauenfreundschaft? Und was macht sie eigentlich aus?

"Natürlich ziehe ich auch deinetwegen nach Hamburg", hatte sie gesagt, und ich hatte das leichte Unbehagen, das ihre Worte bei mir auslösten, sofort verdrängt und "Das ist schön, ich freu mich" gesagt. Ich kannte Marion seit meiner Ausbildung, wir hatten zusammen gewohnt und gekifft und nächtelang über das Leben und die Männer philosophiert. Über Männer, die ich in jenen wilden Jahren genoss und wechselte, während sie von einem Liebesloch ins nächste fiel. "Du klammerst zu viel", war mein ständiges Mantra, das sie stets mit dem Satz "Ich bin halt intensiv" wegwischte. Nachdem sie in München ihren "absoluten Traumkerl" geheiratet hatte, telefonierten und mailten wir, einmal pro Jahr besuchte ich sie auf dem Weg in den Ski-Urlaub. Eine entspannte Frauenfreundschaft, so dachte ich.

Doch dann zog sie in meine Stadt. In meine Nachbarschaft. "Kann ich bei dir eine Suppe essen?", fragte sie am Umzugstag, und als ich bedauernd ablehnen musste, weil ein Handwerkergeschwader unsere Küche gerade in alle Einzelteile zerlegte, reagierte sie gekränkt. Danach kamen ihre Anrufe im Stundentakt, immer ein Notfall. Kannst du mir deinen Staubsauger ausleihen? Habt ihr einen Bohrer? Kann dein Mann mal vorbeikommen und meine Regale anbringen? Als ihre Wohnung fertig war, lud sie zur Housewarming-Party ein und bat mich, "nette, interessante" Freunde mitzubringen, weil sie ja selbst noch keine hatte.

Frauenfreundschaft kann beklemmend eng werden

Mein Unbehagen wuchs, der Kontakt wurde mir zu übergriffig, zu anstrengend. Das, was sich früher warm und herzlich angefühlt hatte, wurde langsam zur emotionalen Zwangsjacke. Ihr Kontaktbedürfnis war unersättlich und schnürte mir die Luft ab. Vorsichtige Versuche meinerseits - "Du, ich fühle mich manchmal ein bisschen überfordert" -, bügelte sie sofort mit einem "Ich weiß, dass ich viel von dir erwarte, aber ich finde, unsere Freundschaft ist so gut, die kann das aushalten" weg. Ich verstummte, weil ich hin und herschwankte zwischen kaum noch zu unterdrückender Gereiztheit und Verständnis (Scheidung, neue Stadt, Einsamkeit), Verpflichtung (alte Freundschaft).

Und ich hatte Angst. Angst vor dem klaren Satz: "Du überforderst mich, ich kann und will deine Ansprüche nicht länger erfüllen. Ich brauche Abstand." Angst vor ihren Tränen, vor ihrer Enttäuschung. Deshalb wählte ich den feigen Weg und ließ die Beziehung auströpfeln, ließ mich am Telefon verleugnen, einmal wechselte ich sogar die Straßenseite, als ich sie erkannte. "Mit mir zoffst du dich doch auch ohne Ende", sagte mein Mann, der die Situation einfach lächerlich fand. "Warum sagst du ihr nicht ganz einfach, was dich stört?" Ja, warum eigentlich nicht?

Wir alle singen das Hohelied der Frauenfreundschaft. Wir alle brauchen Freundinnen wie die Luft zum Atmen, brauchen sie als Seelentrost, als Puffer gegen den Rest der Welt, als festes Netz, das uns durchs Leben trägt.

Im Gegensatz zu Männern, die uns betrügen, verlassen, uns das Herz brechen (Ausnahmen bestätigen die Regel), können wir uns auf Frauen bedingungslos verlassen. "Männer kommen und gehen, Freundinnen aber bleiben bestehen", nach diesem Glaubenssatz leben wir. Mit Frauen können wir oft besser lachen, fühlen uns vertrauter, sind uns näher. Wir haben einen so hohen Anspruch an unsere Frauenbeziehungen, dass wir Zweifel und Ängste, Aggressionen und Enttäuschungen nicht zulassen wollen. Schleppen deshalb oft auch Freundschaften durch die Jahrzehnte, die uns nicht mehr guttun, uns bremsen, überfordern, anstrengen und deprimieren.

Warum tun wir das? Warum fällt es uns nicht schwer, im Beruf und in der Liebe ein deutliches "Nein, ich will nicht, das gefällt mir nicht!" zu sagen, und gegenüber Freundinnen verstummen wir?

Der weibliche Wunsch nach Harmonie und Verschmelzung liegt an der Prägung durch die Mutterbeziehung, sagen Psychologen. Oder wie es der Hamburger Therapeut Oskar Holzberg ausdrückt: "Mami kaut den Brei vor. Mami verliert beim Mikado, wärmt unsere Füße, stellt eigene Bedürfnisse klaglos zurück, lebenslang." - "Mama ist der sichere Boden", stimmt seine Kollegin Heide Gehrts zu, "und genau das wünschen sich Frauen später von ihren Freundinnen. Es soll alles wie bei Mama sein. Jederzeit ein Ohr, immer ein warmer Tee - was möglich, aber keineswegs selbstverständlich ist."

Wir erwarten von der Frauenfreundschaft, was wir uns in Liebe und Beruf längst abgeschminkt haben: permanente Einigkeit und Harmonie, von keinem Dissonanzwölkchen getrübt. Du bist ganz für mich da. Wenn du da bist, ist alles gut. Du weißt immer, was ich brauche. Du verstehst mich.

Konkurrzenz? Auseinandersetzung? Das mögen Frauen gar nicht

Diese Sehnsucht nach der totalen Verschmelzung, der Anspruch "Ich will alles erfüllen, was du willst, wenn du es auch tust", führt uns oft in das, was Heide Gehrts den "emotionalen Schmodder aus Vereinnahmung und Überfrachtung" nennt. Denn hier geht es um ein Bedürfnis, das unmöglich und ungesund ist. Zusammen auf dem Sofa Kuschelrock zu hören und Kakao mit Sahnehäubchen zu schlürfen ist einfach, schwieriger ist es, sich an Fragen heranzutrauen, die an die Substanz der Beziehung gehen: Was stört mich an ihr? Wo mag ich sie nicht? Warum enttäuscht sie mich? Oder noch schwieriger: Ist sie klüger als ich? Erfolgreicher? Ist sie attraktiver, kommt sie bei Männern besser an? Fragen, an denen Freundschaften zerbrechen können. Weil Frauen den Gleichklang lieben und den Wettbewerb schlecht aushalten.

Die sehr vertraute Beziehung, die meine Freundin Iris zu ihrer Kollegin Sophie hatte, mit der sie ein Redaktionszimmer und den gemeinsamen Ehefrust teilte, hörte schlagartig auf, als Sophie Ressortleiterin und damit Vorgesetzte wurde. "Es ging nicht, wir waren nicht mehr gleich, die Basis war weg", begründet Iris ihren Wunsch nach Versetzung. "Dieser Wunsch nach absoluter Deckungsgleichheit unter Frauen ist unlebendig", sagt Heide Gehrts, "weil dadurch Konflikte unterdrückt statt bereinigt werden."

Aus der Wohligkeit einer Frauenfreundschaft aufzutauchen, die erprobte Beziehung auch nur ansatzweise anzukratzen, fällt uns auch deshalb schwer, weil wir - im Gegensatz zu Männern - generell ein verkrampftes Verhältnis zu Konkurrenz und Auseinandersetzungen haben. Männer sind von Natur aus mit dem Wettbewerbs-Gen programmiert: Wer ist der Größte, der Stärkste, der Schlaueste? Das wird mit Worten oder mit Fäusten geklärt, aber nicht mit Tränen und Beleidigtsein. "Klare Worte oder im Zweifel eins aufs Maul, wo ist da das Problem?", sagte ein Mann aus meinem Fitnessstudio, den ich zu diesem Thema befragt habe.

Konflikte, Konkurrenz, Kritik - wir tun uns schwer mit den K-Worten. Selbst eine harmlose Kritik fällt uns nicht leicht. Während wir unseren Männern problemlos ein "In diesem Hemd siehst du wie eine Leberwurst aus" entgegenschleudern, antworten wir unserer besten Freundin feige mit "Mensch, mal was ganz anderes", wenn ihre neue Frisur einem geplatzten Staubsaugerbeutel ähnelt. In Beruf und Ehe mögen wir offen und meinungsstark sein, bei unseren Freundinnen sind wir wie Mimosen, ertragen nicht den allerkleinsten Riss, den allersanftesten Streit, selbst eine homöopathische Dosis Kritik kann bereits ein potenzieller Freundschaftskiller sein. "Kürzlich hat meine beste Freundin nicht wie sonst über meine fiesen Männerwitze gelacht", erzählt eine Kollegin, "sondern nur ganz ruhig ,Ich find die langsam nicht mehr komisch', gesagt. Ich war völlig fertig. Passen wir überhaupt noch zusammen?"

Da sich diffuse, übertriebene Verlassensängste schon beim kleinsten Hauch von Dissonanz einstellen, verfallen wir bei größeren Schwierigkeiten in eine emotionale Schockstarre. Reagieren viel zu lange gar nicht, und wenn, dann unangemessen heftig und verletzend. Schon seit Längerem hatte mich an einer guten alten Freundin genervt, dass sie immer mehr zur "Gattin" mutierte, deren Leben nur noch um eheliche Golf- und Wellnesswochenenden zu rotieren schien. Vielleicht war auch eine Prise Neid dabei, dass sie so wohl versorgt ihr Leben genoss, während mein Alltag sehr viel unsicherer und anstrengender war. Doch da wir eine über 20-jährige Geschichte hatten, fraß ich meinen Ärger in mich hinein.

Und als sie mich dann mitten in einer Auseinandersetzung mit meiner Tochter anrief: "Nur ganz kurz, gleich ist mein Akku leer, wir sind gerade in Neapel, unser Schiff wartet schon", da knallte ich einfach den Hörer auf. Ging nicht mehr ans Telefon, weil ich nicht wusste, wie ich meine kindische Reaktion erklären sollte. Wenn sie nach ihrer Rückkehr nicht auf einem Gespräch bestanden hätte, wäre dies vermutlich das Ende unserer langen Freundschaft gewesen. "Frauen neigen dazu, bei Krisen lieber Schluss zu machen", sagt Heide Gehrts, "weil die Vorstellung, dass auch die innigste Freundschaft kein Dauerschaumbad sein kann, sondern ab und zu eine kalte Dusche ist, für viele nicht auszuhalten ist."

Statt Sachthemen gibt's einen ständigen Austausch über Befindlichkeiten

Weil Frauen sich über Beziehungen definieren, während Männer dies über Sachthemen tun, sind ihre Freundschaften fragiler und störungsanfälliger. Der ständige Austausch von seelischen Befindlichkeiten, für Frauen selbstverständlich, ist für Männer kein Thema. Es gibt Frauenfreundschaften, in denen überwiegend über Probleme gesprochen wird, mein Kind ist schlecht in der Schule, mein Mann ist schlecht im Bett, das ganze Leben ist schlecht. Das geht so lange gut, wie es beiden schlecht geht. Ist das Freundschaft oder emotionaler Schmodder?

"Ein Kardinalfehler ist die Zwillingsfantasie: Du bist wie ich", sagt Oskar Holzberg. "Wir müssen Grenzen anerkennen, Erwartungen überprüfen, einen autarken Bereich für uns entwickeln."

Doch den richtigen "autarken" Ton zu finden fällt uns nicht nur schwer, wenn es zum Beispiel darum geht, einer guten Freundin zu sagen, dass es uns tierisch nervt, wenn sie uns mit den Worten "Wer zu früh kommt, den bestraft das Leben" immer warten lässt. Oder bei Partys immer die Unterhaltung dominiert und niemanden zu Worte kommen lässt. Oder uns geliehenes Geld erst angemahnt zurückgibt.

Fast unmöglich ist für uns ein klärendes Gespräch, wenn es um Grundsatzfragen geht. Passen wir noch zusammen, oder haben wir uns auseinanderentwickelt? Ist unsere Beziehung noch ausgewogen, oder gibt die eine mehr als die andere? Lassen wir alles schleifen, oder bemühen wir uns um Verbesserung? "Was bedeutet dir eigentlich unsere Freundschaft?", fragte mich kürzlich eine Freundin, von der ich mich nach einem Streit erst einmal zurückgezogen hatte. Ihre Frage traf mich tief und unangenehm. Meine Freundin lachte: "Da musst du jetzt durch, du hast schließlich angefangen", sagte sie - und in einem langen Gespräch klärten sich die Fronten wieder. Sie hatte es gewagt, mir die Vertrauensfrage zu stellen, hatte auf einer Bestandsaufnahme bestanden, und das hat unserer Freundschaft sehr gut getan. Es lohnt sich eben, gerade für die Gewohnheitstierchen unter uns, sich dem kalten Wind der Veränderung auszusetzen und uns nicht frustriert zu verkrümeln.

Eine funktionierende Frauenfreundschaft heißt Neugier aufs Anderssein

"Schön wäre: Neugier aufs Anderssein! Dissonanzen ertragen! Offenheit wagen!", wünscht sich Psychologin Heide Gehrts von uns Frauen. Es ist ja ein großer Irrtum zu glauben, dass Beziehungen geschont werden, wenn man alle Gefühle in sie hineinlegt. Gerade sehr engen Frauenfreundschaften täte es gut, wenn man Licht, Luft und etwas Distanz an sie heranlässt. Wenn man nicht jeden Tag zweimal anruft, nicht auf jedes Seufzen und Husten reagiert. "In der Liebe ist Raum lassen wichtig, in der Freundschaft auch", meint Oskar Holzberg, "deshalb sollten sich Frauen ausnahmsweise ein Beispiel an Männern, oder besser gesagt: an Männerfreundschaften nehmen. Zusammen Sport machen, Gartenarbeit, Renovieren, alles ist doch besser als diese ständige Nabelschau."

Text: Evelyn Holst

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