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Die eine klagt, die andere ist die Klagemauer

In einer Freundschaft zwischen Frauen entstehen manchmal ungleiche Verhältnisse. Wie es dazu kommt, erklärt Diplom-Psychologin Claudia Clasen-Holzberg.

BRIGITTE WOMAN: Werden wir als Starke oder Schwache geboren?

Claudia Clasen-Holzberg: Eine komplexe Rolle, die wir im Leben einnehmen, ist nicht angeboren wie etwa das Temperament. Da spielen frühkindliche Erfahrungen mit. Die Starke ist oft schon früh auf sich gestellt, kennt wenig Fürsorge, kümmert sich selbst um ihre Bedürfnisse, weil sie erkennt, dass es sonst niemand tut.

BRIGITTE WOMAN: Also Stärke aus einer schwachen Ausgangsbasis heraus?

Claudia Clasen-Holzberg: Ja, für ihre Tüchtigkeit wird die Starke oft auch mit Erfolg belohnt und wird dadurch immer stärker. Allerdings ist das nicht so wunderbar, wie es aussieht. Sie erlebt ja als kleines Kind eine tiefe Verletzung: Sie ist nicht wichtig, wird nicht ausreichend gespiegelt, hat wenig Möglichkeit, Bestätigung zu bekommen. Deswegen tut sie später alles, um anerkannt und bewundert zu sein.

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BRIGITTE WOMAN: Das klingt eher wie ein Hilfeschrei. Wer ist denn nun wirklich stark?

Claudia Clasen-Holzberg: Eine wirklich starke Frau kann Sorgen eingestehen, muss Schwächen nicht verleugnen, hat den Mut, ihre Bedürftigkeit auch mal zu zeigen.

BRIGITTE WOMAN: Heimlich scheint die Schwache aber ganz schön stark zu sein, in ihrem Wunsch, Hilfe zu finden.

Claudia Clasen-Holzberg: Das ist sie. In gewisser Weise übt sie Kontrolle aus mit ihrem Appell an die Hilfsbereitschaft der anderen. Sie hatte wahrscheinlich eine Mutter, die die Versuche ihres Kindes, sich auszuprobieren, sich dabei von der Mutter zu entfernen, nicht gut zulassen konnte. Die Schwache bleibt in großer Abhängigkeit von der Fürsorge und der Kontrolle der Mutter - dieses Muster taucht in späteren Beziehungen immer wieder auf.

BRIGITTE WOMAN: Unter Freundinnen ist es oft so: Eine klagt mehr, die andere ist die Klagemauer. Wie kommt es zu diesem Ungleichgewicht?

Claudia Clasen-Holzberg: Diese beiden haben unterschiedliche Verarbeitungsstrategien für Kränkung und Enttäuschung. Die eine ist eher in der Lage, Probleme selbst zu verarbeiten, sie hat eine gute Selbstregulation. Aber auch Angst, sich anderen anzuvertrauen, sich als schwach zu offenbaren. Mehr Offenheit könnte ihr manchmal guttun, da sie sonst ständig überfordert ist, und das kann zum Burnout und anderen Krankheiten führen. Die ewig Klagende braucht jemand, der ihre Gefühle versteht, damit sie mit ihnen klarkommt. Sie sucht Bestätigung ihrer eigenen Gefühle, Unterstützung und Trost. Sie hat wenig Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Hilfe suchen ist ja ein sinnvolles Verhalten, zu viel davon kann aber in Abhängigkeit, Unselbständigkeit und ewige Wiederholung münden.

BRIGITTE WOMAN: Kann das gutgehen, wenn die eine Freundin mehr gibt, die andere mehr nimmt?

Claudia Clasen-Holzberg: Ja, weil jede etwas davon hat. Die Starke darf sich überlegen fühlen und die Schwache darf sich anlehnen. Jede delegiert dabei etwas von den eigenen Wünschen an den anderen.

BRIGITTE WOMAN: Wie kommen eine Starke und eine Schwache überhaupt zusammen?

Claudia Clasen-Holzberg: Die eine wittert die Bereitschaft beziehungsweise die Bedürftigkeit der anderen. Sie geben sich gegenseitig, was sie aus der Kindheit kennen. Das hat anfangs eine große Attraktion.

BRIGITTE WOMAN: Hält eine Freundschaft solche Unterschiede auf Dauer aus?

Claudia Clasen-Holzberg: Mit der Zeit können unterschwellig Aggression und Frust wachsen, weil wesentliche, aber uneingestandene Bedürfnisse für beide unerfüllt bleiben. Die Starke wünscht sich auch Verständnis und Unterstützung, die Schwache sehnt sich in Wahrheit nach Selbstbehauptung und Unabhängigkeit.

BRIGITTE WOMAN: Die Starke leidet sicher zuerst, weil sie sich von der Schwachen ausgenutzt fühlt.

Claudia Clasen-Holzberg: Darum muss sie lernen, Nein zu sagen, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen. Solange sie aber Ja sagt zu den Ansprüchen der Schwachen, sollte sie zu diesem Ja stehen, dann fühlt sie sich auch nicht ausgenutzt.

BRIGITTE WOMAN: Ist es möglich, die eingespielten Rollen irgendwann zu verlassen?

Claudia Clasen-Holzberg: Ja, aber das braucht den Mut, Konflikte auszuhalten. Freundschaften entwickeln sich. Es kann passieren, dass eine von der anderen lernt. Das ist ja auch ein Sinn von Freundschaft. Wenn das geschieht, entsteht erst wirkliche Nähe, und die Freundschaft wächst.

BRIGITTE WOMAN: Und wer nimmt die Starke in den Arm, wenn sie sich doch einmal richtig schwach fühlt?

Claudia Clasen-Holzberg: Am besten eine Freundin, die sie mag und anerkennt - unabhängig davon, ob sie gerade ein Häufchen Elend ist oder die strahlende Siegerin.

Interview: Vera Sandberg Foto: iStockphoto

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